Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten … und ja, jetzt auch zum Vierten: Achtsam morden im Hier und Jetzt ist der vierte Teil der Geschichte um den Rechtsanwalt Björn Diemel. Der hatte seine Karriere als spirituell qualifizierter Mörder erst drei Jahre zuvor in Karsten Dusses erstem Roman mit dem Titel Achtsam morden begonnen. In allen früheren Bänden hatte hinter Diemel stets der fiktive Achtsamkeitsguru Joschka Breitner die zweite Geige gespielt. Nun rücken Breitner, sein Tagebuch aus längst vergessener Zeit und seine Vergangenheit als Bhagwanjünger der ersten Stunde prominent in den Vordergrund der Geschichte.
Natürlich hat es auch Teil vier der Erzählung über den kriminellen Juristen mit Hang zur Achtsamkeit wieder an die Spitze der Verkaufsränge des deutschen Buchhandels geschafft. Inzwischen gehört Autor Dusse zum literarischen Establishment. Seine Romane wurden bislang in neunzehn Sprachen übersetzt. Es gibt eine Netflix-Serie und eine Bühnenbearbeitung von Bernd Schmidt, beide mit dem Titel Achtsam morden. Dusses Arbeit wurde mit dem Deutschen Fernsehpreis, dem Deutschen Comedypreis und dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet.
Der Autor ist arriviert und so kann er es sich leisten, seine aktuelle Geschichte zum stolzen, inzwischen wenigstens schon um zwanzig Prozent reduzierten Preis von 15 Euro für die E-Book-Variante anzubieten. Wer kann, der kann, und offenbar findet auch die dritte Fortsetzung der Romangeschichte seine Leserschaft. Nach meinen eher verhaltenen Rezensionen zu den Vorgängern Achtsam morden am Rande der Welt und Das Kind in mir will achtsam morden habe ich mich ehrlich gesagt nur mehr aus dem Streben nach einer Vollständigkeit zur Lektüre von Achtsam morden im Hier und Jetzt hinreißen lassen.
Aber starten wir doch einmal unvoreingenommen in den neusten Achtsamkeitsroman.
Worum geht es diesmal?
Autor Dusse hat sich tatsächlich für einen Genrewechsel entschieden. Zumindest teilweise. Wir erinnern uns: Die ersten drei Romanfolgen entsprachen alle dem gleichen Muster. Der Protagonist, ein integrer Rechtsanwalt, wird in Kapitalverbrechen verwickelt und übersteht die sich ergebenden absurden Situationen mit Hilfe spiritueller Techniken, die er von seinem Therapeuten erlernt. Nicht mehr und nicht weniger.
Für die vierte Romanfolge gilt dieses Muster nur mit Einschränkung. Denn die Handlung ist klar und deutlich in zwei Stränge unterteilt. Da ist die Rahmenhandlung, in der RA Björn Diemel so agiert, wie wir es aus den Vorgängergeschichten gewohnt sind. Eingebettet in diesen Rahmen finden wir die persönliche Vorgeschichte von Diemels Therapeuten Joschka Breitner, die vier Jahrzehnte zurückliegt.
Rahmenhandlung
Die Einbindung Björn Diemels in die Verbrecherorganisationen, die er leitet, nachdem er zwei Mafiabosse umgebracht hat, rückt fast vollständig in den Hintergrund. Björn lebt ein zufriedenes Leben und freut sich auf seine Sitzungen bei Joschka Breitner, mit dem er auch noch kleinste Problemchen aufarbeiten kann. Allerdings trifft er gleich zu Beginn seinen Therapeuten in desolatem Zustand an. Der völlig aufgelöste Breitner verschiebt die anstehende Therapiestunde. Doch zum Nachholtermin trifft Diemel nun gar auf verwüstete Praxisräume, Breitner wurde überfallen und misshandelt. Diemel ruft den Rettungsdienst, Breitner wird ins Krankenhaus eingeliefert.
Zwischenzeitlich und zunächst ohne Zusammenhang zu Breitner besucht Diemel gemeinsam mit seiner Ex-Frau Katharina ein Tantra-Seminar in einem hippen Zeitgeistinstitut. Zwar gehen die beiden dieses Seminar ergebnisoffen an, brechen jedoch ab, als sich Seminarleiter Günther als sexbesessener und unsympathischer Gockel erweist.
Der Rest der Rahmenhandlung beschäftigt sich mit den Fragen: Wer hat Joschka Breitner überfallen? Warum will der Therapeut die Polizei bei der Angelegenheit außen vor lassen? Und was macht man mit dem Täter, sobald er überführt ist? Doch nicht etwa „achtsam ermorden“?
Die Lebensgeschichte Joschka Breitners
Jeder hat so seine Leichen im Keller. Sogar der stets über allen Dingen stehende Supercoach Breitner ist nur ein Mensch. Nachdem der Therapeut im Krankenhaus gelandet ist, gerät dessen Tagebuch aus der ersten Hälfte der Achtzigerjahre in Björn Diemels Hände. Darin berichtet der Psychotherapeut über seine Kindheit in einer Nazi-Mitläuferfamilie ohne jede Empathie und über sein BWL-Studium, bei dem er über seine WG-Mitbewohnerin Babsi zu erfüllendem Sex …, äh, ich meine: in Kontakt zur Lehre von Bhagwan Shree Rajneesh kommt.
Zwanzig Jahre vor dem Jahrtausendwechsel wird Joschka Breitner zum Bhagwanjünger. Mit Babsi reist er zum ursprünglichen Ashram Bhagwans nach Poona und wird zum Sannyasin, einem der treusten und überzeugtesten Anhänger des als Sex-Guru verrufenen spirituellen Lehrers. Als „Swami Anand Abheeru“, der Furchtlose, folgt er Bhagwan bis nach Oregon. Dort kommt es allerdings zum Showdown, zu einer heftigen finalen Auseinandersetzung zwischen Breitner und einem bösartigen Widersacher. Joschka Breitner muss fliehen und landet letztlich als Psychotherapeut Björn Diemels in einer Praxis in Deutschland.
Rajneesh, Bhagwan, Osho
Die Lebensgeschichte Breitners liest Björn Diemel also in dessen Tagebuch nach. Diese Erzählung entwickelt sich rasch zur Wiedergabe des historischen Lebens und Wirkens von Bhagwan, stets beschrieben aus Sicht der fiktiven Figur Breitners.
Wer nicht bereits zu Beginn der Sechzigerjahre auf diesem Planeten weilte, wird mit der Bhagwanbewegung womöglich nichts anfangen können. Aber tatsächlich waren um 1980 die Sannyasins des indischen Gurus weltweit aktiv. Auch in deutschen Großstädten traf man regelmäßig auf orangefarben gekleidete Gruppen, die ihre Mantras sangen und junge Leute ansprachen. Bekannt waren auch die „Bhaggy-Discos“ in Köln, Düsseldorf, Berlin, Hamburg und Hannover.
Tatsächlich lässt Dusse seinen Joschka (Geburtsjahr 1960) die Geschichte des Eso-Gurus detailreich und wirklichkeitsnah nacherzählen. Die Personen, die Bhagwan in nächster Nähe umgeben, gab es wirklich. Etwa seine Sekretärin Laxmi, die später in Ungnade fiel und durch die ebenfalls reale Sheela ersetzt wurde. Auch die Rituale, von denen Breitner berichtet, sind historisch belegt: etwa die Dynamischen Meditationen oder die Encounter-Therapie.
Der Autor lässt seinen Tagebucherzähler sogar die reale Entwicklung des Ashrams in Poona miterleben. Das Ende der Ausbreitung an der indischen Westküste und den Umzug in die USA auf die Big-Muddy-Ranch in Oregon. Selbst die schaurige Entwicklung unter Sheelas Ägide, die juristische Konsequenzen hatte und schließlich zu Bhagwans Ausweisung aus den USA führte, beschreibt Breitner in vielen, ebenfalls belegten Details.
Genrewechsel?
Die Erlebnisse des Protagonisten in zweiter Reihe, also Joschka Breitners, nehmen einen Gutteil der Romangeschicht ein. Ich habe mich an die historischen Romane T.C. Boyles erinnert gefühlt, etwa Das Licht, Dr. Sex oder Willkommen in Wellville. Auch Boyle schleust da seine Protagonisten in die Lebensgeschichte Prominenter ein.
Womöglich hat sich Karsten Dusse auch von einem Bericht des Journalisten Jörg Andrees Elten mit dem Titel Ganz entspannt im Hier und Jetzt (Leseprobe) inspirieren lassen? Denn Elten berichtete 1977 ebenfalls in Tagebuchform von seinen Erlebnissen im Umfeld Bhagwans. So manche Formulierung Breitners kann man auch bei Elten finden. Und der Romantitel mit dem … Hier und Jetzt ähnelt ja durchaus der 25 Jahre alten Überschrift Eltens.
Doch wo auch immer der Autor sich seine Inspiration geholt hat, seinem Roman hat die Abwechslung gut getan. Die ganze Geschichte liest sich flott, auch wenn an der einen oder anderen Stelle der Wechsel zwischen den Ebenen Diemel-Erlebnisse und Breitner-Tagebuch arg an den Haaren herbei gezogen wirkt.
Erfolgsrezept
Auf jeden Fall war ich im Großen und Ganzen angenehm überrascht von diesem vierten Teil. Karsten Dusse hat der Versuchung widerstanden, sein Rezept aus den ersten drei Teilen unverändert auch in einem vierten Teil unterzubringen. Vielmehr ist es ihm gelungen, mehrere Aufgaben mit ansehnlichem Ergebnis zu lösen:
- Dusse bleibt beim Thema. Sein Hauptdarsteller agiert noch immer nach dem Prinzip der Achtsamkeit. Auch wenn sein Handeln eigentlich nur mehr am Rande mit der Diskrepanz zwischen spiritueller Lehre und krimineller Energie zu tun hat. (Ein wenig aufgesetzt wirkt beispielsweise die finale Szene, in der Diemel überlegt, was er denn nun mit dem Überführten anstellen soll.)
- Der Autor hat es geschafft, aus der Monotonie seiner bisherigen Geschichten auszubrechen und ein völlig neues Element einzubauen: einen historischen Roman im Roman, wenn man so will.
- Last but not least hat Dusse eine Frage aufgelöst, die seit seinem ersten Roman im Raum stand: Wer ist dieser Eso-Guru Joschka Breitner, der stets vornehm im Hintergund blieb und dennoch die Fäden zog?
Hinzu kommt, dass die spitze Feder Dusses nicht stumpf geworden ist. Noch immer verlocken seine Formulierungen zu spontanen Lachern. Und noch immer lässt er es sich nicht nehmen, gegen gesellschaftliche Entwicklungen ins Feld zu ziehen. Etwa gegen energiepolitische Widersprüche, die unverständliche Investition in E-Mobilität oder das Gendern.
Und zum Schluss [der Einschulungsfeier von Diemels Tochter] gab es eine kreative Box mit den herzlichsten Wünschen an Gott*in, in die die Pfarrenden den Wunsch warfen, den sechsjährigen Erstklässlern möge die Kraft gegeben werden, den Weltuntergang zu verhindern.
(Seite 119)
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Notiz am Rande: Wer sich die vier Bucheinbände ansieht, wird vielleicht feststellen, dass die Kieselsteinpyramiden der Bände eins und vier abgesehen von ihrer Einfärbung identisch sind. Nur ziert den Steinstapel auf Band vier zusätzlich noch eine Mala, die traditionelle buddhistische und hinduistische Gebetskette, der Baghwan eine spezielle Komponente verlieh, indem er für seine Sannyasin einen Anhänger mit seinem Abbild hinzufügte.
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Wer diese Buchbesprechung gelesen hat, wird sich vielleicht auch für meine Rezensionen der vorangegangenen drei Teile interessieren: Achtsam morden, Das Kind in mir will achtsam morden und Achtsam morden am Rande der Welt? Oder sogar für den fünften und bislang letzten Teil der Serie: Achtsam morden durch bewusste Ernährung?
Fazit:
Achtsam morden im Hier und Jetzt ist gewiss keine anspruchsvolle Literatur. Auch als verkappter, wenn auch nicht ernst gemeinter Ratgeber zur spirituellen Lösung weltlicher Probleme taugt die Geschichte im Gegensatz zu den Bänden eins bis drei nicht mehr. Dafür aber liegt uns jetzt eine erstaunliche Mischung aus Kriminalroman, individualisiertem Historienschinken und noch immer vorhandenen spirituellen Anregungen vor. Als Leser¦in muss man das mögen.
Mir jedenfalls ist das aktuelle Werk von Karsten Dusse nun endlich wieder gute drei von fünf möglichen Sternen wert. Allein schon deshalb, weil es mich dazu gebracht hat, mich an die längst vergangene Bhagwan-Ära zu erinnern und mich dazu in einer unerwartet willkommenen Recherche zu verlieren. Dafür verzeihe ich dem Autor sogar das aufgesetzte Ende seiner Geschichte.
Karsten Dusse, Achtsam morden im Hier und Jetzt
Heyne Verlag, 2022
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