Mit NSA – Nationales Sicherheits-Amt präsentiert uns Andreas Eschbach eine verblüffende Umgestaltung der Menschheitsgeschichte in der Postmoderne: Was wäre wohl passiert, hätte die nationalsozialistische Diktatur bereits im vergangenen Jahrhundert über moderne EDV-Infrastruktur verfügt? – Reine Fiktion? Nun, so weit her geholt ist diese Geschichtsumschreibung gar nicht.
Um die Tragweite des aktuellen Romans von Andreas Eschbach erfassen zu können, müssen wir fast zweihundert Jahre in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit zurückreisen. Bereits im Vorwort seines Romans NSA schreibt Eschbach:
Seit es Lord Charles Babbage im Jahre 1851 gelungen ist, seine – damals noch mit Dampf und Lochkarten betrieben – „Analytische Maschine“ fertigzustellen, hat die maschinelle Verarbeitung von Informationen rasche Fortschritte gemacht.“
Historischer Hintergrund
Dieser allererste Romansatz hat es wahrlich in sich. Denn der englische Mathematiker und Erfinder Babbage hatte tatsächlich bereits im Jahr 1837 den Entwurf eines Vorläufers moderner Computer veröffentlicht. Es ist mittlerweile allgemein anerkannt, dass sein Entwurf korrekt war. Seine „Analytical Engine“ hätte funktioniert. Das bekommen Informatikstudenten auch heute noch in ihren Erstsemestern erzählt.
Doch an dieser Stelle unterscheiden sich nun Möglichkeit und Wirklichkeit. Denn Babbages Maschine wurde in der Realität aus verschiedenen Gründen nie gebaut. So blieb es dem Deutschen Konrad Zuse vorbehalten, erst mehr als hundert Jahre später, im Jahr 1941, einen universell programmierbaren Rechner zu entwickeln.
Genau an dieser Diskrepanz setzt Andreas Eschbach an: Was wäre denn gewesen, wenn der erste Computer tatsächlich bereits im Jahr 1851 fertiggestellt worden wäre? Wären wir dann nicht bereits achtzig Jahre danach, also im Jahr 1931, technisch genau so weit gewesen, wie wir es heute sind, achtzig Jahre nach Zuse?
Es ist also keinesfalls wilde Spekulation, die Eschbach in NSA anstellt. Vielmehr ist es das Weiterspinnen einer zwar längst verspielten Gelegenheit. Doch hätten die Menschen im neunzehnten Jahrhundert ihre Möglichkeiten genutzt, die Weltgeschichte wäre sicher anders verlaufen.
Die Romangeschichte
Die Handlung setzt ein im Jahr 1942. Das Nationale Sicherheits-Amt in Weimar überwacht die Datenströme in Adolf Hitlers Drittem Reich. Es gibt „Komputer“ mit Bakelit-Tastaturen, dem Material, aus dem damals tatsächlich technische Geräte wie Telefonapparate hergestellt wurden. Beim Lesen werden sofort Informatiker-Erinnerungen wach an die berühmte Qualität der alten Model-M-Tastaturen der Achtzigerjahre von IBM. Eschbach führt uns wirklich gekonnt sanft in seine Erzählung ein. Sanft und überzeugend.
Aber dann geht es auf einmal Schlag auf Schlag: Der damalige Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler, zweiter Mann hinter Adolf Hitler, besucht das NSA und lässt sich live vorführen, was mit Datenauswertung auf deutschem Reichsgebiet erreicht werden kann. In Echtzeit werden Lebensmittelverbrauchsdaten, Meldezahlen der Einwohnerämter und Häusergrundrisse verknüpft, so dass der entgeisterte Leser auf nur zehn Buchseiten die Verhaftung von Anne Frank und ihrer Familie durch die SS in Amsterdam miterleben kann. – Plakativ? Ja. Effekthascherisch? Ja. Trotzdem Gänsehaut? Auf jeden Fall!
Helene Bodenkamp heißt die junge Programmiererin, die für Himmler die Datenauswertung durchführen muss. Und Eugen Lettke ist derjenige, der auf die Idee kommt, in den betroffenen Wohnungen nach versteckten Räumen suchen zu lassen. So erst konnte es also zur Deportation der Anne Frank kommen, schlägt das Buch vor.
Aus Sicht von Helene und von Lettke wird von nun an wechselweise die Geschichte um das Nationale Sicherheits-Amt weitererzählt. Sie beginnt in der Jugend der beiden, noch vor der Machtergreifung der Nazis. Zu Beginn wechselt die Perspektive mit jedem Kapitel, später geht es dann ziemlich wild durcheinander – bis zum … nun ja, „Endsieg“.
Helene Bodenkamp
Helene wurde 1921 geboren und ist Tochter einer angesehenen, begüterten Ärztefamilie. Sie ist eine gute Schülerin, kommt jedoch mit den Berufswünschen ihrer Eltern nicht zurecht. Hausarbeit liegt ihr nicht, einen Pflegeberuf lehnt sie ab. Eine „gute Partie“ heiraten will sie erst recht nicht. Sie erkennt ihr Talent für die Komputer-Programmierung und wird „Strickerin“; heute würde man „Programmiererin“ sagen – oder „Nerd“. Nach dem Schulabschluss unterschreibt sie einen Vertrag als Programmierspezialistin beim Nationalen Sicherheits-Amt.
Zunächst ohne zu wissen, wozu sie da beiträgt, entwickelt sie kreative Daten-Auswertungen, die zur Aufdeckung von Judenverstecken führen. (Siehe Beginn der Romangeschichte.) Als Helene Bodenkamp erkennt, dass ihre Programme Menschen in den Tod schicken, versucht sie ihre „Strickmuster“ anzupassen. Sie will verhindern, dass ihre Auswertungen Tote fordern. Der Grund für ihre Verzweiflung ist nicht zuletzt ihr Geliebter, der sich als Deserteur bei Freunden versteckt. Ihn will sie unter keinen Umständen ans Messer liefern. Und tatsächlich gelingt Helene die Täuschung.
Eugen Lettke
Eugen ist ein egomanischer Mistkerl. Als Halbwaise eines gefallenen Kriegshelden des Ersten Weltkrieges steht er schon früh auf eigenen Beinen. Beinahe den ganzen Roman über verfolgt er ausschließlich zwei Ziele: Keinesfalls möchte er selbst als Soldat eingezogen werden. Außerdem sucht er im Privaten stets den schnellen sexuellen Kick, indem er junge Frauen mit irgendwelchen Verfehlungen konfrontiert, um sie sich gefügig zu machen. Beide Ziele kann er durch seine Tätigkeit als leitender Analyst im NSA nur allzu gut verfolgen.
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Als der zweite Weltkrieg seinen Lauf nimmt, geraten Eugen Lettke und Helen Bodenkamp in eine zufällige, jedoch im Laufe der Handlung immer wichtigere Symbiose. Der eine ist von der anderen abhängig und umgekehrt.
Mehr möchte ich hier über den Verlauf der Handlung nicht verraten. Nur soviel: Die Ereignisse überschlagen sich. Manche der Szenen erkennt man sofort wieder, wenn man ein wenig in deutscher Geschichte bewandert ist. Andere Geschehnisse dichtet Eschbach nahtlos in die historische Realität hinein und lässt eine stimmige und überaus spannende Gesamterzählung entstehen. Der Autor jagt seine Leser durch ein literarisches Trommelfeuer. Es fällt dem Leser mit zunehmender Dauer der Geschichte immer schwerer, das Buch aus der Hand zu legen.
Parallelwelten
Andreas Eschbach verwendet einen erklecklichen Anteil seiner Erzählung auf technische Erläuterungen, die der aufmerksame Leser nach entsprechender Begriffsklärung auf die Aktualität übertragen kann:
Natürlich gibt es bereits Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein „Weltnetz“, das heutige Internet. Daten werden entweder auf den bereits erwähnten Komputern abgelegt oder eben in riesigen „Daten-Silos“, heute würden wir von der Cloud sprechen. Die Deutschen nutzen das „Votel“ (Volkstelefon) oder die Luxusausgabe der Firma Siemens. Sie schreiben Termine in ihre Cloud-Kalender und Tagebucheinträge in ihre privaten Blogs. Und es gibt das „Deutsche Forum“, in dem man mühelos einen nationalen Ableger Vorreiter von Facebook erkennen kann.
Außerdem wird im Jahr 1933 das Bargeld abgeschafft. Bezahlt wird ausschießlich per Kontokarte oder noch einfacher kontaktlos mit dem Volkstelefon.
Wer in technischer Hinsicht ein bisschen tiefer einsteigen möchte, kann sich in Helenes „Strickmuster“ hineindenken, die in einer Datenbank-Kommandofolge namens SAS („Strukturierte Abfrage-Sprache“) geschrieben werden und stark an SQL erinnern. Und letztlich gipfelt die Technologie-Entwicklung im Roman wie im Heute in der Nutzung selbstlernender Neuronaler Netze.
Schreckensherrschaft
Mit Hilfe all dieser uns nur zu gut bekannten Technologien, Wahrheiten und Befürchtungen erschafft der Autor ein realistisches Horrorszenario von gläsernen Bürgern, berechnend agierenden Politikern, feigen Profiteuren oder unwissenden Mitläufern und einer riesigen Herde duldsamer Schafe. Von einer solchen Dystopie hat wohl jeder von uns schon einmal schlecht geträumt.
Nur dass Eschbach sie aus dem Jetzt in die Vergangenheit, in den geschichtlichen Rahmen einer der zweifellos grausamsten Diktaturen der Neuzeit verlegt.
Ein wahrlich bestechender literarischer Schachzug, das muss man anerkennen. Denn zum einen erzählt der Autor eine (fiktive) historische Alternative, die in ihrer Gnadenlosigkeit, Unausweichlichkeit und Brutalität erschütternd ist. Mich hat das Ende der Geschichte geradezu fassungslos zurückgelassen.
Lediglich der Schlusssatz des Romans hat mir dann doch noch ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Er liest sich, als hätte es der Autor letztlich nicht übers Herz gebracht, seine Leserschaft in tiefe Depression zu verabschieden.
Aber zum anderen legt es Andreas Eschbach unverblümt darauf an, dass seine Leser diese schreckliche Entwicklung zurück in die Zukunft, nämlich in unsere (überhaupt nicht fiktive) Aktualität übertragen. In Zeiten vollkommen unberechenbarer Despoten vom Schlage Erdogans, Kim Yong Uns, Putins, Trumps oder des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas unter Xi Jinping – in alfabetischer Reihenfolge – wirkt seine Erzählung wie ein Menetekel. Wehret den Anfängen! Oder ist es dafür womöglich bereits zu spät?
Wen schon nach der Lektüre von Aldous Huxleys Schöne neue Welt und George Orwells 1984 ein ungutes Gefühl plagte, der wird in NSA einen modernen, aber würdigen Nachfolger gesellschaftlicher Schreckensromane erkennen … und in dieser Geschichte all die Social-Media-Instrumente, die so viele von uns täglich unreflektiert verwenden.
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Findest Du das Thema Datenmissbrauch interessant? Vielleicht möchtest Du dann auch meine Buchbesprechung zu Der Delphi Code lesen? – Oder interessierst Du Dich für den Nationalsozialismus? Dann empfehle ich Dir meine Rezension zu Der Engel von München.
Fazit:
NSA – Nationales Sicherheits-Amt ist ein ausgezeichnet recherchierter und pointiert konstruierter Roman über einen Teil deutscher Geschichte, die wir besser nicht vergessen sollten. Und außerdem trägt die Geschichte ihre furchtbare Endzeitstimmung mühelos herüber ins beginnende 21. Jahrhundert. Na klar, es gibt schon ein paar technische Unschärfen oder Überspitzungen. Und an manchen Stellen ist auch die gesellschaftliche Entwicklung nicht hundertprozentig nachzuvollziehen. Aber das lasse ich als dichterische Freiheit durchgehen.
Den heftigen Verriss des Titels bei 54 Books habe ich übrigens durchaus zur Kenntnis genommen. Allerdings will und kann ich mich dem Urteil Simon Sahners nicht einmal ansatzweise anschließen. Denn meiner persönlichen Ansicht nach geht seine Kritik an Intention und Ausführung von NSA vorbei.
Mir ist Andreas Eschbachs Roman tatsächlich die vollen fünf Sterne wert.
Diese Buchbesprechung entstand im Rahmen eines Twitter-Projektes, nämlich des #DickeBücherCamp im Sommer 2020 als Rezension eines der drei von mir eingebrachten Werke. Die gebundene Ausgabe von NSA hat 796 Seiten.
Andreas Eschbach: NSA – Nationales Sicherheits-Amt,
Bastei Lübbe Verlag, 2018
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