In seinem Roman Der Delphi Code erzählt der Autor Thomas Pyczak die Geschichte eines EDV-Programmes, das Menschen bei der Wahl ihrer Partner helfen soll. Dieses Programm trägt den Namen „Delphi Code“. Es bezieht sich damit auf das berühmte historische Orakel von Delphi. Nur dass die damalige Seherin von Delphi samt ihrer Priesterschar in der modernen Version des Roman-Orakels ersetzt wurde durch einen Programmcode. Dieser Code soll sich durch Einsatz von Techniken der Künstlichen Intelligenz ständig selbst verbessern, ohne dass es für diese Weiterentwicklung noch Programmierer bräuchte. Ein selbst lernendes und dadurch unschlagbares Programm zur Partnervermittlung also!
Thomas Pyczak ist Schriftsteller und strategischer Storyteller, versteht also etwas von der Kunst des Erzählens. Der Delphi Code ist sein vierter Roman nach Starnberg. Marrakesch. Starnberg. (2016), Ende der Welt (2016) und Nachtigall (2017). Seine Romane hat der Autor alle im Selbstverlag herausgegeben.
Zum Hintergrund der Geschichte
Der Zufall wollte es, dass ich erst vor einigen Tagen eine Buchbesprechung über Andreas Eschbachs NSA – Nationales Sicherheits-Amt aus dem Jahr 2018 geschrieben habe. Eschbach bezieht sich darin auf die Ursprünge der Computertechnologie im neunzehnten Jahrhundert, insbesondere auf den Erfinder der Analytischen Maschine Charles Babbage und am Rande auf seine Mitarbeiterin Ada Lovelace.
Genau den gleichen Aufhänger wählt auch Pyczak für den Delphi Code. Sein Schwerpunkt liegt jedoch nicht auf Babbage sondern auf Lovelace, Mathematikerin und Pionierin der Programmentwicklung. Ihre Anleitung zur Berechnung der Bernoulli-Zahlen mit Babbages Analytical Engine begründete Ada Lovelace‘ Ruf als „erste Programmiererin der Welt“. Unter vielen Informatikern gilt Ada als Schutzpatronin der IT-Branche.
Diesen Faden nimmt der Autor in seinem Roman auf. Auch in seiner Geschichte gibt es eine Ada, die wesentlichen Anteil am Programmcode hat.
Entstehung der Partnervermittlung
Interessant für viele potenzielle Leser dürfte die folgerichtige Entwicklung der Methoden zur Partnerfindung sein, die Pyczak seiner Geschichte zugrunde legt und die sich über die vergangenen Jahrhunderte drastisch verändert hat.
(Global gesehen geht die Zahl der Eheschließungen, die arrangiert werden, seit Jahren kontinuierlich zurück. Früher war es Kernkompetenz der Familie, für ihre Kinder passende (Ehe-)Partner zu finden. Unterstützt wurden sie dabei durch institutionelle Veranstaltungen wie etwa Adelsbälle, oder durch professionelle Heiratsvermittler, die sogenannten Brautwerber. Später folgten Kontaktanzeigen in Zeitungen, Agenturen zur Heiratsvermittlung und in neuster Zeit die elektronische Partnersuche über diverse Online-Portale.)
Der Delphi Code im gleichnamigen Roman geht schließlich noch einen letzten, aber entscheidenden Schritt weiter:
Das Programm sucht passende Partner nicht nur auf Basis des Abgleichs selbst gemachter Angaben. Vielmehr durchforstet es so ziemlich alles, was über die Kunden im Internet, in Datenbanken und sogar in persönlichen Datenspeichern (Cloud, E-Mail) zu finden ist. Um hier fündig zu werden und immer mehr Quellen zu finden, erweitert das Programm seine Funktion selbständig und wird dadurch immer kompetenter, immer mächtiger. Und um zusätzlich Aktuelles in den Matching-Algorithmus einbauen zu können, wertet der Code über spezielle Armbänder auch alle Sprach- und Videosignale aus, die während des Tages- oder Nachtablaufes der Kunden aufgenommen werden.
Der gläserne Mensch
Wir sehen schon, worauf das hinausläuft. Der Delphi Code wird zum Big Brother. Das Programm unterläuft jegliche Privatsphäre, es kennt uns letztlich besser als wir selbst. Weil ihm nämlich dieser blinde Fleck fehlt, den ein jeder Mensch bei der Einschätzung seiner selbst hat.
Mit dieser Feststellung sind wir wieder bei George Orwells 1984 oder eben auch Andreas Eschbachs NSA angelangt. Was der eine noch als wünschenswerte, zweckgebundene Transparenz betrachtet, das geht dem anderen längst zu weit, demontiert ihn und treibt ihn in allerletzter Konsequenz womöglich sogar in den Tod.
Über die Handlung
Die Romangeschichte trägt sich größtenteils in der Jetztzeit in Delphi, einer griechischen Ortschaft etwa 150 Kilometer nordwestlich von Athen zu. Antiken Mythen zufolge galt Delphi als Mittelpunkt der Welt. Vor über zweitausend Jahren sprach im berühmten „Orakel von Delphi“ Apollon, der Gott des Lichtes und der Weissagung, über sein Medium Pythia zu Ratsuchenden.
In den ausgehenden Wintermonaten treffen sich dort im Hotel Phaedriades sieben Personen zu einer Kick-Off-Veranstaltung für das Programm Delphi Code. Allen voran dabei sind die drei geistigen Mütter des Codes, die Firmenchefin Victoria, ihre rechte Hand Edelweiß und Ada Müggenburg, eine alte Schulfreundin Victorias, die seherische Eigenschaften hat und sozusagen den systemischen Unterbau des Programmes beigetragen hat.
Zu diesen drei Frauen gesellen sich Dr. Julian Schindler, Geschäftsführer der Partnervermittlung RealLove, dem wichtigsten Kunden des Delphi Codes; Dr. Fischer, Justitiar bei Delphi Code; und Alain, französischer Schriftsteller und Geliebter von Victoria.
Ach ja, dieser Julian ist nicht nur Geschäftspartner der Frauen sondern auch Geliebter von Ada. Nur Edelweiß und Dr. Fischer sind Singles.
Was passiert in Delphi?
Die Handlung erstreckt sich über eine Woche hinweg und wird im Rahmen aus der Sicht von Edelweiß erzählt. Dazwischen schieben sich jedoch immer wieder Erlebnisse und Eindrücke anderer Teilnehmer der Kick-Off-Runde.
Das Besondere dieses Geschäftstreffens offenbart sich dem Leser und auch den Gästen gleich nach Abhandlung der Präliminarien der Romangeschichte. Victoria und Edelweiß konfrontieren die anderen mit einer Herausforderung: Für die Dauer der Veranstaltung sollen alle Teilnehmer den Delphi Code als Smartphone-App installieren und dazu Audio- und Videoarmbänder tragen – als letzten Stresstest innerhalb einer in sich geschlossenen Personengruppe.
Der Code soll für jeden sein erotisches Potenzial und vor allen Dingen mögliche Partnerschaften untereinander berechnen und allen Teilnehmern anzeigen. Dass das schief gehen wird, ahnt der Leser spätestens am dritten Tag. Was aber der Code tatsächlich anrichtet, werde ich hier natürlich nicht verraten.
Das Erfolgsrezept
Thomas Pyczak schreibt in Bildern. Die eigentliche Romanhandlung ist nämlich recht überschaubar. Sicher passt eine vollständige Zusammenfassung der bloßen Geschehnisse ohne große Schwierigkeiten auf eine Textseite. Aber der Autor konstruiert seine Gesamtgeschichte eben durch Aneinanderreihen von Bildern aus Gegenwart und Vergangenheit.
„Es war eine dieser gemütlichen Lobbys. Plüschige Sofas, abwechslungsreich gemustert, hölzerne Couchtische, grob gewebte Teppiche, ein Kamin. An einer Wand stand ein elektrisches Piano. Ada saß aufrecht und spielte. Die langen, rotblonden Haare fielen über ihre Schultern und ihr Oberkörper wiegte hin und her, versunken in ihre Musik. Die Bollywood-Armreife klapperten auf den Tasten.“
Diese Bildersprache muss man mögen, oder eben auch nicht. Mir hat dieses stilistische Mittel gut gefallen. Es erzeugt für mich eine Plastizität, die dafür sorgt, dass der Leser das Gefühl bekommt, er sei selbst Teilnehmer an der Geschichte.
„Alain, Vickys Geliebter, ein Schriftsteller […] stand draußen vor der Tür und versuchte vergeblich, sich bei dem starken Wind eine Zigarette anzuzünden. […] Der Wind zerrte an Alains stark gelichteten Haaren. Er wirkte auf mich klein und zerbrechlich in seiner viel zu großen Fliegerjacke.“
Es wird überhaupt sehr viel geraucht in der Erzählung. In allen möglichen Situationen werden Zigaretten entzündet, man raucht still vor sich hin und sinniert. Auch das gehört zur Bildersprache des Autors. Denn einen anderen Sinn, als einzelnen Szenen mehr Dauer und Gewicht zu verleihen, hat das Rauchen nach meiner Erkenntnis nicht. Der eine oder die andere wird den hohen Nikotingehalt der Geschichte womöglich als anachronistisch empfinden. Aber der Autor hat sich nun einmal dafür entschieden.
Private Nabelschau
Es gibt ein Phänomen, das nicht nur die Literatur sondern seit Jahren auch den Film betrifft. Es besteht in der Neigung von Autoren, das Privatleben von Protagonisten zu einem vergleichsweise hohen Anteil einzubringen in den Gesamtablauf. Auch wenn dieser Privatanteil in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Handlung steht. Erstmals – so glaube ich mich zu erinnern – habe ich diese Tendenz bewusst in den Romanen von Henning Mankell beobachtet. Mankells Kommissar Kurt Wallander hadert regelmäßig mit seinem Gesundheitszustand und einem Alkoholproblem. Und inzwischen kommt auch kein Tatort mehr ohne schwer therapiebedürftige Ermittler aus.
Auch Pyczak bedient diese zweite Handlungsschiene. Die Ich-Erzählerin Edelweiß beispielsweise leidet an einem Verlust-Trauma, seit ihre Eltern bei einem Bergunglück ums Leben kamen, als die Protagonistin noch im Kleinkindalter war. Seither leidet sie an ausgeprägter Höhenangst und einer immer wieder ins Spiel gebrachten Kälteunempfindlichkeit.
Hinzu kommt eine verunglückte Ehe mit einem Mann den Edelweiß liebte, der sich jedoch als homosexuell erwies. Das war es dann mit der Liebe für Edel. Sie fand ihre Bestimmung und Ablenkung in der Arbeit für den Delphi Code.
Zunächst wusste ich nicht, was ich von dieser Nabelschau halten sollte. Einerseits geben solche Ausflüge ins Privatleben der Geschichte und dem Personal durchaus zusätzliche Kontur. Andererseits konnte ich mit diesen mantrahaft wiederholten Passagen nicht allzu viel anfangen. Bis zu einer Badeszene am Strand, in der Edelweiß mit einem Mal wieder Kältegefühl entwickelt. Dieser Moment geht einher mit ihrem Loslösen aus den fest gefahrenen Strukturen des Teams um die Codeentwicklung. Lockert sich da etwa ein bis dahin fest verzurrter Knoten? – Subtil. Sehr subtil. Aber letztlich durchaus überzeugend.
Bewertung
Das Thema Partnerwahl mit Hilfe künstlicher Intelligenz ist natürlich brandaktuell. Und auch die im Roman dazu notwendige – übrigens im echten Leben ohne ausdrückliche Einwilligung gesetzlich verbotene – Auswertung personenbezogener und streng vertraulicher Daten ist derzeit in aller Munde. Insofern bedient Thomas Pyczak Wünsche und Ängste, die viele Menschen mit diesen Modethemen verbinden. Und das macht er ziemlich gut. So wie er die Technologie beschreibt, braucht man als Leser kein Informatikstudium, um zu verstehen, wie der Delphi Code funktioniert.
„KI [ist] eine horizontale Schicht, die sich über die Welt legt – genau wie die Digitalisierung und das Internet oder hundert Jahre zuvor die Elektrizität.“
Allerdings muss man konstatieren, dass der Autor an der einen oder anderen Stelle durchaus über das technisch Vorstellbare hinaus schießt. Wie etwa die KI auf alle persönlichen Datensätze Einzelner zugreifen will, wo auch immer sich diese Daten befinden, erschließt sich mir nicht. Diese Vorstellung gehört für mich, einen Naturwissenschaftler, eher in die Rubrik Verschwörungstheorie.
Auch die Kamerafunktion eines Armbandes, das unabhängig von Position und Körperhaltung des Trägers stets die relevanten Ausschnitte im Raum filmt, in Echtzeit überträgt und durch die KI analysieren lässt, ist für mich schwer zu schlucken. Dieses Gadget muss Doc Pille vom Raumschiff Enterprise bei einer Zwischenlandung in Delphi verloren haben. – Beam me up, Scotty!
Überdies ein wenig enttäuscht hat mich die Auflösung der Geschichte. In einem länglichen Epilog mit dem Titel Die Insel erzählt der Autor, was sich im Anschluss an die Woche in Delphi entwickelt. Diesen Teil hätte Pyczak entweder deutlich kürzer halten, oder aber ein originelleres Finale konstruieren können. Ich empfand das Ende leider als etwas platt, auch wenn es ohne jeden Zweifel folgerichtig und genau so vorhersehbar ist.
Aber vielleicht sehen das andere Leser nicht so streng wie ich. Ich würde mal sagen: Klagen auf recht hohem Niveau.
Die Moral
Bei aller Mäkelei will ich doch unbedingt festhalten, dass der Roman den für mich wichtigsten Aspekt der ganzen Geschichte sehr deutlich macht: Das Programm oder meinetwegen „der Code“ analysiert nicht nur Zustände und Eigenschaften seiner Kunden und gibt dann Handlungs-, beziehungsweise Partnerempfehlungen. Durch seine Interaktion mit allen Beteiligten steuert es auch aktiv das Verhalten der Menschen. Diese Erkenntnis sollte uns allen zu denken geben.
Einer der Protagonisten des Romans, Alain, spricht das Geheimnis aus, als er zwar über das historische Orakel von Delphi redet, aber wir doch wissen, dass eigentlich der Delphi Code gemeint ist:
„Hier wirken dunkle Kräfte unter der Oberfläche. Das Irrationale, Unfassbare, kaum Zähmbare.“
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Wem das Thema des Delphi Codes gefällt, der wird sich womöglich auch für meine Rezension von NSA – Nationaler Sicherheits-Amt interessieren.
Fazit:
Der Delphi Code ist ein mehrschichtiger Thriller für alle, die sich für Möglichkeiten, Gefahren und Grenzen einer automatisierten maschinellen Partnervermittlung interessieren. Aber er ist auch eine Leseempfehlung an diejenigen, die auf populärwissenschaftlichem Niveau etwas über Entwicklung und Anwendung von künstlicher Intelligenz erfahren wollen. Allerdings sollten sie diesbezüglich nicht alles für bare Münze nehmen, was der Roman als gegeben darstellt. Da werden doch einige Takte reiner Zukunftsmusik angestimmt.
Mir haben die Geschichte und ihre Umsetzung richtig gut gefallen. Unter Berücksichtigung der angesprochenen Einschränkungen will ich dem Delphi Code ganz dicke drei von fünf möglichen Sternen zusprechen. Für vier Sterne hat es nur knapp nicht gereicht.
Thomas Pyczak, Der Delphi Code
Books on Demand, 2020
Ich bedanke mich herzlich bei der Agentur mainwunder für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar
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