Achtsamkeit und kriminelles Verhalten, wie passt das zusammen? In seinem Roman Achtsam morden schreibt Karsten Dusse über einen, dem der Spagat zu gelingen scheint. – Im Hier und Jetzt zu sein, den Moment zu achten, ohne ihn zu bewerten, das versteht man unter Achtsamkeit. Das Konzept stammt aus dem Buddhismus und hat sich in letzter Zeit auch in der westlichen Welt zu einem Pfeiler selbstbestimmter Lebensführung entwickelt. Achtsam morden stand Anfang Juni 2020 auf Platz eins der Spiegel Bestsellerliste in der Kategorie Belletristik Taschenbuch. Auch Dusses Nachfolgeroman Das Kind in mir will achtsam morden rückte auf Bestsellerränge vor. Der Autor ist Rechtsanwalt und schreibt in seinen Romanen über einen Berufskollegen, der das Konzept der Achtsamkeit für sich entdeckt hat und mit dessen Hilfe sogar Kapitalverbrechen ganz im Einklang mit seinem persönlichen Wohlbefinden begeht und vertuscht.
Über den Inhalt
Wenn man nicht zu viel über die Handlung verraten will, bleibt einem nicht viel mehr übrig, als sich an den Klappentext des Buches zu halten. Denn der verrät ohnehin schon eine ganze Menge:
„Björn Diemel wird von seiner Frau gezwungen, ein Achtsamkeits-Seminar zu besuchen, um seine Work-Life-Balance wiederherzustellen. Denn Björn ist ein erfolgreicher Anwalt und hat dementsprechend sehr wenig Zeit für seine Familie. Der Kurs trägt tatsächlich Früchte, und Björn kann das Gelernte sogar in seinen Job integrieren – allerdings nicht ganz auf die erwartete Weise. Denn als sein Mandant, ein brutaler Großkrimineller, ihm ernstliche Probleme bereitet, bringt er ihn einfach um – nach allen Regeln der Achtsamkeit …“
Diese Kurzbeschreibung trifft den Romaneinstieg recht gut. Zumindest wenn man davon absieht, dass das „Seminar“ vielmehr ein Einzelcoaching beim (erfundenen) Achtsamkeitsguru Joschka Breitner ist. Über die Figur dieses Coaches wird hier noch zu sprechen sein.
Mit Ende des Klappentextes, also nach dem Tod des albanischen Mafiabosses Dragan Sergowicz, sind wir erst auf Seite 110 von 415 angelangt. Es ist klar, dass die eigentlichen Schwierigkeiten damit erst beginnen. Aber es wäre doch gelacht, wenn diese nicht auch mit der notwendigen Achtsamkeit zu meistern wären. Mehr wird hier nicht verraten.
Die Romanstruktur
Wenn man es genau nimmt, hat Dusse zwei Bücher in einem geschrieben. Zum einen ist da die unterhaltsame Geschichte um einen Anwalt für Strafrecht. Dieser wird durch eine Gewalteskalation im Umfeld seines Mafia-Mandanten, dessen Handlanger und dessen Konkurrenten getrieben. Dem Ich-Erzähler Björn gelingt es nur, mit heiler Haut davon zu kommen, indem er die kriminellen Methoden seiner Klientel selbst anwendet.
Zum zweiten ist da ein Buch im Buch versteckt, das man nicht anders als einen Ratgeber oder ein Sachbuch zum Thema Achtsamkeit bezeichnen kann. Die ersten 50 Romanseiten beschreiben hauptsächlich das Coaching, das dieser Joschka Breitner seinem Adepten Björn Diemel angedeihen lässt. Zuletzt gibt der Guru seinem Schüler zum achtsamen Überleben im echten Leben noch sein Standardwerk Entschleunigt auf der Überholspur – Achtsamkeit für Führungskräfte mit. Diesen Ratgeber wird der Protagonist von da an immer wieder konsultieren; jedesmal wenn die Lage einmal mehr verzwickt oder gar hoffnungslos zu werden scheint. Einen solchen Titel gibt es nicht im realen Buchhandel. Aber natürlich finden sich dort mengenweise Bücher zu Achtsamkeit, Entschleunigung, Gelassenheit und Emotionsregulierung. Deren Inhalte könnten durchaus aus dem fiktiven Werk Breitners stammen. Oder umgekehrt.
Achtsamkeitskapitel
Jedes der 37 Romankapitel wird mit einem breitnerschen Lehrsatz zur Achtsamkeit eingeleitet. Folgerichtig passt dieser Einleitungssatz zu den Geschehnissen im Kapitel. Björn Diemel triumphiert immer wieder mit Hilfe der Anleitungen aus dem Buch im Buch. Der jeweilige Lehrsatz wird dann an der passenden Stelle im Romantext noch einmal wiederholt. Dadurch erkennt der Leser, wie zunächst esoterisch anmutende Leitsätze im echten Leben umsetzbar sein könnten. Auch wenn es sich hier um das Leben von Schwerverbrechern handelt.
Einen Großteil seines Witzes zieht der Roman tatsächlich aus einer Werte-Diskrepanz. Zwischen spirituellen Anleitungen und geradezu grotesk brutalen Geschehnissen im Verbrechermilieu einer namenlosen deutschen Großstadt klaffen unübersehbare Abgründe. Über weite Strecken sind die bewusst provokanten Brüche zwischen ernst gemeinter Achtsamkeit und Verbrechen wirklich unterhaltsam. Gegen Ende begannen sie mir allerdings langsam auf die Nerven zu gehen. – Was einmal funktioniert, das ist vielleicht auch zehnmal lustig, aber beim dreißigsten Mal reicht es dann auch.
Irgendwann geht dem Leser das Gefühl dafür verloren, ob der Autor nun tatsächlich ein Plädoyer für die Universalität einer achtsamen Lebenseinstellung führt. Oder ob er sich über den gegenwärtigen Achtsamkeitshype lustig macht. Aber glücklicherweise befreit uns Dusse in seiner Danksagung von dieser Unklarheit, wenn er schreibt:
„Dies ist mein erster Roman. Wer ihn offen liest, wird merken, dass mir Achtsamkeit – bei allem Humor – wichtig ist. Eine achtsame Lebenseinstellung macht vieles leichter. Achtsamkeit ist allerdings kein Heilmittel für alles.“
Im Sinne des letzten Satzes muss man die Romangeschichte wohl auch einordnen. Am Ende steht doch ein Augenzwinkern an und über allzu enthusiastische Achtsamkeitsverfechter.
Erfolgsrezept
Das humorige Aufeinanderprallen spiritueller Lehre und Krimihandlung als Stilmittel des Autors habe ich bereits ausführlich beschrieben. Darüber hinaus besteht die besondere Anziehungskraft des Textes in einem ganz besonders trockenen Witz, der wahrscheinlich dem Hauptberuf Karsten Dusses geschuldet ist. Derartig locker-lustig über Gewaltverbrechen zu schreiben, das gelingt wohl nur Anwälten.
Ein besonders auffälliges Stilmerkmal des Romans sind kurze, trockene Nachschübe. So manche Feststellung endet in einem unerwarteten Nachsatz, der das zuvor Geschriebene auf absurde Weise ergänzt und zumindest ein Grinsen auf die Gesichter der Leser zaubert.
„Und den ersten Menschen habe ich auch erst mit zweiundvierzig Jahren umgebracht. Was […] eher spät ist.“
„Auf unserer Fahrt zum See entspannte ich mich merklich. Wenn man es achtsam betrachtete, hatte sich kaum etwas verändert. Wir waren eine gute Stunde verspätet. Und in meinem Kofferraum lag ein schlechter Mensch.“
„Ich hatte mir noch nie den Kopf darüber zerbrechen müssen, wie man eine Leiche entsorgt. Ich weiß, dass Toni und auch Sascha das schon des Öfteren getan haben. Also nicht ihre Köpfe zerbrochen, sondern Leichen entsorgt.“
Bewertung & Kritik
Karsten Dusses Schreibe ist flott, pointiert und witzig. Es macht richtig Spaß, seinen Text zu lesen. Und es fällt von Anfang an schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Ich habe nur einige wenige Stunden gebraucht, um den Roman zu Ende zu bringen. Das liegt allerdings auch daran, dass die Handlung derart folgerichtig und glatt aufgebaut ist, dass es keine echten Überraschungen, keine atemlosen Spannungsmomente gab. Ein wenig gefehlt haben sie mir schon, diese Wow-Merkmale, bei denen man kurz innehält, um zu sich selbst zu sagen: Meine Güte, das gibt es doch nicht, was für eine Wahnsinnsidee! – Die Geschichte endet im Grunde, wie sie begonnen hat. Und sie liefert einen perfekten Cliffhanger für die Fortsetzung.
Aber echte Kritik habe ich eigentlich nur für die Phase der Auflösung des Hierarchiestreits in der hochkriminellen Verbrecherorganisation anzumelden. Es scheint mir doch arg weit hergeholt zu sein, dass sich eine Bande hartgesottener Killer, Drogendealer, Zuhälter, Waffenhändler und Schmuggler in einem improvisierten Achtsamkeits-Meeting bei Erbsen, Möhren, Nudeln und Fischstäbchen weichkochen läßt, das in einem Kindergarten-Gruppenraum stattfindet. Dies mag in meinen Augen nicht zu der sonst so beinhart vorgetragenen Skrupellosigkeit und Gefühlsarmut der Syndikatsmitglieder passen.
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Wer sich für diesen Roman interessiert, wird eventuell auch meine Buchbesprechungen zu Das Kind in mir will achtsam morden, Achtsam morden am Rande der Welt, Achtsam morden im Hier und Jetzt oder Achtsam morden durch bewusste Ernährung, den vier Nachfolgern, lesen wollen.
Fazit:
Wem darf man die Lektüre von Achtsam morden empfehlen? – Nun, auf jeden Fall Leser¦innen, die gut geschriebene, spritzige Geschichten schätzen; etwa im Sinne von hochwertiger, unterhaltsamer Urlaubslektüre. Womöglich auch Sprachfreunden, die sich an wohl komponierten und treffsicheren Formulierungen erfreuen können. Und durchaus noch jenen, die sich ernsthaft für das spirituelle Konzept der Achtsamkeit interessieren, aber mindestens bereit sind, einmal nicht alles bierernst zu nehmen, sondern sich auf ironische Reflexion einzulassen.
Für eine gute Geschichte, für das Erzähltalent des Autors und für seinen Sprachwitz möchte ich Achtsam morden immerhin drei von fünf möglichen Sternen vergeben. Trotz einiger kleiner Schwächen.
Karsten Dusse, Achtsam morden
Heyne Verlag, 2019
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