Im Juni 2020 haben die Wissenschaftlerin Karina Reiß und ihr Mann, der Facharzt Sucharit Bhakdi, den Titel Corona Fehlalarm? veröffentlicht. Kaum ein Thema dominiert Medien, Gesellschaft und Politik in diesem Jahr so nachhaltig wie das Corona-Virus. Und kaum ein Thema polarisiert und spaltet die Menschheit stärker. Dispute um COVID-19 setzen so mancher Freundschaft ein Ende und ziehen tiefe Gräben durch Familien, Arbeitskollegenkreise und Nachbarschaften. Diskussionen über das Virus eskalieren regelmäßig. Bhakdi und Reiß möchten mit ihrem Buch auf Basis wissenschaftlich fundierter Informationen und untermauerter Fakten sachlich aufklären. So erklären sie ihren Antritt im Klappentext. Seit vierzehn Wochen steht der Titel nun auf der Spiegel Bestsellerliste in der Kategorie Sachbuch Taschenbuch, dort unangefochten auf Platz eins seit Anfang Juli.
Vorausschicken möchte ich dieser Buchbesprechung, dass ich keinem der gegnerischen COVID-19-Lager angehöre. Ich bin weder Befürworter der coronagetriebenen Maßnahmen und Regeln; noch gehöre ich zu den Kritikern oder gar zu den Anhängern von Verschwörungstheorien. Ich maße mir nicht an, ein eindeutiges und fundiertes eigenes Urteil fällen zu können, da ich der Ansicht bin, dass sowohl das Virus als auch die durch das Virus ausgelöste Krankheit noch immer nicht ausreichend erforscht wurden. Vor diesem Hintergrund versuche ich, das vorliegende Sachbuch mit größtmöglicher Distanz und Objektivität zu rezensieren.
Zum Inhalt
In der Einführung geben die Autoren einen aus meiner Sicht guten und objektiven Überblick zur Entwicklung der epidemischen Situation nach der Verbreitung des Virus mit dem Namen SARS-CoV-2. Sie schreiben über die chronologische Entwicklung und über Hintergründe zu Coronaviren. Daran anschließend begeben sich Reiß und Bhakdi auf den mühsamen Weg der Faktenfindung und -interpretation.
Es geht um die Gefährlichkeit des Virus, über die Auswirkungen und Maßnahmen in Deutschland. Sie beschreiben die Kollateralschäden wirtschaftlicher, psychischer und medizinischer Natur, begeben sich in einen Vergleich mit Schweden und bewerten die Themen Immunität und Impfung. Und letztlich prangern sie in Kapitel 8 das „totale Versagen der öffentlichen Medien“ an.
Zum Abschluss geben die Autoren noch einen Ausblick und beenden das Buch mit einer langen Liste von Quellenangaben, insgesamt 208 Internetlinks, auf die sie sich im Laufe des Textes beziehen.
Über die Autoren
Prof. Dr. med. Sucharit Bhakdi (73) ist Universitätsprofessor im Ruhestand und leitete mehr als zwei Jahrzehnte lang das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Seine Frau Prof. Dr. rer. nat. Karina Reiß (45) forscht und lehrt am Quincke-Forschungszentrum der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Die fachlichen Qualifikationen der beiden Buchautoren sind offensichtlich über alle Zweifel erhaben.
Sucharit Bhakdi erklärt zwar, das Buch sei zu großen Teilen der Arbeit seiner Frau zu verdanken. Aber das Gesicht hinter dem Text ist doch Bhakdi selbst, der eben in den vergangenen Monaten vielfach öffentlich aufgetreten ist; in diversen Videos und mit einem öffentlichen Brief an die Bundeskanzlerin.
Kernaussagen
Wer sich mit früheren Auftritten Bhakdis beschäftigt hat, wird beim Lesen des Buches keine großen Überraschungen erleben. Seine wichtigsten Thesen haben sich nicht geändert, nun liegen sie eben in gedruckter und dadurch ausführlicherer Form vor.
Kritik an Datenerhebung und Schlussfolgerungen
Die Autoren beginnen mit einer Bewertung statistischen Materials zu Testabläufen, Infektionsraten, Krankheitsausprägungen und Todesfällen. Im Ergebnis präsentieren sie heftige Kritik an Methoden und Datenerhebungen. Dadurch seien die meisten Schlussfolgerungen wertlos, die zum gegenwärtigen Umgang mit dem Virus geführt haben. Maßnahmen, die den Alltag der Menschen beherrschen, beruhten auf falschen Annahmen und würden nicht korrigiert, obwohl die Fehler bekannt sind. Außerdem sei das Virus längst auf dem Rückzug.
Hier sind Bhakdi und seine Frau ganz in ihrem wissenschaftlichen Element, die Argumentation ist schlüssig. Ob ihre Datenbasis und Schlussfolgerungen alle unbestritten sind, kann ich beileibe nicht bewerten. Jedenfalls scheint mir die geäußerte Kritik in der Summe durchaus berechtigt zu sein. Und weil die Darstellungen dieses Teils des Buches sehr überzeugend wirken und Bhakdi seine Finger in offene Wunden legt, würde ich mir doch sehr wünschen, dass Zahlen und Ableitungen zwischen Wissenschaftlern unterschiedlicher Meinung ausdiskutiert werden. Wenigstens diese beiden Autoren sollten ausreichendes Renommee besitzen, so dass sich andere Koryphäen ohne Gesichtsverlust mit ihnen auseinandersetzen könnten.
Eine solche Diskussion hat aber nie stattgefunden – und wird es wohl auch künftig nicht. Man könnte damit argumentieren, Bhakdi habe sich durch unkluge Wahl von Interviewpartnern selbst ins Abseits manövriert. Wer gemeinsam mit fiebrigen Aktivisten wie Ken Jebsen auftritt, ist entweder naiv oder gar selbst dessen verquaster Meinung. Dennoch halte ich es für einen Fehler der Bundesregierung und ihrer Berater, (deswegen?) Gespräche zu verweigern. Denn Bhakdi ist nicht Jebsen und hat durchaus Substantielles, Fundiertes zu bieten.
Kritik an den Maßnahmen der Regierung
Auf der Basis seiner Schlussfolgerungen zur Datenerhebung wirft der Autor der Regierung vor, ihre Aufgaben nicht zu erfüllen, statt dessen Deutschland durch vollkommen unverhältnismäßige Maßnahmen in Angst und Schrecken zu versetzen und gegen die Maßgaben des Grundgesetzes zu knebeln. Versammlungsverbote, Ausgangssperre und Demütigung durch medizinisch vollkommen sinnlose Mundschutzpflicht – Bhakdi kommt jetzt richtig in Fahrt.
Ich muss gestehen, viele der Aussagen kann ich durchaus nachvollziehen. Aber vorbehaltlos hinter allen kann ich nicht stehen. Ich glaube beispielsweise nicht, dass hinter womöglich fragwürdigen Maßnahmen nur entweder Dummheit oder gar ein geheimnisvolles, unausgesprochenes Kalkül stehen. An solchen Stellen driftet mir der Autor doch zu sehr ab in Richtung Geheimbündlertum oder Weltverschwörung. Doch bin ich überzeugt, dass selbst solche Diskrepanzen im direkten Gespräch ausgeräumt werden könnten, … wenn ein solches denn stattfinden würde.
Kritik an Personen
Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass sich Bhakdi missachtet, diskreditiert oder gar gedemütigt fühlt, weil er keinerlei Resonanz durch die Verantwortlichen im Staat erfährt. Aber dennoch geht es mir eindeutig zu weit, wie er in seiner Retourkutsche mit Politikern und Kollegen umspringt. Mutmaßungen etwa zu Motivation und Kompetenz des Robert Koch-Instituts und von Herrn Drosten, plumpe Herabwürdigung von Regierungsmitgliedern wie Spahn oder Söder auf Grund ihrer Berufsausbildungen sind dünkelhaft und weit unter seiner Würde.
„Söder gibt den Macher. […] Man befürchtet fast, ihn bald à la Putin mit freiem Oberkörper durch den Bayrischen Wald reiten zu sehen.“
Bhakdi verspricht Fakten, Daten, Aufklärung und liefert statt derer an mehreren Stellen Polemik, mit der er beim Leser nur eines erreicht: Er untergräbt seine eigene Glaubwürdigkeit. Das ist schade.
Leider versteigen sich die Autoren gegen Ende des Textes auch noch in recht krude Vergleiche der aktuellen Situation mit historischen Ereignissen. Sie setzen heutige Regierungsentscheidungen mit DDR-Gehabe und gar mit nationalsozialistischer Entmächtigung gleich. Doch einem Aufklärungstext mit wissenschaftlichem Anspruch stehen solche Korrelate nicht zu, wenn er ernst genommen werden soll.
Das ist nichts anderes als Populismus allererster Güte und fordert zustimmendes Gemurmle von den Stammtischen dieser Nation ein.
Außerdem – und das finde ich nun wirklich äußerst bedauerlich – schlägt Bhakdi mit solchen Nickeligkeiten auch noch selbst die letzte Tür zur Verständigung zu. Dies will nicht so recht zu seinem stets wiederholten Diskussionsangebot passen. Ich befürchte, die Fronten sind leider beiderseits hoffnungslos verhärtet.
Rezeption
Im Netz der Netze habe ich ein paar prominent verlinkte Besprechungen zu Corona Fehlalarm? gefunden. Der Mediziner Jürgen Birmanns lobt das Buch als „schonungslose, kritische Analyse“ und spricht eine uneingeschränkte Leseempfehlung aus.
Hardy-Thorsten Panknin und Ludwig Zahn hingegen besprechen Reiß/Bahkdi sehr kritisch. Für sie „bekommt das Ganze bei Verwendung von fragwürdigen Studien oder Aussagen einen falschen Zungenschlag“.
Auch Christian Rabhansl äußert sich vornehmlich negativ: „Das Problem an diesem Buch ist, dass an vielen Stellen offenbleibt, wie genau denn ihre Position lautet – außer, dass sie dagegen sind. Die prägenden Stilmittel dieses Buchs sind das Geraune, die rhetorische Frage, die Unterstellung und die Andeutung.“
Alan Niederer bespricht das Buch in der Neuen Züricher Zeitung kontrovers und schließt versöhnlich: „Müsste man vor Bhakdis Buch warnen? Nein. Der mündige Leser wird die Stärken und Schwächen der Schrift erkennen können. Dass sie erschienen ist und besprochen wird, zeigt, dass Demokratie und Medien hierzulande funktionieren. Entgegen Bhakdis populistischem Narrativ von Gut und Böse, Täter und Opfer, richtig und falsch.“
Nachträge zur Rezeption
[29. August 2020] Am 18. August 2020 widersprach die Medizinische Fakultät der Kieler Christian-Albrechts-Universität, des Arbeitgebers von Frau Reiß, den „unbelegten und im Gegensatz zu seriösen internationalen wissenschaftlichen Erkenntnissen stehenden Behauptungen“ der beiden Autoren.
[7. September 2020] In einem Artikel der Züricher Tages-Anzeiger unterziehen Alexandra Bröhm und Felix Straumann fünf Kernaussagen Reiß/Bhakdis einer Überprüfung: 1. Masken bringen nichts und sind sinnlos; 2. Das Virus ist nicht besonders gefährlich und mit der Grippe zu vergleichen; 3. Die meisten sterben nicht an COVID-19, sondern mit dem Virus; 4. Der Schaden einer Corona-Impfung wäre größer als jeder denkbare Nutzen; 5. Der Lockdown war überflüssig.
Das Ergebnis der Überprüfung lautet: All diese fünf Aussagen sind falsch.
All diese Beurteilungen Dritter habe ich unterhalb meiner eigenen Rezension im Abschnitt Anderswo besprochen verlinkt.
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Wen diese Rezension nicht unberührt gelassen hat, wird sich vielleicht auch – im Sinne einer Gegenposition – für den Titel Die Pandemie als psychologische Herausforderung von Steven Taylor interessieren.
Fazit:
Ich möchte das Sachbuch Corona Fehlalarm? unbedingt empfehlen. Nicht etwa, weil ich hinter all den Aussagen des Autorenpaares Reiß/Bhakdi stünde und hier nun selbst missionieren wollte. Auch nicht, weil ich von durchgängiger Schlüssigkeit und Unbestechlichkeit ihrer Argumentation überzeugt wäre. Vielmehr weil ich den Titel für eine der wenigen im wissenschaftlichen Ansatz ernst zu nehmenden Gegenstimmen im Strom des gesellschaftlichen Gleichklangs halte, über die wenigstens nachzudenken sich für jede(n) von uns auf alle Fälle lohnt. Dafür kann und muss man schon mal die eine oder andere Entgleisung der Autoren aushalten.
Denn einen wichtigen Aspekt sollten wir nicht aus den Augen verlieren: Wir brauchen auch kritische Stimmen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, in beunruhigenden Zeiten das eigenständige Denken zu verlieren. Und außerdem gilt in meinen Augen nach wie vor das bekannte Zitat über die Redefreiheit, das vor über hundert Jahren die Biografin Evelyn Beatrice Hall dem Philosophen und Schriftsteller Voltaire in den Mund gelegt hat:
„Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.“
Unter Berücksichtigung aller Pros und Kontras möchte ich Corona Fehlalarm? wenigstens drei von fünf Sternen verleihen.
Karina Reiß & Sucharit Bhakdi, Corona Fehlalarm?
Goldegg Verlag, 2020
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Anderswo besprochen:
- Corona Fehlalarm?, Wikipedia
- Alexandra Bröhm & Felix Straumann, Haben die Corona-Skeptiker recht?, Zürcher Tages-Anzeiger, 07.09.2020
- Alan Niederer, Manöverkritik in Schwarz-Weiss – warum Sucharit Bhakdis Buch über die Corona-Krise problematisch ist, NZZ, 20.08.2020
- Jürgen Birmanns, Rezension zum Buch „Corona Fehlalarm“, Gesellschaft für Gesundheitsberatung, 14.08.2020
- Christian Rabhansl, Als wäre Vorsorge etwas für Feiglinge, Deutschlandfunk Kultur, 08.08.2020
- Hardy-Thorsten Panknin & Ludwig Zahn, Buchbesprechung: Corona – Fehlalarm?: Daten, Fakten Hintergründe, MTA Dialog, 16.07.2020