Fräulein Gold: Schatten und Licht

Anne Stern, Fräulein Gold: Schatten und Licht, 2021
Anne Stern, 2021

Unbefleckt, wie frisch aus der Buchhandlung lag dieses Taschenbuch mit dem Titel Fräulein Gold: Schatten und Licht auf dem Deckel der Papiermülltonne, als ich letzthin den Abfall nach unten trug. Welcher Bücherfeund vermag wohl, einer solchen Versuchung zu widerstehen? Ich jedenfalls nicht; auch wenn offenbar irgendjemand den Roman ungelesen dem Papierrecycling zuführen wollte, aus welchem Grund auch immer. Also machte ich Bekanntschaft mit der „Hebamme von Berlin“, wie das Fräulein Gold im Untertitel des Romans genannt wird. Unvorbereitet zwar, aber neugierig. Und eines möchte ich schon an dieser Stelle vorwegschicken: Auf die Müllkippe gehört der erste Band der Serie um Hulda Gold keineswegs.

Du kennst die goldige Hebamme von Berlin noch gar nicht? Das macht nichts, denn der Werdegang der jungen Dame ist rasch erzählt. Zwischen August 2021 und November 2024 veröffentlichte die Autorin Anne Stern sieben Romanfolgen um eine emanzipierte Kämpferin gegen das Unrecht, deren Handlungsstränge sich zwischen 1922 und 1930 zutragen, alle in Berlin zwischen den beiden Weltkriegen.

Fräulein Gold: Schatten und Licht – Worum es im 1. Roman geht

Das ist die Rahmenhandlung aus dem Frühjahr 1922: Rita Schönbrunn hat ihre besten Jahre hinter sich. Sie verdient sich den Lebensunterhalt auf dem Straßenstrich im berüchtigten Bülowviertel in Ber­lin-Schö­ne­berg. Bereits im Prolog der Romangeschichte wird die „fixe Rita“ von einer Brücke in den Landwehrkanal geworfen und ertrinkt. Kommissar Karl North ermittelt: War das Selbstmord einer Verzweifelten? Oder eine Abrechnung im Prostituiertenmilieu? Doch was hat es mit dem Tagebuch Ritas auf sich? Der Text erzählt nämlich eine ganz andere Lebensgeschichte als die einer abgetakelten Sexarbeiterin.

Zwei Erzähler

Erzählt wird die Kriminalgeschichte aus den Blickwinkeln zweier Protagonisten. Nämlich aus dem des Kommissars North als Ermittler im Todesfall der Rita Schönbrunn. Außerdem aus der Sicht von Hulda Gold. Die Hebamme steht nach dem Verschwinden Ritas der Nachbarin und Freundin der Prostituierten bei ihrer Hausgeburt bei. Aus Neugier beginnt Hulda, eigene Ermittlungen anzustellen und ist dabei dem Kommissar immer einen oder zwei Schritte voraus.

Das Ganze erinnert ein bisschen an das Verhältnis zwischen Miss Marple und ihrem Inspector Craddock. (Natürlich abgesehen davon, dass Miss Marple dreimal so alt ist wie Hulda. Und dass sich zwischen der britischen Amateurdetektivin und ihrem Sidekick Craddock gewiss keine Romanze entwickelte. Aber jetzt habe ich schon etwas ausgeplaudert, was man mir als Spoiler auslegen könnte.)

Berlin nach dem Ersten Weltkrieg

Über den Kriminalfall hinaus blicken wir insbesondere durch Hulda Golds Augen auf das Leben in den Berliner Straßen einer Zeit, als der Erste Weltkrieg gerade einmal dreieinhalb Jahre vorüber war. Wir sind dabei, wenn auf dem Winterfeldtplatz flaniert und am Wannsee gebadet wird. Wenn junge Frauen wenig damenhaft auf dem Fahrrad durch die Stadt sausen. Wir erleben Hinterhöfe in übervölkerten Arbeitersiedlungen, das weit verbreitete Konzept des Wohnens zur Untermiete, aber auch das Nachtleben in einer Großstadt, wo gesoffen, geraucht und gekokst wird, was das Zeug hält. Und wie könnte es anders sein mit einer Romanautorin: Es geht auch um Frisuren, Schnauzbärte, Kleider, Schuhwerk, Hemden, Krawatten und Fliegen.

Auf den 375 reinen Textseiten erzählt Anne Stern durchaus packend aus dem damaligen Berliner Alltag und gibt auch hin und wieder düstere Hinweise auf das, was sich da in den nachfolgenden Jahren politisch und gesellschaftlich hin zum Nationalsozialismus entwickeln sollte.

Staatliche Irren- und Idiotenanstalt Dalldorf

Hintergrundwissen: Im Jahr 1880 hatte die Berliner Charité nördlich der damaligen Stadtgrenzen, in Dalldorf, eine psychiatrische Klinik gegründet, die Staatliche Irren- und Idiotenanstalt Dalldorf. 1925 wurde der Klinikkomplex in Wittenauer Heilstätten umbenannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese zur Karl-Bonhoeffer-Klinik, die vor ihrer Schließung zuletzt im Volksmund als „Bonnies Ranch“ bekannt war.

Anne Stern unterbricht die Romanhandlung regelmäßig durch kurze Einschübe; nämlich durch die bereits angesprochenen Tagebucheinträge Rita Schönbrunns, die – vor ihrem dritten Leben als Bordsteinschwalbe – als Pflegerin in Dalldorf gearbeitet hatte. In diesen Einschubkapiteln berichtet Rita über das, was sich vor mittlerweile hundert Jahren auf dem Klinikgelände abspielte. Über experimentelle, grausame Behandlungsmethoden ebenso wie über die Nachwirkungen des Krieges, als traumatisierte Soldaten, die „Zitterer“, in Dalldorf landeten. In der Folgezeit verhungerten Hunderte von Patienten, weil deren Versorgung nicht gewährleistet wurde.

Letztlich kristallisiert sich aus den Tagebucheinträgen auch ein Motiv für den gewaltsamen Tod Ritas heraus. Aber das werde ich hier ganz sicher nicht ausbreiten. Lest selbst!

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Fräulein Gold: Schatten und Licht – Bewertung

Ich schicke vorweg: Meine Befürchtung, ich hätte da oben auf der Altpapiertonne einen Klassiker für Brigitte-Leserinnen gefunden, hat sich sehr schnell zerstreut. Die Geschichte um die Tote aus dem Landwehrkanal ist spannend und stimmig, ein wirklich überzeugender Krimi. Die Auflösung hat mir gut gefallen, sogar bis hin zur bonnie-und-clyde-artigen Ausweitung auf einen Folgemord samt Flucht der Täter.

Hinzu kommen die gelungenen chronistischen Element der Geschichte. Also dieses ganze Berliner Leben vor einen Jahrhundert. Aber auch die stimmig eingearbeitete Historie der Irrenanstalt Dalldorf hat ihren Platz im Roman und in meinem Herzen gefunden. So etwas liebe ich ja.

Hulda und Karl

Außerdem ist da auch noch die persönliche Lebensgeschichte von Karl North, der im Klappentext des Buches als „undurchsichtig“ beschrieben wird. Undurchsichtig ist der Mann zwar nicht, eher unsicher oder traumatisiert. Eben wie ein typischer Kriminalbeamter der heutigen Zeit: Neben der Schwere der Ermittlungsarbeit schleppt er ständig sein privates Psychopaket durch die Gegend. Darunter leiden sein Job und die Personen seines Umfeldes. Das geht mir inzwischen ein bisschen auf die Nerven, muss ich leider sagen. Ist aber nicht ausschließlich ein Problem der Figur des Karl, sondern ein Zeit­geist-Phä­no­men.

Mindestens diese Hulda Gold wird die Leserschaft ja nun noch durch eine gute Handvoll Nachfolgebände begleiten. Die Figur der emanzipierten jungen Frau hat mir über weite Strecken gut gefallen. Etwa ihre Zerrissenheit in Sachen Liebesleben und Lebensplanung hat die Autorin überzeugend ausgearbeitet. Was mir persönlich zu weit geht, sind einige völlig irrationale, geradezu selbstzerstörerische Ausreißer der Hebamme. Solches Verhalten will einfach nicht zu der Figur passen. Wiederholte nächtliche Drogeneskapaden? Oder der wahnwitzige Besuch bei einem Zuhälter, um diesen zu einem Mordgeständnis zu überreden? Also bitte, Hulda!

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Wer diese Besprechungen gern gele­sen hat, inte­res­siert sich even­tuell auch für ein Interview mit Anne Stern, das der Rowohlt Verlag mit der Autorin geführt hat.

Fazit:

Fräulein Gold: Schatten und Licht muss man allen Leser¦innen empfehlen, die sich einmal hundert Jahre zurückversetzen lassen und das Lebensgefühl der damaligen Zeit nacherleben wollen. Hinzu kommt die grausige, aber ja auch überlieferte Geschichte der Irrenanstalt im Norden Berlins. Mit diesem historischen Umfeld punktet Sterns Romangeschichte bei mir voll. Dafür nehme ich auch gerne die angesprochenen Schwächen der beiden Protagonisten hin. Es ist ja nicht so, dass Hulda oder Karl völlig unglaubwürdig wären. Aus meiner Sicht gibt es eben nur ein paar Überzeichnungen, die wirklich nicht hätten sein müssen.

Wenn ich alles zusammenzähle und in meinen Sternealgorithmus packe, schafft es der erste Roman um Fräulein Gold gerade nicht mehr auf vier Bewertungssterne. Aber drei sehr, sehr dicke von den fünf möglichen Sternen bekommt die Geschichte locker.

Anne Stern, Fräulein Gold: Schatten und Licht
🇩🇪 Rowohlt Verlag, 2021

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