
The Boss ist der Titel eines Ratgebers für Führungskräfte, den Peter Aschenbrenner, ein Experte für Strategie, Management und Vertrieb, veröffentlicht hat. Der Untertitel des Buches macht sofort deutlich, dass mit dem „Boss“ nicht irgendein Firmenchef gemeint ist sondern einer der erfolgreichsten Rockmusiker aller Zeiten, der unter seinem Spitznamen – eben „The Boss“ – weithin bekannt wurde: Von Bruce Springsteen Führungsstärke lernen.
Für den leidenschaftlichen Springsteen-Fan Aschenbrenner ist der „Boss“ ein ganz besonderes Vorbild für Führungsstärke. Der Verleger Wiley-VCH nennt das Buch einen „Leitfaden für Führungskräfte und alle, die es werden wollen oder sollen“. Und damit ist das Zielpublikum des Titels ziemlich genau abgesteckt. Wir werden sehen, ob es tatsächlich bei dieser Zielgruppe des Fachbuches bleiben muss.
Der Autor Dr. Peter Aschenbrenner ist seit vierzehn Jahren im Beratungsgeschäft tätig. Die Fachzeitschrift managerSeminare führte ihn zuletzt 2018 und 2019 unter den bestgebuchten Agenturen. Aschenbrenner selbst nennt sich „Augenöffner“ und „Klarheits-Experte“. Er beschreibt sich als Ratgeber, Aufdecker und Begleiter. Wer sich für das berufliche Angebot des Autors interessiert, findet sicher das eine oder andere interessante Detail auf seiner Internetseite. — Seit 1988 hat Aschenbrenner bisher insgesamt über 140 Springsteen-Konzerte besucht, in fünfzehn verschiedenen Ländern und 38 Städten. Man darf ihn also getrost als Bruce-Springsteen-Experten bezeichnen.
Zum Inhalt des Titels
Auf knapp 200 Seiten behandelt der Autor Führungsthemen, die vermutlich in vielen Managementratgebern auf der Inhaltsliste stehen. Davon gehe ich zumindest aus, auch wenn ich nicht wirklich viele solcher Titel gelesen habe:
Führungsphilosophie, Fähigkeiten von Führungskräften, ihre Persönlichkeit, Haltung, Wissen und Rolle. Das sind zunächst einmal thematisch naheliegende Schlagwörter, die einen nicht unbedingt besonders neugierig auf das vorliegende Buch machen. Es geht in der Abhandlung um Talente von Menschen, um ihre Antreiber und ihre Motivation. Aschenbrenner schreibt über antiquierte und moderne Führungshaltung, über Persönlichkeitsberatung, Selbstmanagement und Menschenkenntnis. Er behandelt Themen wie Kontrolle, Vertrauen und Ego.
So weit, so gut. — Ausgesprochen überraschend dürften diese Ansätze für niemanden sein, der sich mit Ansprüchen an Führungskräfte auseinandersetzt. Deshalb verzichte ich darauf, strukturelle Einzelheiten des Buches zu vertiefen. Da möge sich ein jeder selbst durcharbeiten. Für mich viel wichtiger sind Besonderheiten, die The Boss von der Masse thematisch vergleichbarer Ratgeber abhebt.
Vom Wollen, Können und Dürfen
Immer wieder und in unterschiedlichen Zusammenhängen greift der Autor auf eine seiner Lieblingsabfragen zurück: Will der Betreffende – also die Führungskraft, oder auch dessen Mit- oder Zuarbeiter – seine Aufgaben tatsächlich übernehmen? Was sich womöglich trivial anhört, ist tatsächlich essentiell. Viele frisch gebackene Führungskräfte haben offenbar gar keinen Antrieb, neue und gänzlich andere Aufgaben zu übernehmen und auszufüllen, wenn sie aus ihren Fachthemen in eine Führungsrolle wechseln. Viel lieber beschäftigen sie sich weiterhin mit ihrem Fachgebiet. Die Managementaufgabe haben sie womöglich nur übernommen, weil sie besser bezahlt ist und weil man diesen Entwicklungsschritt von ihnen erwartet.
Doch abgesehen vom Wollen: Kann der Kandidat seine neuen Aufgaben überhaupt erfüllen? Hat er das nötige Handwerkszeug, die Qualifikationen und die unverzichtbare Schulung dazu erhalten? Und darf er auch alles tun, was nötig ist? Oder fehlen seiner Rollenausstattung womöglich notwendige Kompetenzen und Entscheidungsrechte?
Fehlbesetzung
Schnell wird klar, dass eine von Aschenbrenners zentralen Überlegungen in einer ziemlich heftigen These besteht: Ein erklecklicher Anteil von Führungskräften in vielen Unternehmen ist in der Managementrolle fehl am Platz. Weil sie nicht richtig darauf vorbereitet wurden; und weil ihnen das unabdingbare Wollen, Können oder Dürfen abgeht. (Diese Einschätzung des Autors deckt sich ja durchaus mit der Erkenntnis des Peter-Prinzips: In jeder Hierarchie werden Beschäftigte so lange befördert, bis sie auf einem Posten landen, für den sie inkompetent sind.)
Aus dieser Zwickmühle finden sie dann nur wieder heraus, wenn es entweder zum Eklat kommt, oder wenn sie schonungslos ehrlich zu sich selbst und zu ihren Vorgesetzten sind, auf die Führungsaufgabe verzichten oder sich radikal ändern und weiter entwickeln: „Wer glaubt, dass er als Persönlichkeit bereits fertig ist und keine psychische Entwicklung benötigt, der hat vieles noch nicht verstanden und ist vermutlich nicht reif für eine Führungsposition.“ (Seite 164)
„Ich widerspreche hier vielen meiner Berater- und Trainerkollegen, die ständig behaupten, dass jeder eine gute Führungskraft werden kann. Wenn dem so wäre, wieso gibt es dann so viele schlechte Führungskräfte in den Unternehmen. Wenn jeder immer alles werden kann bis hin zum erfolgreichsten Speaker, der pro Vortrag 10.000 Euro Gage bekommt, wieso werden dann so wenige wirklich erfolgreich? Wieso gibt es nicht mehr Bruce Springsteens dieser Welt? Mehr Obamas?“
(Seite 27)
Bruce Springsteen und die E Street Band
Eine Führungsberatung in einer reinen Aneinanderreihung thematischer Formulierungen wird vermutlich für jeden Leser irgendwann ein bisschen zäh. So ging es zumindest mir bei den Titeln, an denen ich mich bislang versucht hatte. Aber das weiß wohl auch Peter Aschenbrenner und belebt seinen Text mit Hilfe einiger schlauer Kniffe.
Die wichtigste Zutat besteht – wie man sich angesichts des Untertitels leicht denken kann – in Ergänzungen und Beispielen zu Führungsthemen aus dem Privatleben und beruflichen Umfeld von Bruce Springsteen. Der Autor hat im Detail und weitreichend recherchiert. Er bereichert seine Ergebnisse zusätzlich mit persönlichen Erlebnissen im Zusammenhang mit dem Musiker und dessen Band.
Ich muss gestehen, dass mich die illustrierenden Springsteen-Anteile in der ersten Hälfte des Buches ein bisschen enttäuscht haben. Dort sind eher allgemeine Informationen zu lesen, die man sich auch ohne das Spezialwissen Aschenbrenners aus öffentlichen Quellen aneignen und zusammenreimen kann. Mit zunehmender Kapitelzahl und insbesondere in der zweiten Hälfte kommen jedoch gerade die persönlichen Erlebnisse und Erkenntnisse häufiger und besser zum Tragen.
Deshalb habe ich das Buch mit zunehmender Seitenzahl auch mit immer mehr Freude gelesen. Das ist insofern bemerkenswert, weil meine früheren Erfahrungen mit Managementliteratur genau umgekehrt gelagert waren: Irgendwann habe ich bei anderen Büchern jedesmal im Laufe des Lesens die Lust verloren. Bei The Boss ist dies erfreulicherweise nicht der Fall; im Gegenteil.
Summa summarum bekommt der Leser durchaus einen sehr interessanten Eindruck davon, wie es Bruce Springsteen gelingt, sein Unternehmen E Street Band zu führen, zu delegieren und dabei die Stärken der Team-Mitglieder zielführend und gewinnbringend zu nutzen. Und dank der Beispiele steigt auch die Lesbarkeit des Ratgebers.
Fragen über Fragen
Ein zweiter Kniff ergibt sich aus dem persönlichen Formulierungsstil Aschenbrenners. Wer den Autor kennt, kann es sich bestimmt denken: Sein Text ist keine Doktrin. Er stellt keine Thesen in den Raum, die im Anschluss langatmig ausgeführt werden. Vielmehr nimmt er gern die Haltung des Fragestellers ein. Statt etwas zu behaupten, stellt er dem Leser lieber Fragen.
Häufig sind dies rhethorische Fragen, die man gar nicht anders beantworten kann, als Aschenbrenner dies beabsichtigt. Aber er stellt auch immer wieder offene Fragen, die man als Führungskraft beantworten soll. Und schließlich beendet er jeden Abschnitt mit einem Katalog von Fragen im Stil eines Was-habe-ich-gelernt-Kataloges. Diese abschließenden Fragen haben es übrigens durchaus in sich, sind nicht selten unbequem. Und die jeweils letzte Frage in all diesen Katalogen lautet stets: Was haben Sie von Springsteen gelernt?
Gegen Ende der Publikation legt der Autor schließlich auch folgerichtig und gerade heraus seinen Lesern die von ihm selbst so gern praktizierte Managementtechnik des Hinterfragens ans Herz:
„Wer fragt, der führt. Diesen alten Spruch haben Sie sicher schon oft gehört. Interessanterweise setzen ihn viele Führungskräfte nicht um.“
(Seite 174)
Impulsvortrag?
Von der Fragetechnik Peter Aschenbrenners können sich also sicher viele von uns eine dicke Scheibe abschneiden. Und auch der letzte technische Kunstgriff, den ich hier erwähnen möchte, könnte dem einen oder anderen Fachbuchautor nützlich sein. Beim Lesen des Textes habe ich mich immer wieder an den Aufbau eines Impulsreferates erinnert gefühlt.
Der Autor arbeitet kontroverse Themen und Standpunkte heraus. Auf dieser Basis regt er seine Leser dazu an, sich aufgrund der aufgezeigten Fakten eigene Gedanken zu machen, statt in die Tiefen der reinen Lehre einzutauchen und nicht wieder an die Oberfläche empor zu kommen. Ab und an verweist er auf Fachthemen und -begriffe, die er nicht detailliert sondern auf andere Quellen verweist. Und er bedient sich eines erfreulich unprätentiösen, knackigen Sprachstils, der in Sach- und Fachbüchern selten Verwendung findet und beim Lesen immer wieder mehr an einen mündlichen Vortrag als an einen Aufsatz erinnert.
Das macht das Lesen leicht und erhöht den Spaß an der Sache. Und es kitzelt die Neugier des Lesers darauf, was noch alles hinter den Impulsen stecken könnte. Genau dies dürfte wiederum im Interesse des Autors und Beraters liegen.
Das Lektorat?
Nachdem ich nun viel Lob ausgesprochen habe, muss ich auch einen Kritikpunkt äußern. Denn das Lektorat des Textes ist zu nachlässig ausgefallen für meinen Geschmack. Es haben sich so einige Tipp- und Grammatikfehler eingeschlichen, die ein guter Lektor nicht übersehen hätte dürfen.
Zwar tröste ich mich mit dem Gedanken, dass das Werk ja keine wissenschaftliche Abhandlung darstellt. Der eine oder andere Ausrutscher passt vielleicht sogar ganz gut zum referatartigen Stil des Buches. Denn im gesprochenen Wort sind kleine Entgleisungen ja durchaus normal und verleihen einem Text eine persönliche, sogar sympathische Note. So ging es mir jedenfalls mit The Boss.
Allerdings könnte man bei einer allfälligen Zweitauflage womöglich doch noch einmal mit dem Rotstift durch das Geschriebene gehen.
Fazit:
The Boss bekommt von mir eine ganz klare Leseempfehlung für Angestellte oder Bewerber, die eine Führungsrolle übernehmen wollen oder dies sollen. Für solche Leser bietet das Buch einen ungewöhnlich offenen, womöglich sogar unerbittlichen Prüfprozess zu Voraussetzungen und Perspektiven. Vermutlich wären auch langjährige Management-Dinosaurier ganz gut beraten, sich einmal mit Peter Aschenbrenners Titel zu befassen. Allerdings drängt sich bei solchen Kandidaten die Frage auf, ob sie mit der notwendigen Offenheit an die Lektüre heran gehen würden. Daran habe ich meine Zweifel.
Wer sich eher weniger mit dem Thema Führung befasst, sich aber für Bruce Springsteen interessiert, der mag wohl wenig vom fachlichen Teil des Buches profitieren. Allerdings dürfte sogar der reine Springsteen-Fan interessante Ansätze und Perspektiven finden, die er anderswo vergeblich suchen würde.
Aus Sicht der Management-Zielgruppen des Titels würde ich The Boss zweifellos und ohne mit der Wimper zu zucken vier von fünf Sternen zugestehen. Weil ich in meinen Bewertungskriterien aber auch ein paar formale Prüfpunkte zu berücksichtigen habe, bekommt das Buch letztlich eben immer noch sehr gute, ganz dicke drei Sterne von mir. – Hat mir wirklich gut gefallen.
Peter Aschenbrenner, The Boss
Wiley-VCH Verlag, 2020
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