Anny Bunny ist die zehnte Veröffentlichung einer Autorin, die unter dem Pseudonym Nina Casement schreibt. Casement ist Mitte dreißig, stammt aus dem Rheinland, ist studierte Naturwissenschaftlerin und hat bislang eine breite Palette literarischer Genres bedient. In ihrem jüngsten Roman beschäftigt sie sich mit Grenzbereichen der Sexualität. Ihre Protagonistin Anna Schneider berichtet in tagebuchartigen Sequenzen über sechzehn Jahre hinweg, zwischen 2003 und 2019, über ihren Versuch, in der knallharten Branche der Pornoindustrie zu Geld zu kommen und dabei nicht auf der Strecke zu bleiben.
Um ein Haar hätte ich verschwiegen, dass nicht nur Anna in dieses Tagebuch schreibt. Immer wieder zwischendurch meldet sich unangekündigt ein gewisser Phillip zu Wort. Seine sporadischen Einschübe haben überhaupt nichts mit dem Erzählstrang Annas zu tun, eine Verbindung zwischen den beiden scheint nicht zu bestehen. Aber da muss doch irgendetwas im Busch sein, oder?
Wenn ich hier von einem Tagebuch spreche, sollte ich vielleicht konkretisieren, dass alle Einträge Annas in der Ich-Form, die Phillips in der dritten Person verfasst sind. Formal handelt es sich also um Annas Tagebuch, das Nina Casement durch Einschübe eines Dritten ergänzt hat. Alle Einträge tragen Datum und sind in memoirenhaftem Stil abgefasst.
Über die Handlung
Die Leserschaft steigt ein mit einem vorweggenommenen Tagebucheintrag der fast dreißigjährigen Hauptfigur Anna aus dem Jahr 2018, in dem sie auf zweieinhalb Buchseiten ihren Selbstmord durch eine Überdosis Valium beschreibt. Der Eintrag bricht mitten im Satz ab, Annas Schicksal bleibt offen.
Mit dem zweiten Tagebucheintrag springen wir zurück ins Jahr 2003. Da ist Anna Schneider noch dreizehn Jahre alt und lebt mit Mutter und Vater unter beengten Verhältnissen in einem Plattenbau in Berlin-Neukölln. Geldsorgen prägen das Leben der Kleinfamilie. Die Verhältnisse lassen der jungen Anna kaum Luft zum Atmen. Mit vierzehn hat Anna den ersten Sex.
Alles in allem war es irgendwie nett, warm und nah – ich fand, dass ich mich gut daran würde gewöhnen können.
(Seite 30)
Danach spitzen sich Annas Lebensverhältnisse zu. Mit sechzehn verliert sie den Vater, mit siebzehn die Mutter. Das Mädchen verbringt einige Zeit in einem Wohnheim für Minderjährige, bis sie mit achtzehn ein mittelprächtiges Abitur schafft und in eine eigene kleine Mietwohnung zieht. In einem Alter, in dem sich vielen Jugendlichen die Welt und das Leben öffnen, steht Anna vor dem Nichts. BAFöG, Kindergeld und Waisenrente reichen mit Ach und Krach für Wohnen und Überleben. Ihre Freunde aus der Schulzeit verstreuen sich. Berufsausbildung Fehlanzeige.
Doch Anna erkennt, dass sie auf dem besten Weg ist, das freudlose Leben ihrer Mutter zu wiederholen. Also besinnt sie sich auf das einzige, das ihr immer Spaß gemacht hat und mit dem sie wiederum anderen Spaß bereiten konnte: Sex.
Als sie [Anm.: die alte Freundin Marie] wieder weg war, bekämpfte ich, nicht zum ersten Mal, die Leere mit dem Floh, den mir Jasper ins Ohr gesetzt hatte: Der Überlegung, Pornostar zu werden.
(Seite 82)
Kurz darauf verdingt sich Anna erstmals als Sexdarstellerin bei einem Pornodreh. Zwei Drehtage, 600 Euro schwarz, traumatische Erlebnisse auf dem Set. Doch statt sich schockiert aus dem Pornogewerbe zu verabschieden, beschließt die junge Frau, den Versuch zu wagen, die negativen Seiten des Gewerbes zu minimieren und eine eigene Pornoproduktionsgesellschaft auf die Beine zu stellen, in der sie selbst die Chefin ist und bestimmt, was sie bereit ist zu tun und was nicht. – An dieser Stelle sind wir im Jahr 2008 und auf Seite 109 des Romans angekommen, fast ein Drittel der Geschichte haben wir hinter uns. Und Anna ist neunzehn Jahre alt. Wie es weiter geht im Leben der Protagonistin, werde ich hier keinesfalls im Detail verraten.
Phillip
Auf Seite 18 wird erstmals ein junger Mann namens Phillip im Tagebuch erwähnt. Viel erfahren wir zunächst nicht über diesen Phillip. Nur dass er etwa drei Jahre älter als Anna sein muss. Und dass er im Gegensatz zu Anna ein grundsätzliches Problem mit Sex hat: Er macht sich nichts daraus, mit Mädchen zu schlafen, und scheitert deshalb grandios in mehreren Beziehungen. (Der nahe liegenden Vermutung einer homosexuellen Neigung wird übrigens von Anfang an widersprochen. Denn Phillip ist schlicht und einfach asexuell.)
Einordnung
Man könnte nun vermuten, die Autorin hätte sich da eine rührselige Geschichte über ein sozial benachteiligtes Mädchen ausgedacht, die als Ausgangspunkt für einen erotischen Roman über eine selbstbestimmte Nymphomanin dienen könnte und die sexuellen Fantasien alter weißer Männer stimulieren sollte. Doch dies ist keineswegs der Fall.
Zwar beschreibt Casement schon mal im Detail die Abläufe während Pornodreharbeiten. Aber selbst solchen hautnahen Textstellen fehlt jegliche Lüsternheit. Da gibt es keinen Rausch, keine Extase, keinen Stachel, der sexuelle Erregung unter der Leserschaft erzeugen könnte. In mancher Hinsicht – also zum Beispiel wegen des Fehlens jeglicher Erotik, aber auch in Hinsicht auf die unaufgeregte, sachliche Sprache – erinnert mich Anny Bunny an Das sexuelle Leben der Catherine M., das französische Skandalbuch aus den Nullerjahren.
Die Nebengeschichte über Phillips Einstieg ins Erwachsenenleben plätschert ein ganze Weile lang neben Annas Entwicklung her. Auffällig ist, dass beide Romanfiguren ähnliche Wege beschreiten: Sie haben beide Schwierigkeiten, in ihrem sozialen Umfeld Fuß zu fassen und die ersehnten ersthaften Beziehungen aufrecht zu erhalten. Und beide sorgen sich arg um die Entwicklung ihrer beruflichen Selbständigkeiten: Anna um die Überlebensfähigkeit ihrer Pornoproduktion und Phillip um seine Entscheidung, als selbständiger Fotograf nicht obdachlos unter einer Brücke zu landen.
Sowohl Phillip als auch Anna haben es alles andere als leicht: mit ihren (sehr gegensätzlichen) Positionen zur Sexualität und mit ihren Schwierigkeiten im menschlich-sozialen Bereich.
Besonderheiten
Die „unaufgeregte, sachliche Sprache“ des Romans habe ich eben bereits erwähnt. Diese Bemerkung bezieht sich jedoch nicht nur auf gesellschaftliche Tabuthemen. Tatsächlich empfinde ich die Texte grundsätzlich als analytisch und kühl. Dieser Eindruck mag auch damit zu tun haben, dass die Autorin sich auffallend ausführlich und detailverliebt mit der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Hauptfiguren beschäftigt.
Immer wieder beschreibt sie Kreditentscheidungen und monatliche Einkünfte in ganz konkreten Zahlen. Dadurch bekommt die gesamte Erzählung für mich insgesamt einen hyperrealistischen Touch; vielleicht so, als ob Nina Casement die Geschäftsmodelle von Anna und Phillip im Vorfeld der Romanrecherchen selbst durchgerechnet hätte. Die gesamte Geschichte bekommt durch solche Besonderheiten einen ganz speziellen Wirklichkeitsbezug, beinahe möchte ich schreiben: autobiografische Züge. Aber das ist natürlich pure Unterstellung.
Als Konsequenz einer derartigen Detailversessenheit – ob im Finanziellen, Wirtschaftlichen oder im Zwischenmenschlichen, Sozialen – ergibt sich eine unbedingte Folgerichtigkeit und Unausweichlichkeit in den Romanabläufen. Dadurch fehlt zumindest in meinen Augen das Überraschungsmoment. Ich habe über gut 350 Buchseiten hinweg jedenfalls keinen Verblüffungseffekt erlebt. (Auch oder erst recht nicht, was das Ende der Geschichte betrifft, wenn ich das hier vorwegnehmen darf.)
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Fazit:
Auch wenn Anny Bunny nicht mit Überraschungseffekten aufwarten kann, so ist der Roman doch weit davon entfernt, langweilig oder gar banal zu sein. Der Schreibstil von Nina Casement ist klar, konkret und doch stets unterhaltsam. Ich habe den Roman mit nur wenigen Unterbrechungen gelesen und zuletzt mit einem gewissen Bedauern die letzte Seite zugeschlagen. Was immer ein gutes Zeichen ist.
Wer auf seichte Unterhaltung aus ist, sollte auf die Lektüre verzichten. Wer sich hingegen für Menschen interessiert, die nicht immer den Weg des geringsten Widerstandes gehen und die lieber auf die eigene Bauchstimme hören als auf den gerade angesagten gesellschaftlichen Tenor, der/die ist mit dieser sensiblen Geschichte über Anna alias Anny und Phillip sehr gut bedient.
Ich möchte für Anny Bunny drei sehr gute Sterne der möglichen fünf vergeben und bin überzeugt, dass es Leser¦innen geben wird, die besten Gewissens auch vier Sterne verleihen würden.
Nina Casement: Anny Bunny
Books on Demand, 2023
Ich bedanke mich herzlich bei der Autorin und dem Verlag für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar
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