Indigo

Clemens J. Setz, Indigo, 2012
Clemens J. Setz, 2012

Nach Buchpreisver­lei­hun­gen se­he ich mir ger­ne auch die Short­lists an mit den Auto­ren und Tex­ten, die es eben mal so nicht ge­schafft ha­ben. In die­sem Jahr sprang mir da­bei der Ro­man Indigo von Cle­mens Jo­hann Setz ins Auge. Zum einen fas­zi­nier­te mich sei­ne un­ge­wöhn­lich auf­wän­dige Auf­ma­chung, von der noch zu spre­chen sein wird. Zum an­de­ren rief der Ro­man­ti­tel Er­in­ne­run­gen an Zei­ten der Neun­zi­ger­jah­ren in mir wach, in de­nen ich mich be­geis­tert über den ab­ge­ho­be­nen Eso­te­rik-Hy­pe um die Kin­der mit der blau­en Aura, die so­ge­nann­ten In­di­go-Kin­der, amü­sier­te. Die­se Idee, ver­hal­tens­auf­fäl­li­ge Kinder als den „neu­en Men­schen­schlag“ zu fei­ern, wo­mög­lich so­gar als Außer­ir­di­sche, ließ mich vor Freu­de über den mensch­li­chen Er­fin­dungs­reich­tum ju­bi­lie­ren.

Sag­te ich schon, dass ich eine ge­hei­me Schwä­che für wis­sen­schaft­lich un­halt­ba­re, aber mit mis­sio­na­ri­schem Eifer vor­ge­tra­ge­ne Theo­rien ha­be? Über die wahn­wit­zi­gen State­ments der Krea­tio­nis­ten etwa ge­ra­te ich im­mer wie­der in Ver­zü­ckung. Es be­darf si­cher un­ge­heu­er viel En­thu­sias­mus‘ und Er­fin­dungs­reich­tums, um sol­chen Irr­sinn mit ech­ter Über­zeu­gung zu ver­tre­ten. Aber ich schwei­fe ab. – Cle­mens Setz, Trä­ger des Georg-Büch­ner-Prei­ses 2021 und Autor von Indigo, ist nach eige­nen An­ga­ben¹ fas­zi­niert von Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen. Doch er zieht deutlich Gren­zen in sei­ner per­sön­li­chen Rea­li­täts­vor­stel­lung.

Indigo – Über die Romangeschichte

Cle­mens Setz baut auf der Idee der Indigo-Kin­der auf. Bei ihm sind die „Din­gos“ aller­dings keine Über­men­schen son­dern ver­schro­bene Son­der­linge, die ihre Mit­men­schen kör­per­lich krank machen, sobald sich diese inner­halb der „Zone“ eines Din­go auf­hal­ten. Wer Indigo-Kin­dern zu nahe kommt, lei­det an migrä­near­ti­gen Kopf­schmer­zen und Übel­keit, Geschwü­ren, Erbre­chen und Durch­fall­erkran­kun­gen. All diese Symp­tome klin­gen jedoch schnell ab, sobald man sich aus der Din­go­zone ent­fernt.

Setz schreibt seine Ge­schich­te aus ver­schie­de­nen Erzähl­war­ten, ein­mal aus der Sicht des „aus­gebrann­ten“ Din­gos Robert Tät­zel und zum ande­ren aus sei­ner eige­nen Warte. Hier durch­bricht der Autor die übli­che Per­spek­tive, indem er die Rolle des Schrift­stel­lers auf­löst und plötz­lich selbst als Roman­fi­gur Cle­mens Setz in der Rolle eines Haupt­dar­stel­lers auf­tritt, dem Mathe­matik­leh­rer an einer Indigo-Schule.

Der Roman wirkt aus meh­re­ren Grün­den äußerst ver­stö­rend. Zum einen erhält die offen­bar fik­tive Ge­schich­te durch den Auf­tritt Setz‘ den Anstrich einer Tat­sachen­be­schrei­bung, einer Art Tage­buch­doku­men­ta­tion eines über­for­der­ten, zum Schei­tern ver­urteil­ten Zeit­zeu­gen. Der Cle­mens Setz im Roman ver­sucht ohne Erfolg, die Hin­ter­gründe zum Umgang mit Indigo-Kin­dern zu ver­ste­hen, und ver­fällt schließ­lich dem Wahn­sinn.

Das Geheimnis der Indigo-Kinder

Das glei­che Schick­sal droht übri­gens auch der Leser­schaft, wenn sie zu unge­dul­dig ver­sucht, dem Geheim­nis die­ser Kin­der auf die Spur zu kom­men. Woher kom­men sie? Warum behan­delt alle Welt Din­gos wie toxi­schen Son­der­müll? Eine der weni­ger schmei­chel­haf­ten Bezeich­nun­gen für einen Dingo lau­tet „sep­ti­sche Sau“.

Und was pas­siert mit ihnen, wenn sie erwach­sen wer­den? Alle Fra­gen, die der Mathe­matik­leh­rer Setz sozu­sa­gen im Namen der Leser stellt, wer­den aus­wei­chend beant­wor­tet: „Sie wissen doch, wie das ist …“, lau­ten die Ant­wor­ten übli­cher­weise. Oder: „Haben Sie das denn noch nicht ver­stan­den?“

Noch nie zuvor habe ich in einem Roman so viele unver­mit­telt abge­bro­chene Dia­log­sätze vor­gefun­den. Beim Lesen ver­zwei­felt man schier an der Geheim­nis­krä­me­rei der Eltern, Erzie­her und Nach­barn der Din­gos. Die Dia­loge sind geprägt von einer unaus­gespro­che­nen Kom­pli­zen­schaft, von unver­ständ­li­chem und völ­lig unbe­grün­de­tem Ver­trauen unter den Betrof­fe­nen und von Aus­weich­manö­vern in allen ent­schei­den­den Situa­tio­nen.

Voll­ständig bizarr wird der Plot, als Setz zuletzt auf der Suche nach dem Ver­bleib der Indigo-Kin­der, die irgend­wann „relo­ziert“ wur­den – was auch immer mit die­sem Begriff gemeint sein soll –, in Brüs­sel einen gewis­sen Ferenc auf­sucht. Dieser scheint hin­ter dem Ver­schwin­den von Din­gos zu ste­cken. In sei­nen Auf­zeich­nun­gen schreibt der Autor/­Pro­tago­nist davon, wie ihn die­ser Ferenc in absurde Sze­ne­rien Hie­ron­ymus Bosch’scher Dimen­sio­nen stürzt. Es tun sich Abgründe auf, die jedoch eben­sowe­nig auf­ge­klärt wer­den, wie die Gescheh­nisse zuvor. Der Leser beglei­tet Setz durch einen immer uner­träg­liche­ren Alb­traum. Die Lek­türe des Buches ist an die­sem Punkt kaum mehr durch­zuhal­ten.

Als Kon­tra­punkt zum Hor­ror­trip des Cle­mens Setz tritt immer wie­der der ehe­ma­lige Indigo Robert Tät­zel auf. Tät­zels Schre­ckens­wir­kung auf seine Umge­bung ist offen­bar ver­flo­gen, er ist „aus­ge­brannt“, wie es heißt. Er führt ein schein­bar nor­men­kon­for­mes Leben mit Freun­din und Bekann­ten, doch der Schein der Ober­flä­che trügt. Der junge Mann, ein ehe­mali­ger Schü­ler von Cle­mens Setz, ist hoch­gra­dig para­noid, kann seine Emo­tio­nen nur durch Psy­cho­phar­maka und aggres­sive Ersatz­hand­lun­gen in den Griff bekom­men. Er lebt offen­bar in einer Paral­lel­welt; immer wie­der ist von beob­ach­ten­den Augen, den soge­nann­ten „iBalls“ die Rede, die Robert aller­or­ten zu sich­ten glaubt und die bei mir sofort Asso­zia­tio­nen zu George Orwell wach rie­fen.

Indigo – Wirkung der Geschichte

Weder die Aus­züge aus Roberts Leben noch Rück­blen­den in die gemein­same Ver­gan­gen­heit Tät­zels und Setz‘ am Helia­nau-Insti­tut, einer Art Son­der­schule für Indigo-Kin­der, ver­mö­gen Erleuch­tung in die beklem­mende Erzäh­lung zu brin­gen. Und auch die immer wie­der vom Autor einge­streu­ten (nicht beleg­ten) Lite­ratur­zi­tate, die die Exis­tenz von Indigo-Kin­dern in frü­he­ren Zei­ten bestä­ti­gen sol­len oder könn­ten, schaf­fen bes­ten­falls den Ein­druck von Authen­tizi­tät jedoch kei­nes­falls Erklä­run­gen.

Der Roman hin­ter­lässt mehr Fra­gen als Ant­wor­ten. Bei mir pro­vo­zierte er unge­ord­nete, dif­fuse, aber durch­wegs ungute Gedan­ken an die Dis­kus­sio­nen um ADHS, an die Oden­wald­schule und womög­lich gar an bestimmte Vor­ur­teile gegen­über dem Wal­dorf­schul­sys­tem. Indigo hat mich ziem­lich hilf­los in die Wirk­lich­keit zurück­ent­las­sen, aller­dings mit dem untrüg­li­chen Wunsch, mich noch ein­mal mit der Lek­türe zu befas­sen. Und ich bin sicher, dass ein zwei­ter Durch­gang ganz andere Emp­fin­dun­gen in mir wach­ru­fen wird.

Über die Gestaltung

Auf einen Schutz­um­schlag ver­zich­tet der Ver­lag. Der Buch­ein­band besteht aus einem melier­ten, grauen Hin­ter­grund, der in sei­ner Struk­tur und Farbe an Filz erin­nert. In har­tem Kon­trast zu die­sem Hin­ter­grund steht die weiße, seri­fen­lose Prä­ge­schrift, mit der Titel, Autor und Ver­lag auf die Vor­der­seite sowie drei knappe Kri­ti­ken auf die Rück­seite gestem­pelt sind. Der kla­ren, schnör­kel­losen Schrift­gestal­tung steht eine Hoch­glanz­foto­gra­fie zur Seite, die eine rät­sel­hafte Sze­ne­rie zeigt; einen farb­lo­sen Män­ner­torso, der von bun­ten Schmet­ter­lin­gen umflat­tert und beklet­tert wird, die offen­bar aus einer strah­len­den Licht­quelle auf ihn herab­se­geln. – Das Buch kann man end­los anse­hen und zwi­schen den Hän­den dre­hen und wen­den.

Dem Roman­text gibt der Autor eine zusätz­li­che Dimen­sion mit auf den Weg, die E-Book-Rea­der nicht ohne Wei­te­res abbil­den kön­nen. Setz wählt näm­lich abhän­gig von der Erzähl­situa­tion unter­schied­liche Schrift­lay­outs. Der Roman beginnt mit einem Inhalts­ver­zeich­nis (Kapi­tel­über­sicht), die in Hand­schrift abge­druckt ist. Es folgt ein Brief an den Pro­tago­nis­ten, der in Schreib­maschi­nen­schrift gesetzt ist. Danach ent­wickelt sich die Hand­lung in einer han­dels­übli­chen Seri­fen­schrift, die im Gro­ßen und Gan­zen wohl über neun­zig Pro­zent des Buches aus­macht. Auf Seite 80 des Werks stößt der Leser jedoch plötz­lich auf einen zwei­sei­tigen Ein­schub aus einem his­tori­schen Text, der in Frak­tur­schrift gesetz ist:

[…] Das Kind­lein wurde in der Folge das Kome­ten-Kind genannt und wuchs bei für­sorg­li­chen Non­nen in einem geson­der­ten Bezirk auf. Merke: Es ist ein Glück, daß man in man­chen Fäl­len nicht zuerst nach dem Pries­ter, son­dern nach dem Arzte schi­cken lässt. So ist die Stadt Bonn­dorf im Jahre des Kome­ten 1811 vor einer Ankunft des Leib­haf­ti­gen bewahrt wor­den. […]

Ein­mal abge­se­hen davon, dass ein Groß­teil der Leser­schaft weder mit der unle­ser­li­chen Hand­schrift des Inhalts­ver­zeich­nis­ses noch mit Frak­tur­schrift zurecht kom­men wird, muss man wohl ein­räu­men, dass sol­che Gestal­tungs­merk­male äußerst anspre­chend wir­ken. Ich wun­dere mich, dass Buch­ver­lage diese ein­zig­ar­tige Chance, ihre Papier­pro­dukte von elek­tro­ni­schen E-Book-Vari­an­ten abzu­set­zen, nicht häu­fi­ger nut­zen. Ich könnte mir sehr gut vor­stel­len, dass sich dadurch noch ganz andere Käu­fer­schich­ten anspre­chen lie­ßen. Ob der Suhr­kamp Ver­lag mit Indigo eine Vor­rei­ter­rolle in diese Rich­tung über­nimmt?

~

Fazit:

Damit lange ich bei der Wer­tung des Romans an. Ich ver­gebe bei jeder Buch­bespre­chung Stern­chen. Null bis fünf an der Zahl. Der Roman von Cle­mens Setz bringt mich an die Gren­zen mei­nes Wer­tungs­sys­tems: Habe ich Indigo mit Ver­gnü­gen gele­sen? Kei­nes­falls. – Habe ich aus der Lek­türe etwas Posi­ti­ves mit­genom­men? Nein. – Hat mich der Roman denn wenigs­tens beein­druckt? Sogar immens!

Des­halb bleibt mir nach mei­nen eige­nen Maß­stä­ben nichts ande­res übrig, als für Indigo vier von fünf mög­li­chen Ster­nen zu ver­ge­ben. Betrach­tet das als Emp­feh­lung. Lest das Buch! Unbe­dingt. Und bil­det Euch Euer eige­nes Urteil, das ziem­lich sicher von mei­nem mei­len­weit ent­fernt lie­gen wird.

Clemens J. Setz: Indigo
Suhrkamp Verlag, 2012

* * * * *

Kaufempfehlungen
Thalia ist als Onlineshop ausgewählt
Gebundenes Buch Taschenbuch E-Book Hörbuch

Wenn Du über diese Links bestellst, erhalte ich eine kleine Provision auf Deinen Einkauf (mehr darüber)

Fußnote:

¹ — ZEITonline Interview (Luise Glum), „Und alle anderen sind dumme Schafe“, 2022

Cookie-Hinweis