Achtsam morden

Karsten Dusse, Achtsam morden, 2019
Karsten Dusse, 2019

Acht­sam­keit und kri­mi­nel­les Ver­hal­ten, wie passt das zu­sam­men? In sei­nem Ro­man Achtsam morden schreibt Kars­ten Dus­se über einen, dem der Spa­gat zu ge­lin­gen scheint. – Im Hier und Jetzt zu sein, den Mo­ment zu ach­ten, ohne ihn zu be­wer­ten, das ver­steht man un­ter Acht­sam­keit. Das Kon­zept stammt aus dem Bud­dhis­mus und hat sich in letz­ter Zeit auch in der west­li­chen Welt zu einem Pfei­ler selbst­be­stimm­ter Le­bens­füh­rung ent­wi­ckelt. Acht­sam mor­den stand An­fang Ju­ni 2020 auf Platz eins der Spie­gel Best­sel­ler­lis­te in der Ka­te­go­rie Bel­le­tris­tik Ta­schen­buch. Auch Dus­ses Nach­fol­ge­ro­man Das Kind in mir will acht­sam mor­den rück­te auf Best­sel­ler­rän­ge vor. Der Autor ist Rechts­an­walt und schreibt in sei­nen Ro­ma­nen über einen Be­rufs­kol­le­gen, der das Kon­zept der Acht­sam­keit für sich ent­deckt hat und mit des­sen Hil­fe so­gar Ka­pi­tal­ver­bre­chen ganz im Ein­klang mit sei­nem per­sön­li­chen Wohl­be­fin­den be­geht und ver­tuscht.

Achtsam morden – Über den Inhalt

Wenn man nicht zu viel über die Hand­lung ver­ra­ten will, bleibt einem nicht viel mehr übrig, als sich an den Klap­pen­text des Buches zu hal­ten. Denn der ver­rät ohne­hin schon eine ganze Menge:

„Björn Die­mel wird von sei­ner Frau gezwun­gen, ein Acht­sam­keits-Semi­nar zu besu­chen, um seine Work-Life-Balance wie­der­her­zustel­len. Denn Björn ist ein erfolg­rei­cher Anwalt und hat dem­ent­spre­chend sehr wenig Zeit für seine Fami­lie. Der Kurs trägt tat­säch­lich Früchte, und Björn kann das Ge­lern­te sogar in sei­nen Job inte­grie­ren – aller­dings nicht ganz auf die erwar­tete Weise. Denn als sein Man­dant, ein bru­ta­ler Groß­krimi­nel­ler, ihm ernst­liche Pro­bleme berei­tet, bringt er ihn ein­fach um – nach allen Regeln der Acht­sam­keit …“

Diese Kurz­beschrei­bung trifft den Roman­ein­stieg recht gut. Zumin­dest wenn man davon absieht, dass das „Semi­nar“ viel­mehr ein Ein­zel­coa­ching beim (erfun­de­nen) Acht­sam­keits­guru Joschka Breit­ner ist. Über die Figur die­ses Coa­ches wird hier noch zu spre­chen sein.

Mit Ende des Klap­pen­tex­tes, also nach dem Tod des alba­ni­schen Mafia­bos­ses Dra­gan Ser­go­wicz, sind wir erst auf Seite 110 von 415 ange­langt. Es ist klar, dass die eigent­li­chen Schwie­rig­kei­ten damit erst begin­nen. Aber es wäre doch gelacht, wenn diese nicht auch mit der not­wen­di­gen Acht­sam­keit zu meis­tern wären. Mehr wird hier nicht ver­ra­ten.

Achtsam morden – Die Romanstruktur

Wenn man es genau nimmt, hat Dusse zwei Bücher in einem geschrie­ben. Zum einen ist da die unter­halt­same Ge­schich­te um einen Anwalt für Straf­recht. Die­ser wird durch eine Gewalt­eska­la­tion im Umfeld seines Mafia-Man­dan­ten, des­sen Hand­lan­ger und des­sen Kon­kur­ren­ten getrie­ben. Dem Ich-Erzäh­ler Björn gelingt es nur, mit hei­ler Haut davon zu kom­men, indem er die krimi­nel­len Metho­den sei­ner Klien­tel selbst anwen­det.

Zum zwei­ten ist da ein Buch im Buch ver­steckt, das man nicht anders als einen Rat­ge­ber oder ein Sach­buch zum Thema Acht­sam­keit bezeich­nen kann. Die ers­ten 50 Roman­sei­ten beschrei­ben haupt­säch­lich das Coa­ching, das die­ser Joschka Breit­ner sei­nem Adep­ten Björn Die­mel ange­dei­hen lässt. Zuletzt gibt der Guru sei­nem Schüler zum acht­sa­men Über­le­ben im ech­ten Leben noch sein Stan­dard­werk Ent­schleu­nigt auf der Über­hol­spur – Acht­sam­keit für Füh­rungs­kräfte mit. Die­sen Rat­geber wird der Pro­tago­nist von da an immer wie­der kon­sul­tie­ren; jedes­mal wenn die Lage ein­mal mehr ver­zwickt oder gar hoff­nungs­los zu wer­den scheint. Einen sol­chen Titel gibt es nicht im realen Buch­han­del. Aber natür­lich fin­den sich dort men­gen­weise Bücher zu Acht­sam­keit, Ent­schleu­ni­gung, Gelas­sen­heit und Emo­tions­regu­lie­rung. Deren Inhalte könn­ten durch­aus aus dem fik­ti­ven Werk Breit­ners stam­men. Oder umge­kehrt.

Achtsamkeitskapitel

Jedes der 37 Roman­kapi­tel wird mit einem breit­ner­schen Lehr­satz zur Acht­sam­keit ein­gelei­tet. Folge­rich­tig passt die­ser Ein­lei­tungs­satz zu den Gescheh­nis­sen im Kapi­tel. Björn Die­mel trium­phiert immer wie­der mit Hilfe der Anlei­tun­gen aus dem Buch im Buch. Der jewei­lige Lehr­satz wird dann an der pas­sen­den Stelle im Roman­text noch ein­mal wie­der­holt. Dadurch erkennt der Leser, wie zunächst eso­te­risch anmu­tende Leit­sätze im ech­ten Leben umsetz­bar sein könnten. Auch wenn es sich hier um das Leben von Schwer­ver­bre­chern han­delt.

Einen Groß­teil sei­nes Wit­zes zieht der Roman tat­säch­lich aus einer Wer­te-Dis­kre­panz. Zwi­schen spi­ritu­el­len Anlei­tun­gen und gera­dezu gro­tesk bru­ta­len Gescheh­nis­sen im Ver­bre­cher­mi­lieu einer namen­lo­sen deut­schen Groß­stadt klaf­fen unüber­seh­bare Abgründe. Über weite Stre­cken sind die bewusst pro­vokan­ten Brü­che zwi­schen ernst gemein­ter Acht­sam­keit und Ver­bre­chen wirk­lich unter­halt­sam. Gegen Ende began­nen sie mir aller­dings lang­sam auf die Ner­ven zu gehen. – Was ein­mal funk­tio­niert, das ist viel­leicht auch zehn­mal lus­tig, aber beim drei­ßigs­ten Mal reicht es dann auch.

Irgend­wann geht dem Leser das Gefühl dafür ver­lo­ren, ob der Autor nun tat­säch­lich ein Plä­do­yer für die Uni­ver­sali­tät einer acht­sa­men Lebens­ein­stel­lung führt. Oder ob er sich über den gegen­wär­ti­gen Acht­sam­keits­hype lus­tig macht. Aber glück­licher­weise befreit uns Dusse in sei­ner Dank­sa­gung von die­ser Unklar­heit, wenn er schreibt:

„Dies ist mein ers­ter Roman. Wer ihn offen liest, wird mer­ken, dass mir Acht­sam­keit – bei allem Humor – wich­tig ist. Eine acht­same Lebens­ein­stel­lung macht vie­les leich­ter. Acht­sam­keit ist aller­dings kein Heil­mit­tel für alles.“

Im Sinne des letz­ten Sat­zes muss man die Roman­ge­schich­te wohl auch ein­ord­nen. Am Ende steht doch ein Augen­zwin­kern an und über allzu enthu­sias­ti­sche Acht­sam­keits­ver­fech­ter.

Achtsam morden – Erfolgsrezept

Das humo­rige Auf­ein­ander­pral­len spi­ritu­el­ler Lehre und Krimi­hand­lung als Stil­mit­tel des Autors habe ich bereits aus­führ­lich beschrie­ben. Darü­ber hinaus besteht die beson­dere Anzie­hungs­kraft des Tex­tes in einem ganz beson­ders tro­cke­nen Witz, der wahr­schein­lich dem Haupt­beruf Kars­ten Dus­ses geschul­det ist. Der­ar­tig locker-lus­tig über Gewalt­ver­bre­chen zu schrei­ben, das gelingt wohl nur Anwäl­ten.

Ein beson­ders auf­fäl­li­ges Stil­merk­mal des Romans sind kurze, tro­ckene Nach­schübe. So manche Fest­stel­lung endet in einem uner­war­te­ten Nach­satz, der das zuvor Geschrie­bene auf absurde Weise ergänzt und zumin­dest ein Grin­sen auf die Gesich­ter der Leser zau­bert.

„Und den ers­ten Menschen habe ich auch erst mit zwei­und­vier­zig Jah­ren umge­bracht. Was […] eher spät ist.“

„Auf unse­rer Fahrt zum See ent­spannte ich mich merk­lich. Wenn man es acht­sam betrach­tete, hatte sich kaum etwas ver­än­dert. Wir waren eine gute Stunde ver­spä­tet. Und in mei­nem Kof­fer­raum lag ein schlech­ter Mensch.“

„Ich hatte mir noch nie den Kopf darü­ber zer­bre­chen müs­sen, wie man eine Lei­che ent­sorgt. Ich weiß, dass Toni und auch Sascha das schon des Öfte­ren getan haben. Also nicht ihre Köpfe zer­bro­chen, son­dern Lei­chen ent­sorgt.“

Bewertung & Kritik

Kars­ten Dusses Schreibe ist flott, poin­tiert und wit­zig. Es macht rich­tig Spaß, sei­nen Text zu lesen. Und es fällt von Anfang an schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Ich habe nur einige wenige Stun­den gebraucht, um den Roman zu Ende zu brin­gen. Das liegt aller­dings auch daran, dass die Hand­lung der­art folge­rich­tig und glatt aufge­baut ist, dass es keine ech­ten Über­raschun­gen, keine atem­lo­sen Span­nungs­mo­mente gab. Ein wenig gefehlt haben sie mir schon, diese Wow-Merk­male, bei denen man kurz inne­hält, um zu sich selbst zu sagen: Meine Güte, das gibt es doch nicht, was für eine Wahn­sinns­idee! – Die Ge­schich­te endet im Grunde, wie sie begon­nen hat. Und sie lie­fert einen per­fek­ten Cliff­han­ger für die Fort­set­zung.

Aber echte Kri­tik habe ich eigent­lich nur für die Phase der Auf­lö­sung des Hie­rar­chie­streits in der hoch­krimi­nel­len Ver­bre­cher­orga­nisa­tion anzu­mel­den. Es scheint mir doch arg weit her­ge­holt zu sein, dass sich eine Bande hart­gesot­te­ner Kil­ler, Dro­gen­dea­ler, Zuhäl­ter, Waf­fen­händ­ler und Schmugg­ler in einem impro­visier­ten Acht­sam­keits-Mee­ting bei Erb­sen, Möh­ren, Nudeln und Fisch­stäb­chen weich­ko­chen läßt, das in einem Kin­der­gar­ten-Grup­pen­raum statt­fin­det. Dies mag in mei­nen Augen nicht zu der sonst so bein­hart vor­getra­ge­nen Skru­pel­losig­keit und Gefühls­ar­mut der Syn­dikats­mit­glie­der pas­sen.

~

Notiz am Rande: Die Handlung des Romans wurde 2024 in einer ersten Staffel mit acht Folgen durch den Streaminganbieter Netflix verfilmt. In den beiden Schlüsselrollen spielen Tom Schilling den Anwalt Björn Diemel und Peter Jordan den Achsamkeitsguru Joschka Breitner.

Wer sich für die­sen Roman inte­res­siert, wird even­tuell auch meine Buch­bespre­chun­gen zu Das Kind in mir will acht­sam mor­den, Acht­sam mor­den am Ran­de der Welt, Achtsam morden im Hier und Jetzt oder Achtsam morden durch bewusste Ernährung, den vier Nach­fol­gern, lesen wol­len.

Fazit:

Wem darf man die Lek­türe von Achtsam morden emp­feh­len? – Nun, auf jeden Fall Lese­r¦in­nen, die gut geschrie­bene, sprit­zige Ge­schich­ten schät­zen; etwa im Sinne von hoch­wer­ti­ger, unter­halt­sa­mer Urlaubs­lek­türe. Womög­lich auch Sprach­freun­den, die sich an wohl kom­ponier­ten und treff­siche­ren For­mulie­run­gen erfreuen kön­nen. Und durch­aus noch jenen, die sich ernst­haft für das spi­ritu­elle Kon­zept der Acht­sam­keit inte­res­sie­ren, aber min­des­tens bereit sind, ein­mal nicht alles bier­ernst zu neh­men, son­dern sich auf iro­ni­sche Refle­xion einzu­las­sen.

Für eine gute Ge­schich­te, für das Erzähl­ta­lent des Autors und für sei­nen Sprach­witz möchte ich Acht­sam mor­den immer­hin drei von fünf mög­li­chen Ster­nen verge­ben. Trotz eini­ger klei­ner Schwä­chen.

Karsten Dusse, Achtsam morden
Heyne Verlag, 2019

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