Die Sandelholzstrafe

Mo Yan, Die Sandelholzstrafe, 2009
Mo Yan, 2009

Im Jahr 2001 er­schien das Ori­gi­nal des Ro­mans Die Sandelholzstrafe von Mo Yan. Der chi­ne­si­sche Schrift­stel­ler wur­de elf Jah­re spä­ter mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­net. Mit No­bel­preis­trä­gern ist das ja im­mer so eine Sa­che. Es gibt fast im­mer Kom­men­ta­re, nach de­nen der eine oder an­dere Preis­trä­ger nicht wür­dig sei; weil sie oder er in Wirk­lich­keit nichts da­für ge­tan hät­te, das die Ver­lei­hung recht­fer­ti­gen kön­ne; weil sie den Preis nur als Quo­ten­frau be­kom­men ha­be; weil er ihn oh­ne­hin nur stell­ver­tre­tend für die­se oder je­ne ge­sell­schaft­li­che Grup­pe er­hal­ten ha­be; oder weil ja eigent­lich end­lich der Kol­le­ge N.N. dran ge­we­sen sei, das gä­be es doch nicht, dass der noch im­mer nicht …

Das gilt ins­be­son­dere für die po­pu­lärs­ten Preis­ka­te­go­rien, zu de­nen ge­fühlt je­der der sie­ben Mil­li­ar­den Men­schen auf un­se­rem Pla­ne­ten mit­re­den zu kön­nen meint. Al­so ins­be­son­de­re für den Frie­dens­no­bel­preis und für den Li­te­ra­tur­no­bel­preis. Der­lei Dis­kus­sio­nen er­hei­tern mich meist sehr, ich le­se sie ger­ne, all die­se Ti­ra­den und Ana­ly­sen, das Ge­strei­te, die Em­pö­rung. Aber letzt­lich in­te­res­siert mich das gan­ze Ge­zer­re un­ge­fähr so sehr, als ob in Chi­na ein Reis­sack um­fie­le.

Und mit die­sem Reis­sack sind wir auch schon beim aktu­el­len Fall ange­kom­men. Der Lite­ratur­nobel­preis wurde also 2012 dem chi­nesi­schen Schrift­stel­ler Mo Yan ver­lie­hen. Das Geschrei war sogleich groß. Quer durch die Bank fan­den sich pro­mi­nente Kri­ti­ker, die Mo Yan vor­wer­fen, er habe sich mit dem dik­tato­ri­schen chi­nesi­schen Regime arran­giert. – Ich erlaube mir den Luxus, zur Debatte keine Mei­nung haben zu dür­fen und statt des­sen einen Roman von Mo Yan zu lesen: Die Sandelholzstrafe.

Die Sandelholzstrafe – Über die Romangeschichte

Für die­ses Buch habe ich mich ent­schie­den, nach­dem ich beim Buch­händler mei­nes Ver­trau­ens in den Vor- und Nach­wor­ten ver­schie­de­ner Werke des Schrift­stel­lers geschmö­kert hatte. Im Nach­wort zur Sandelholzstrafe, das man übri­gens durch­aus vor der Lek­türe der Ge­schich­te lesen sollte, schreibt Mo Yan:

Diese Erzähl­form lehnt sich stark an volks­tüm­li­che Roman­zen an und bedient sich daher einer Spra­che, die von über­lie­fer­ten popu­lä­ren Rede­wei­sen und Gesän­gen geprägt ist.
[…] sowenig ist zu erwar­ten, daß mein Roman den Gefal­len von Lieb­ha­bern west­li­cher Lite­ra­tur, ins­beson­dere sol­chen mit hoch­intel­lek­tuel­lem Anspruch, fin­det.

Handlung

Dann wol­len wir mal sehen, ob wir nicht doch Gefal­len an dem Roman fin­den kön­nen. Die Ge­schich­te ist im Grund­satz ein­fach gestrickt. Sie han­delt im China der euro­päi­schen Kolo­nial­zeit zum Wech­sel des neun­zehn­ten zum zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert, als deut­sche Inge­nieure und Sol­da­ten den Eisen­bahn­bau vor­an­trei­ben.

Die Pro­tago­nis­tin und Dorf­schön­heit Sun Mei­niang ist mit dem geis­tig min­der­be­mit­tel­ten Hunde- und Schwei­ne­met­zger Xia­jiao ver­hei­ra­tet. Sie tritt aber gleich­zei­tig offen als Geliebte des Kreis­prä­fek­ten Qian Ding auf. Der schö­nen Mei­niangs Vater, Sun Bing, war zunächst Haupt­dar­stel­ler einer Schau­spie­ler­truppe, die die belieb­ten Kat­zen­opern auf­führte. Als rebel­li­scher Geist, der er ist, wen­det sich Sun Bing jedoch dem Wider­stand gegen den Eisen­bahn­bau zu, nach­dem seine Frau von deut­schen Kolo­nia­lis­ten beläs­tigt wurde.

Darauf­hin sieht sich, auf Wei­sung des mäch­ti­gen Gene­rals Yuan Shi­kai, der Prä­fekt gezwun­gen, den Vater sei­ner eige­nen Gelieb­ten fest­zuset­zen und ihm den Pro­zess machen zu las­sen. Doch es kommt noch schlim­mer: Aus­gerech­net der Vater des Schwei­ne­metz­gers und Schwie­ger­soh­nes des Ver­urteil­ten, einst Henker am Kai­ser­hof, Zhao Jia, soll zur Abschre­ckung die grau­same San­del­holz­strafe an Sun Bing voll­stre­cken. Die Situa­tion eska­liert.

Erfolgsfaktoren

Der Autor Mo Yan erzählt diese Ge­schich­te aus wech­seln­den Per­spek­ti­ven aller Betei­lig­ter. Dabei bedient er sich eben die­ser „Sprache, die von über­lie­fer­ten popu­lä­ren Rede­wei­sen und Gesän­gen geprägt ist“. Es ent­wi­ckelt sich eine far­ben­frohe, für euro­päi­sche Ohren unge­wohnte Erzäh­lung, der man mit Neu­gier und Freu­den folgt und sich dabei an der beson­de­ren chi­nesi­schen Erzähl­weise ergötzt.

Natür­lich bringt es die Ge­schich­te mit sich, dass auch der Hen­ker Details aus sei­ner Pro­fes­sion zum Bes­ten gibt. Die Pro­fes­sion des Hen­kers ist in unse­rer euro­päi­schen Vor­stel­lung mit Äxten oder Fall­bei­len ver­bun­den: kurz und zack. Im his­tori­schen China han­delte es sich jedoch um mehr­tä­gige oder -wöchige Zere­mo­nien, bei denen die Todes­kan­di­da­ten mög­lichst lange am Leben gehal­ten wur­den, damit sie in den vol­len Genuss eines wahr­haft qual­vol­len Todes kom­men konn­ten. Da schluckt man schon mal, wenn aus­führ­lich von Hin­rich­tun­gen die Rede ist, bei denen aus dem Ver­urteil­ten nach und nach mit hohem Zeit­auf­wand ein paar hun­dert Stück­chen des Kör­pers her­aus­geschnit­ten wer­den, bevor der arme Kerl end­lich zu Tode kom­men durfte. Was gar mit der San­del­holz­stra­fe ver­bun­den war, mag ich hier auf kei­nen Fall schil­dern. Grau­sig ist das wohl, also nichts für zarte Gemü­ter.

Aber ande­rer­seits rei­hen sich sol­che Sequen­zen naht­los in die All­tags­ge­schich­ten der chi­nesi­schen Dorf­bewoh­ner und kai­ser­li­chen Beam­ten ein, so dass der Leser nicht das Gefühl hat, sich aus­schließ­lich mit sadis­ti­schen Gewalt­fan­ta­sien chi­nesi­scher Poten­ta­ten befas­sen zu müs­sen.

Die Sandelholzstrafe – Bewertung

Fol­gerich­tig wider­spre­che ich Herrn Mos Ver­mu­tung, Fans west­li­cher Lite­ra­tur wür­den an der Sandelholzstrafe kei­nen Gefal­len fin­den. (Also am Roman, nicht an der Strafe selbst.) Es wäre umge­kehrt durch­aus frag­lich, ob mich eine Erzäh­lung über die – sagen wir mal – baye­ri­sche Land­bevöl­ke­rung im aus­gehen­den neun­zehn­ten Jahr­hun­dert hin­ter dem Ofen her­vor­ge­lockt hätte. Diese chi­nesi­sche Ge­schich­te war für mich jedoch inhalt­lich und sti­lis­tisch voll­kom­men neu und hat mir aus­neh­mend gut gefal­len.

Viel­leicht lag es ja auch an der Ver­wen­dung der alten Recht­schrei­bung („daß“, „helleuch­tend“), die der Sandelholzstrafe in deut­scher Über­set­zung zusätz­li­che Authen­tizi­tät ver­lie­hen hat; obwohl ich ver­mute, dass dies nicht in der Absicht von Ver­lag (Insel) und Lek­to­rat lag. Viel­leicht müsste man dazu ein­mal die Über­set­ze­rin, Karin Betz, befra­gen.

Ja, ich finde, das hat Meis­ter Mo wirk­lich prima ange­legt. Auf der einen Seite ste­hen die fünf Pro­tago­nis­ten (die Fami­lie um Mei­niang und ihr Gelieb­ter) mit ihren ganz per­sön­li­chen Ärger­nis­sen, Wün­schen und Plä­nen; und auf der ande­ren die herz­lose Welt mit ihren Macht­spie­len und Intri­gen, die wahr­schein­lich vor über hun­dert Jah­ren bereits min­des­tens so grau­sam emp­fun­den wurde wie heute. Trotz der auf­gesetz­ten Hei­ter­keit ist es eine trau­rige Ge­schich­te, die der Nobel­preis­trä­ger uns auf­tischt.

Und was den „hoch­intel­lek­tuel­len Anspruch“ angeht – das möchte ich zum Schluss meiner Bespre­chung noch sagen – betreibt Mo Yan eben­falls Under­state­ment. Allein schon die Anlage der Erzäh­lung als rekur­sive Struk­tur, treibt einem Fan von Gödel, Escher, Bach die Trä­nen ins Leser­auge: In der Rede­weise der Kat­zen­oper geschrie­ben ent­hält der Text immer wie­der­keh­rende Hin­weise auf eine exis­tie­rende Kat­zen­oper mit dem Titel „Die Sandelholzstrafe“, die ihrer­seits offen­bar die Ge­schich­te des Romans zum Inhalt hat.

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Fazit:

Es muss gesagt wer­den, Die Sandelholzstrafe ist keine ein­fa­che Lek­türe. Sti­lis­tisch unge­wohnt und inhalt­lich zum Teil bru­tal und schockie­rend könnte der Roman den einen oder die andere Lese­r¦in über­for­dern. Man benö­tigt Durch­hal­tever­mö­gen und ein sta­bi­les Ner­ven­kos­tüm. Aber dann lohnt sich die Lek­türe unbe­dingt. Bis dahin hatte ich noch kei­nen der­arti­gen Ein­blick in eine mir fremde Kul­tur erhal­ten.

Bei aller öffent­li­cher Kri­tik, auf die ich am Anfang die­ses Bei­tra­ges ein­gegan­gen bin, muss ich drin­gend ein paar Lan­zen für Mo Yan bre­chen und ver­gebe für die Sandelholzstrafe hier­mit vier von fünf mög­li­chen Ster­nen. Mit deut­li­cher Ten­denz zu den vol­len fünfen.

Mo Yan: Die Sandelholzstrafe
Insel Verlag, 2009

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