Greasy Lake

T. C. Boyle, Greasy Lake und andere Geschichten, 1993
T. C. Boyle, 1993

Greasy Lake und andere Kurzgeschichten lautet der Titel des zweiten Erzählbandes des US-Schrift­stel­lers T. C. Boyle. Das englische Original wurde 1985 mit fünfzehn Geschichten veröffentlicht; zwischen den beiden Romanen Grün ist die Hoffnung und World’s End. Die erste deutsche Übersetzung erschien acht Jahre nach dem amerikanischen Original im Deutschen Taschenbuchverlag. Drei Jahrzehnte danach hat der Carl Hanser Verlag – mittlerweile und seit vielen Jahren Boyles deutscher Stammverlag – die letzte Neuauflage von Greasy Lake mit dem hier abgebildeten nüchternen Buchcover und nur vierzehn Erzählungen herausgebracht. The Hector Quesadilla Story über einen alternden Baseballspieler hat es nicht in diese Ausgabe geschafft.

Im Vergleich zu den späteren Erzählbänden Boyles fällt der wilde Stilmix der Erzählungen auf. Von Jugendsünden der Sechzigerjahre, über mehrere biografische, oder besser gesagt pseudobiografische Geschichten, eine Parodie auf Krimis à la Agatha Christie, verschiedene Beziehungsdramen, zwei Erzählungen über den damaligen US-Angst­geg­ner UdSSR, bis zu einem metaphorisch verschlüsselten, rätselhaften Text über das sexuelle Erwachen eines Teenagers ist alles dabei. Man hat das Gefühl, der Autor befand sich in einer Phase des Experimentierens. In späteren Jahrzehnten fand Boyle einige zentrale Lieblingsthemen, auf die er sich dann häufiger konzentrierte.

Greasy Lake – Worum es geht

Na klar, im Zentrum beinahe aller Kurzgeschichten stehen Menschen, denen T. C. Boyle geradezu magisch verbunden zu sein scheint: Es sind die Verlierertypen, die seltsamen Freaks, die meistens an ihren eigenen Fehler scheitern. Oder aber wegen ihrer Schwächen, die von anderen gnadenlos ausgenutzt werden. Homo homini lupus. – Ein alter Mann, der aus Angst vor Vereinsamung eine verhängnisvolle Verbindung eingeht; ein von sich selbst felsenfest überzeugtes, jedoch leider völlig talentfreies Elvis-Double; verschiedene Kerle, die die Karre in den Dreck fahren, weil sie ihren Verstand abschalten und hormongesteuert dem Diktat ihrer Weichteile folgen; ein linientreuer Sowjetbeamter, der sich als Einziger weit und breit an die Regeln des Politbüros hält, aber gerade deshalb bestraft wird.

Vierzehn Geschichten, die vor allen Dingen eines schaffen: Sie unterhalten die Leserschaft blendend. So wie Boyle es in einem Interview im Jahr 2003 🇬🇧 selbst formulierte: „Literatur kann in jeder Hinsicht großartig sein, aber sie ist nur Unterhaltung wie Rock’n’Roll oder ein Film.“

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1. — Greasy Lake

Gleich mit seiner ersten, titelgebenden Kurzgeschichte landet Boyle einen heftigen Treffer. Sie handelt von den „bösen Jungs“ der Sechziger- oder Siebzigerjahre, die in einer amerikanischen Kleinstadt mit Alkohol und anderen Rauschmitteln die Zeit totschlagen. Wenn sie im Städchen keinen Zeitvertreib mehr finden, fahren sie raus zum Greasy Lake, einem verschmutzen, trüben See, dem allerletzten Treffpunkt all derer, die noch immer nicht nach Hause wollen. Eines Nachts landen Digby, Jeff und der Erzähler wieder einmal am Seeufer, wo die drei eine verlassene Harley und einen Chevy vorfinden. Nach einem Dummejungenstreich kommt es zum handgreiflichen Streit mit dem Kerl im Chevrolet. Die Sitation eskaliert komplett, eines der Autos wird schließlich mit Eisenstange, Ästen und Steinen völlig zertrümmert. Und der Erzähler hat eine höchst unangenehme Begegnung mit dem Besitzer der Harley – im Uferschlamm des Greasy Lake.

Eine Geschichte wie ein Albtraum, die genau dann abbricht, wenn sich die Leserschaft auszumalen beginnt, was da überhaupt passiert war und was danach wohl passieren würde. Passieren musste! Fünfzehn Textseiten, die eigentlich der Beginn eines Romans über ein paar gelangweilte Jugendliche sein könnte, die aus Leichtsinn in einen Schrecken ohne Ende hineintaumeln. Eine meisterlich angelegte Skizze des virtuosen US-Lite­ra­ten.

Inspiriert zu dieser Erzählung wurde Boyle übrigens durch einen Song von Bruce Springsteen aus dessen Debutalbum Greetings from Asbury Park, N. J. aus dem Jahr 1973 mit dem Titel Spirit in the Night ♫. Der Text des Musikstücks handelt von einer Gruppe Teenager, die zu einem Treffpunkt namens Greasy Lake nahe der Route 88 aufbrechen, um eine Nacht lang Freiheit, Sex und Alkohol zu genießen. Greasy Lake ist wohl ein fiktiver Ort. Der ehemalige Schlagzeuger der E Street Band, Vini Lopez, erwähnte einmal, dass es sich um eine Mischung aus zwei Orten handelte, die Bandmitglieder früher besucht hätten.

★★★★

Greasy Lake: 2. — Kaviar

Weiter geht es mit einer Beziehungskiste, einer Drei- oder besser gesagt Vierecksgeschichte über vierundzwanzig Buchseiten hinweg. Nat und Marie Trimpie stehen am unteren Ende der Sozialleiter. Er hat die Nachfolge seines Vaters als Berufsfischer am Hudson River angetreten, sie ist Halbtagssekretärin bei Reader’s Digest. Geld ist bei den Trimpies knapp. Trotzdem wollen die beiden eine Familie gründen. Doch alle Versuche, Marie zu schwängern, schlagen fehl. Auch Quacksalbereien mit koptischen Zauberinnen, Kröten und Fruchtbarkeitstänzen bringen nicht das gewünschte Ergebnis. Zuletzt vertrauen sich die Trimpies einem jungen Arzt an, der sie überzeugt, es mit künstlicher Befruchtung und einer Leihmutter zu versuchen.

Die junge Medizinstudentin Wendy wird tatsächlich mit Nats Sperma schwanger. Doch dann geht das Arrangement schief. Zwar kommt Wendy wie geplant mit Nat junior nieder. Aber zwischen der Leihmutter und dem Vater ist natürlich längst das geschehen, was die Leserschaft von Anfang an befürchtet hat. Als Nat schließlich versucht, Nägel mit Köpfen zu machen, und Wendy vorschlägt, mit ihm durchzubrennen, wird er zurückgewiesen. Es nützt auch nichts, dass der Fischer ohne Schulabschluss seinen promovierten Rivalen verprügelt.

Am Ende des Liedes hat sich Nat Trimpie eine Klage wegen Körperverletzung und den Rauswurf durch seine Frau Marie eingehandelt. Aber dabei belässt es der Autor nicht. Denn der enttäuschte Nat fängt an diesem Tag einen prächtigen Stör. Ein trächtiges Weibchen, wie sich herausstellt, das Kaviar im Wert von zigtausend Dollar im Leib trägt. – Eines von Boyles Lieblingsthemen: Die Natur schafft es immer, den eigenen Fortbestand zu sichern. Während der Mensch hier so wie immer an eigener Ohnmacht und Dummheit scheitert.

★★★★★

Greasy Lake: 3. — Ike und Nina

Habe ich die vorausgegangene Geschichte eine „Beziehungskiste“ genannt? Nun, hier folgt jedenfalls die Mutter aller Beziehungskisten! Eine fiktive Affaire, die auf dem plötzlichen Ende der keimenden Entspannungspolitik zwischen der UdSSR und den USA im Jahr 1960 basiert. (Dwight D. „Ike“ Eisenhower und Nikita Chruschtschow waren Ende der Fünfzigerjahre drauf und dran, eine Berlinlösung auszuhandeln. Doch der Abschuss eines US-Spio­na­ge­flug­zeugs über sowjetischem Gebiet sorgte für eine Zuspitzung der politischen Lage.)

Bei Boyle allerdings scheiterten die Entspannungsgespräche im Kalten Krieg nicht etwa an einem militärischen Zwischenfall, sondern an den Hörnern, die Eisenhower Chruschtschow aufgesetzt haben soll. Die Geschichte ist der sechzehnseitige Bericht eines fiktiven Assistenten Ike Eisenhowers, der erzählt, wie er mehrere Tête-à-têtes zwischen dem US-Prä­si­den­ten und der russischen First Lady Nina Chruschtschowa einfädelte, die jedoch leider nicht unbeobachtet blieben.

Hier haben wir eine der ersten pseudobiografischen Historien T. C. Boyles vorliegen, die mir so viel Spaß machen, dass ich ihnen hier eine eigene Seite eingerichtet habe – Biografien, die sich wohl kaum so zugetragen haben. Die aber zumindest trotzdem passiert sein könnten.

★★★★

4. — Rupert Beersley und der Bettlerkönig von Sivani-Hoota

Auf sechundzwanzig Buchseiten präsentiert uns der Autor in seiner vierten Kurzgeschichte eine Parodie auf die Hercule-Poirot-Erzählungen Agatha Christies oder auf Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes. Bei T. C. Boyle heißt der Meisterdetektiv Rupert Beersley, seines Zeichens britischer Veteran des ehrwürdigen Indienkorps. Erzählt wird die Posse aus der Sicht von Beersleys Sidekick, dem ehemaligen Oberfeldwebel Plantagenet „Planty“ Randolph.

Am abgelegenen und etwas heruntergekommenen Hof des Nawabs von Sivani-Hoota verschwinden beinahe Nacht für Nacht Kinder aus der 25-köpfigen Nachwuchsschar des indischen Fürsten. „Das war eindeutig ein Fall für Rupert Beersley.“ Doch der brillante Ermittler erweist sich als opiumsüchtiger, verwirrter Geist. Seine Nachforschungen verlaufen erratisch und die berühmte Enthüllungsszene aller Holmes- oder Poirot-Geschichten mündet hier in eine peinliche Katastrophe.

Tatsächlich war ich überrascht davon, an welch unterschiedlichen Genres Boyle in diesen Schaffensjahren sein Schreibtalent schärfte. Eine wahrlich amüsante und unterhaltsame literarische Übung, „alter Knabe“!

★★★

5. — Zu allem bereit

Vor dem Hintergrund apokalyptischer Zukunftsszenarien bereiten sich immer mehr Menschen insbesondere der westlichen Welt auf das Eintreten von Situationen vor, in denen sie ganz auf sich alleine gestellt sind. Die Frage: Wie können wir überleben, wenn Kriege, Bürgerkriege, wirtschaftliche Kollapse, Blackouts oder Klimakatastrophen eintreten? – Die sogenannte Prepper-Szene entstand in den 1970er Jahren zunächst in den USA. In seiner fünften Kurzgeschichte erzählt der Autor auf knapp dreißig Seiten die Geschichte von Bayard Wemp und seiner Familie, die ihre Wurzeln in der Gesellschaft (Wohnort, gut bezahlten Beruf, Schulen, Freunde) aufgeben, um sich in die vermeintliche Sicherheit eines Selbstversorgerdaseins in der Einsamkeit Montanas zu begeben. Allzeit bereit!

Ein gerissener Immobilienhändler hat Bayard beschwätzt und schließlich ein Grundstück mit Blockhaus, Schutzbunker und einer Riesenmenge Überlebensausrüstung gegen eine noch riesigere Menge Geld verkauft. Dass allerdings dieser ganze Prepper-Klimbim nutzlos ist, merkt Bayard erst, nachdem er die Bekannschaft seines neuen Nachbarn gemacht hat, eines streitlustigen Psychopathen mit sehr, sehr kurzer Lunte. Bedrohung geht nämlich tatsächlich nicht vom bevorstehenden Weltuntergang aus, sondern von einzelnen Menschen.

★★★

6. — Wale weinen

In Anlehnung an das D. H.-Law­rence-Ge­dicht Wale weinen nicht präsentiert uns Boyle eine bruchstückhafte Erzählung über die größten Säugetiere unseres Planeten. Es geht um den kommerziellen Walfang Japans und Russlands, um die Erinnerungen eines alten Mannes, der zu seiner Zeit noch als Walharpunier gearbeitet hatte, und um einen Besuch bei einem wissenschaftlichen Beobachtungsprojekt von Walpopulationen vor Südamerika. Hinter all diesen Bruchstücken stehen die gewaltige Natur der Meeresbewohner, ihre Schönheit und ihr Sanftmut, aber auch die ungeheure Kraft, die den seit 50 Millionen Jahren in den Ozeanen lebenden Riesen gegeben ist. Ein wortgewaltiges Naturerlebnis!

Bei allem Eindruck, den die einzelnen Textepisoden auf mich gemacht haben, bin ich doch nicht so recht warm geworden mit der Geschichte. Die Erzählfigur Rodger, ein Berufsfotograf, schliddert für meinen Geschmack allzu beliebig durch die aneinandergereihten Szenen. Sein Beitrag zur neunzehnseitigen Gesamterzählung bleibt überschaubar; um nicht zu sagen: die Rahmenhandlung ist schwach.

★★

Greasy Lake: 7. — Die Neumond-Partei

Bevor wir uns in die siebte Geschichte des Bandes stürzen, möchte ich noch einmal daran erinnern, dass auch diese Erzählung Anfang der Achtzigerjahre entstanden ist, also vor über vierzig Jahren aus heutiger Sicht. – Erzähler und Hauptfigur der Geschichte ist George L. Thorkelsson, ein US-Poli­ti­ker in seinen Sechzigern, Kongressabgeordneter, Senator und schließlich Gouverneur von Iowa. Der Mann schafft es mit einer vollkommen aberwitzigen, größenwahnsinnigen Idee bis zum Präsidenten der USA: Er gründet die Neu­mond-Par­tei, die einen zweiten, viel besseren Mond in die Erdumlaufbahn schießen will.

„Das amerikanische Volk schlief. Die Leute waren tot. Das großartige, großzügige, aufrichtige, energische und rechtschaffene amerikanische Volk hatte den Löffel abgegeben. […] Kurz gesagt scherte sich niemand auch nur einen Dreck um irgend etwas. […] So kam ich auf die Idee, die das Land und sogar die ganze Welt im Sturm erobern sollte. […] Wie konnten wir auf unseren Globus stolz sein, wenn wir nichts als einen vernarbten, pickeligen Klops hatten, der unseren Nachthimmel verschandelte? Wir brauchten einen neuen Mond.“
(Seite 140 f.)

Um sein politisches Versprechen umzusetzen, umgibt sich Thorkelsson mit fragwürdigen Beratern, etwa einer ungarischen Hellseherin, der er in der Küche einer Pizzeria begegnet war. Andererseits schasst er alle Ratgeber, die an seinem MAGA- … äh, ich wollte natürlich sagen: an seinem Megaprojekt zweifeln. Tatsächlich scheint das Wunder zu gelingen. Die amerikanische Wirtschaft erreicht einen Höhenflug wie nie zuvor. Im All wächst ein monströser Kunstmond heran. Kann das alles gut enden? Das verrate ich an dieser Stelle natürlich nicht.

Parallelen zur Aktualität

Unbedingt möchte ich auf die Erkenntnis hinweisen, dass Elon Musk in Wirklichkeit eine ungarische Hellseherin ist, die eigentlich einen Pizzaladen führt, aber vom Präsidenten ein Sonderministerium zugeschanzt bekommt. Aber bleiben wir doch ernsthaft. Denn es ist schon erstaunlich, wie sehr das Gebaren dieses George Thorkelsson an Donald Trump erinnert. Ich empfehle all denen die Lektüre dieser Pa­ro­die, die gerade am furchtbaren Antritt der aktuellen US-Regie­rung verzweifeln. Mit diesen gut zwanzig Buchseiten haben wir die Hälfte der Sammlung hinter uns; wenn auch noch nicht die Hälfte der zweiten Amtszeit Trumps.

★★★★

Greasy Lake: 8. — Nichts in der Hand

Die zweite Buchhälfte beginnt mit der Geschichte von Calvin Tompkins, einem älteren Herrn im Rollstuhl, seit er nach einem Unfall ein Bein verloren hat. Calvin ist alles andere als begütert. Doch seine Tochter hat ihm ein Zimmer zur Untermiete besorgt bei einer Restfamilie der amerikanischen Unterschicht. Im heruntergekommenen Haus von Tante Jewel, Ormand und Lee Junior verbringt Calvin seine Tage zwischen Müllbergen und herumliegenden Ersatzteilen. Doch der Alte fühlt sich dort wohl. Denn seine drei Gastgeber behandeln ihn gut und lassen ihn am Leben teilnehmen. Außerdem gibt es immer gut und reichlich zu Essen. Die Alternative, nämlich Unterbringung in einem Pflegeheim, treibt Calvin den Schweiß auf die Stirn: Alles, nur das nicht!

Als der alte Mann eines Tages feststellt, dass Ormand und Lee Junior ihren Lebensunterhalt mit Diebestouren verdienen, steht Calvin vor einer Entscheidung. Soll er Gerechtigkeit walten lassen und als Zeuge gegen seine prekäre Pflegefamilie auftreten? Wohl wissend, dass er dann in ein Altenheim abgeschoben würde?

Auf weiteren zwanzig Textseiten gelingt es Boyle, das plastische Szenario eines schaurigen Lebens im Alter zu erstellen. Die Leserschaft rollt mit Calvin durch sein gespenstisches Leben, und wir können nur zu gut nachvollziehen, was im Kopf des Senioren vorgeht. Eine wahrlich prachtvolle Erzählung über Entscheidungen und über die Schwierigkeit, zwischen Gut und Böse zu wählen. Oder zwischen Pest und Cholera.

★★★★

9. — Stones in My Passway, Hellhound on My Trail

Nach Ike und Nina präsentiert uns T. C. Boyle noch eine zweite biografische Geschichte in dieser Sammlung. Es geht um den farbigen Bluesmusiker Robert Johnson aus Mississippi, der im Jahr 1911 geboren wurde und nur 27 Jahre später unter ungeklärten Umständen starb. Bei Boyle sind die Umstände natürlich nicht ungeklärt. Auch diese Erzählung ist nicht unbedingt historisch verbürgt. Vielmehr hätte es eben so gewesen sein können, wie es in dieser Geschichte abläuft. Denn Johnson muss wohl ein rechter Weiberheld gewesen sein, in der boyleschen Story wird er von einer verschmähten jungen Frau vergiftet. „Agamemnon, nimm dich in acht!“

Der Charme dieser nur acht Seiten langen Kurzgeschichte liegt in der szenischen Überlagerung verschiedener Begebenheiten aus dem Leben des Musikers, einem wilden Wirbel an Ausschnitten, die Boyle meisterhaft komponiert und arrangiert hat. Der Titel der Erzählung besteht aus zwei bekannten Songtiteln Johnsons: Stones in my Passway ♫ und Hellhound on my Trail ♫.

★★★

10. — All Shook Up

All Shook Up ♫ ist der Titel eines Elvis-Presley-Hits aus dem Jahr 1957. Und er bedeutet soviel wie „völlig durcheinander gebracht“. Genau darum geht es in dieser 23-seitigen Kurzgeschichte, nämlich um das Durcheinander, das Eifersucht, Kränkung, Selbstmitleid und Rachsucht anrichten können, wenn man diesem Gefühlsmix bedingungslos nachgibt.

Patrick ist neunundzwanzig und arbeitet als Schülerberater an der High-School. Seine Frau Judy ist gerade mit ihrem Lover durchgebrannt und Pat leidet. Leidet passiv-aggressiv, sein Haushalt versinkt in Müllbergen, er trinkt zuviel und vernachlässigt sein Äußeres. In dieser Situation tauchen seine neuen Nachbarn auf, Joey und Cindy. Die beiden sind frisch verheiratet und haben einen Säugling. Doch auch zwischen Cindy und Joey steht es nicht zum Besten. Er tritt leider enorm erfolglos als Elvis-Double auf, Cindy muss als Sekretärin im Büro ihres Vaters Geld für die junge Familie ranschaffen. Geheiratet haben die beiden nur wegen des Babys.

„Wie findest Du es, […] mit dem King zusammenzuleben?“
— „Es ist, wie mit einem Klon verheiratet zu sein.“

Nun, ich denke, ich kann mir und Euch den Bericht ersparen, was dann zwischen dem gedemütigten Patrick und der frustrierten Cindy passiert. Man kann sich ausmalen, was los ist, wenn dieser Seitensprung entdeckt wird. Und wenn dann unverhofft auch noch die untreue Judy zu ihrem Mann zurückkehren will. – All Shook Up.

★★★

11. — Amsel, Drossel, Fink

„… und Star und die ganze Vogelschar wünschen Dir ein frohes Jahr“. So lautet eine Textzeile des bekannten Kinderliedes Alle Vögel sind schon da. Und tatsächlich, da sind sie auch schon, insbesondere die unverwüstlichen Stare.

„Sie kommen wie die Apokalypse, wie alle zehn Plagen in eins, über den Himmel tosend mit heimtückischem Brausen, mit greller metallischer Stimme und verfluchten das Land.“

Im ersten Teil der Geschichte, der sich im Jahr 1980 zuträgt, kämpft ein älterer Herr gegen die Starenplage auf seinem Grund und Boden. Er kämpft mit zunehmender Verbissenheit und Härte und doch ohne Erfolg. Es gelingt nicht, den Vogelschwarm zu vertreiben oder gar ums Leben zu bringen. Wie immer in seinen Geschichten um den Kampf des Menschen gegen die Natur, gelingt es T. C. Boyle auch diesmal, die Aussichtslosigkeit eines solchen Kampfes zu illustrieren. Ja, das ist sein Metier, das beherrscht er meisterhaft.

Mit dem zweiten Teil der Geschichte, die sich neunzig Jahre zuvor abspielt, setzt Boyle noch einen drauf. Denn tatsächlich ist die Starenpopulation in den USA besorgniserregend angewachsen. Die Vögel, die ursprünglich nur in Eurasien heimisch waren, gelten als Schädlinge und verursachen mittlerweile jährlich einen Schaden in Höhe von fast einer Milliarde Dollar. Und wer ist dafür verantwortlich? Natürlich ein Mensch. Nämlich ein reicher Vogelliebhaber namens Eugene Schieffelin, der 1890 verschiedene Vogelarten aus Europa per Schiff importieren ließ, darunter eben auch die Stare. Dem Mann war damals einfach nicht bewusst, welche dramatische Auswirkungen es haben kann, nicht heimische Tiere in ein fremdes Ökosystem einzuführen. (In diesem Zusammenhang würde ich gerne auch auf den Roman Wenn das Schlachten vorbei ist hinweisen, in dem Boyle den Unterschied zwischen Natur- und Tierschutz verarbeitet.)

Fast beiläufig kommen wir hier in den Genuss der dritten biografischen Erzählung der Sammlung nach den Geschichten über Eisenhower und Frau Chruschtschowa (3.) sowie über Rodger Johnson (9.).

★★★

12. — Zwei Schiffe

Zwei Schiffe, deren Kurse sich kreuzen, die eine Weile nebeneinander dahingleiten und sich dann voneinander verabschieden, mit völlig unterschiedlichen Routen über das Meer. Wie zwei solche Schiffe sind Casper und Jack. Als Teenager eng befreundet begingen sie gemeinsam Jugendstreiche, die allerdings schon damals zu weit gingen. Sie rissen von zu Hause aus, doch da zeigte sich schon, dass die beiden verschieden waren. Jack gab rasch auf, als es ungemütlich wurde. Doch Casper musste von Suchtrupps gejagt werden, bevor er nach Hause zurückkehrte. Mit den Jahren wurde Casper immer kompromissloser, legte sich mit Vertretern des Systems an, wurde in mehreren Ländern entweder polizeilich gesucht oder ausgewiesen. Ein gefährlicher, geistig gestörter Mann.

Währenddessen wurde Jack zum Juristen und geschätzten Mitglied der Gesellschaft, also genau zu dem, was er und sein Kumpel als Jugendliche verachtet und bekämpft hatten. Und dann, nach vielen Jahren ist plötzlich Casper wieder zurück, taucht einfach wieder in dem Ort auf, den er vor so langer Zeit verlassen hatte. Jack befällt die Panik. Er fühlt von Anfang an, dass diese Rückkehr nicht friedlich enden würde.

Boyle liefert auf siebzehn Buchseiten ein eindringliches Lehrstück darüber ab, wie unterschiedlich sich Menschen entwickeln können. Wie sie eine Weile lang als beste Freunde miteinander durch ihre Lebenszeit reisen, dann aber vollkommen verschiedene Kurse nehmen können. Und wie üblich bei T. C. Boyle verlaufen Kursänderungen nicht sanft. Seine Protagonisten prallen doch eher heftig aufeinander.

★★★

13. — Rara Avis

Ein seltener Vogel steht im Zentrum der vorletzten Kurzgeschichte. Er hockt reglos auf dem Dach des Möbelhauses einer amerikanischen Kleinstadt. Unten auf dem Parkplatz versammeln sich die Menschen. Erzähler ist ein Zwölfjähriger, und wir müssen seine mysteriöse Historie wohl symbolisch verstehen. Im Wesentlichen ist Rara Avis eine Geschichte über die Begegnung eines Heranwachsenden mit der Komplexität seiner aufkeimenden Sexualität, der damit verbundenen Scham und dem gesellschaftlichen – insbesondere dem kirchlichen – Druck, der sein Weltbild prägt. Der Vogel fungiert als Katalysator für diese Erkundung. Er verkörpert sowohl die Schönheit als auch die vermeintliche Gefahr der weiblichen Sexualität. Wir haben hier eine Geschichte über das Erwachsenwerden, in der die Hauptfigur in die verwirrende und seltsame Welt der Älteren gedrängt wird.

Die Geschichte könnte als Kritik daran verstanden werden, wie die Gesellschaft, insbesondere religiöse Institutionen, natürliche Neugier und sexuelle Entwicklung unterdrücken. Die Verschlüsselung seiner Erzählung ist im Vergleich mit Boyles sonstigem Werk ungewohnt. Schließlich hat sich der Autor oft dahingehend geäußert, dass eine Geschichte gescheitert ist, wenn Mediation zwischen Schriftsteller und Leserschaft notwendig ist. Und ich möchte außerdem anmerken, dass diese sieben Textseiten nicht unbedingt zu meinen Lieblingspassagen gehört.

★★

14. — Der Mantel II

Die Sammlung endet mit der längsten Erzählung des Bandes, die sich immerhin über siebenunddreißig Buchseiten erstreckt. Der Titel und der Name seiner Hauptfigur legen nahe, die Geschichte als Neufassung von Nikolai Gogols Klassiker Der Mantel aus dem Jahr 1842 zu lesen. Darin wird die tragische und zugleich komische Geschichte des Petersburger Beamten Akakij Akakijewitsch und dessen Aufstieg von einer unbedeutenden zu einer bedeutenden Person erzählt. Als er beschließt, sich einen neuen Mantel zu leisten, ändert sich sein Leben – zunächst im Positiven, doch letztlich leider auch sehr negativ. (Mehr Details zum Original findet man zum Beispiel hier.)

Boyle verlegt die Handlung nach Moskau in das Russland der kommunistischen Ära des Kalten Krieges. Dorthin, wo Mangelwirtschaft und verbotene Schwarzmarktgeschäfte tägliche Realität waren. Und wo das Auftauchen mit einem eleganten Mantel ein Verstoß gegen die sowjetischen Prinzipien war, zugleich aber den eigenen Status in den Augen der anderen garantiert steigerte.

Als sein sowjetischer Billigmantel zerfällt, lässt sich der linientreue Akaki – ja, hier ohne das abschließende j aus dem Gogol-Ori­gi­nal – einen Kamelhaarmantel mit Fuchsbesatz schneidern, den er mit seinem letzten Ersparten teuer bezahlt. Doch kaum hatte er Gelegenheit, sein neues Kleidungsstück zu präsentieren, wird er verprügelt und sein Mantel geraubt. Als Akaki den Diebstahl zur Anzeige bringt, wird er auch noch von der Polizei wegen Hehlerei bestraft. Und zu allem Übel wächst sich die schwere Erkältung, die er sich nach dem Mantelraub zugezogen hatte, zu einer handfesten Lungenentzündung aus …

★★★

~

Wer die Besprechungen dieser Erzählungen gern gele­sen hat, interessiert sich vielleicht auch für alle anderen Kurzgeschichtenbände und Romane von T. C. Boyle, die ich im Rahmen eines umfangreichen Autorenprofils vorstelle.

Fazit:

Der Kurzgeschichtenband Greasy Lake startet fulminant mit drei weit überdurchschnittlichen Erzählungen, die mich regelrecht an das Buch gekettet haben. Natürlich war klar, dass diese außergewöhnliche Qualität nicht über vierzehn Geschichten hinweg durchgehend beibehalten werden würde. Denn Sammlungen haben ja eigentlich immer den Nachteil, dass man sie in der Summe selten extrem bewertet. Es gibt schließlich immer Texte, die einem besser, und andere, die einem weniger gefallen. Ich nehme es vorweg: Auch Greasy Lake landet in meiner Sternebewertung in der Mitte bei drei von fünf möglichen Sternen.

Aber ich möchte doch festhalten, dass mindestens fünf der Geschichten dieses zweiten Sammelbandes T. C. Boyles absolut hinreißend sind. Die Lektüre ist vor allem solchen Lesern und Leserinnen zu empfehlen, die Abwechslung nicht nur inhaltlich, sondern vor allem in der formalen Textgestaltung zu schätzen wissen.

T. C. Boyle, Greasy Lake und andere Geschichten
🇺🇸 Viking, 1985
🇩🇪 Deutscher Taschenbuchverlag, 1993

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