
Im Alter von 49 Jahren hat der Münchener Autor Daniel Speck seinen zweiten Roman mit dem Titel Piccola Sicilia veröffentlicht. Namensgeber für die gut 650 Buchseiten lange Geschichte ist ein vorgelagertes Stadtviertel von Tunis, das meist nur La Petite Sicile oder Piccola Sicilia, also Klein-Sizilien genannte wurde. Denn das am Hafen der nordafrikanischen Großstadt gelegene Viertel hat eine lange süditalienische Tradition. Seine Bewohner stammten ursprünglich meist aus Sizilien, in den Straßen wurde vorwiegend italienisch gesprochen. Auch die bekannte italienische Filmdiva Claudia Cardinale (86) wurde in Tunis geboren, ihre Großmutter lebte in Piccola Sicilia. Und selbst Autor Speck hat tunesische Wurzeln. Denn sein Vater stammt aus dem afrikanischen Land, das keine 160 Kilometer Luftlinie von Sizilien entfernt ist. Heute findet man den Ort der Romangeschichte unter der Bezeichnung La Goulette als Vorort von Tunis mit Handelshafen und Kreuzfahrtterminal.
Die Kerngeschichte des Romans trägt sich Anfang der 1940er-Jahre zu: Der deutsche Wehrmachtssoldat Moritz Reincke begleitete damals in Nordafrika als Kriegsberichterstatter und Kameramann die Einheiten von Generalfeldmarschall Erwin Rommel, seinerzeit bekannt unter dem Spitznamen „Wüstenfuchs“. Deutsche Truppen hielten während des Afrikafeldzuges die Stadt Tunis zwischen November 1942 und Mai 1943 besetzt, bevor sie vor den Amerikanern kapitulieren mussten. Fast eine Viertelmillion deutscher Soldaten wurde gefangen genommen. Das Dritte Reich neigte sich seinem Ende entgegen.
Worum geht es in der Romanhandlung?
Moritz Reincke, Figur im Mittelpunkt des Romangeschehens, war in Berlin während eines Heimaturlaubs 1942 eine Verlobung mit Fanny Zimmermann eingegangen. Was er erst viel später erfuhr: Seine Fanny wurde damals schwanger und schenkte ein Jahr später der gemeinsamen Tochter Anita das Leben. Während der Schwangerschaft seiner Verlobten war Moritz jedoch weit entfernt von Deutschland in Tunis stationiert. Dort machte er im besetzten Nobelhotel Majestic eher beiläufig die Bekanntschaft des jüdischstämmigen Pianisten Victor und auch dessen Adoptivschwester Yasmina, die im Hotel als Zimmermädchen beschäftigt war. Doch als die Aliierten Tunis zu bombardieren begannen, nahm die deutsche Kapitulation ihren unvermeidbaren Lauf. Die Grausamkeiten der deutschen Besatzer eskalierten angesichts der drohenden Niederlage. Gleichwohl ermöglichte Moritz dem enttarnten, inhaftierten und gefolterten Juden Victor die Flucht.
Schließlich sollten Moritz und vor allem seine Propagandafilme mit dem letzten deutschen Militärflieger vor der Ankunft der US-Amerikaner ausgeflogen werden. Ein hochrangiger Nazischerge übernahm jedoch in allerletzter Minute Moritz‘ Platz in der Maschine, die nur wenig später vor Sizilien abgeschossen wurde. Im Chaos des amerikanischen Einmarschs in Tunis gelang es Moritz, dank einer Folge von Zufällen nicht nur zu überleben, sondern sogar in Piccola Sicilia mit Hilfe von Victors dankbarer jüdischer Familie unterzutauchen. – Ein Nazideutscher im Feindesland in Obhut und Abhängigkeit von jüdischen Vertrauten?
Die Erzählung Specks basiert übrigens auf einer wahren Begebenheit, nämlich auf der Geschichte des Deutschen Richard Abel. So hieß der Soldat, der fünf jungen Juden, die von Fallschirmjägern verhaftet worden waren, mit einer Landkarte, Verpflegung und einer Pistole zur Flucht verhalf und dafür von der Familie eines der Jungen in Tunis versteckt wurde, bevor er nach Kriegsende in Gefangenschaft der Aliierten geriet. Abel wird seit 1969 in der jüdischen Gedenkstätte Yad Yashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.
Fünfundsiebzig Jahre später
…, nämlich in der Zeit, als Daniel Speck seinen Roman geschrieben haben mag, spielt der zweite, knapper gehaltene Handlungsstrang der Geschichte. Es handelt sich um eine Art Rahmenhandlung, aus der heraus die Kerngeschichte über Moritz Reincke erzählt wird.
Erzählerin ist eine gewisse Joëlle, eine Frau in ihren Siebzigern, womöglich Französin oder Italienerin, die durch ihre modernen, um nicht zu sagen provokanten Ansichten auffällt. Joëlles Zuhörerin ist Nina Zimmermann, eine Archäologin aus Berlin. Die Besonderheit der Konstellation: Nina ist die Enkelin von Fanny und Moritz, der nach dem Ende des Weltkriegs nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt war. Sie ist die Tochter der mittlerweile verstorbenen Anita, also letzter Nachkomme von Moritz Reincke. Das dachte Nina bis dahin zumindest.
Sie trifft Joëlle in der Stadt Marsala, an der Westküste Siziliens. Nach ihrer Ehescheidung hat Nina die Flucht ergriffen und fliegt auf Einladung eines ehemaligen Studienkameraden, einem Unterwasserarchäologen, nach Marsala. Dort hat nämlich dieser Kamerad das versunkene Wrack eines deutschen Militärflugzeugs aus dem zweiten Weltkrieg entdeckt. Auf dessen Passagierliste stand auch der Name von Ninas Großvater Moritz. Das Flugzeugwrack soll nun gehoben werden.
Nina schwankt zwischen Selbstmitleid nach ihrer gescheiterten Ehe und Neugier wegen des vor vielen Jahrzehnten verschollenen Großvaters. Doch dann trifft sie auf die ältere Joëlle, die sich ihr als zweite, unbekannte Tochter Moritz Reinckes vorstellt; also womöglich als Halbschwester von Ninas Mutter Anita. Nina taucht in die bis dahin totgeschwiegene Geschichte ihrer Familie ein.
Das Romanpersonal
Rund um den deutschen Kameramann Reincke tummelt sich eine Unmenge von Figuren, die der multikulturellen Geschichte ihren prägenden Stempel aufdrücken. Im Rahmen der tunesischen Kerngeschichte aus den Vierzigerjahren ist das in erster Linie die Familie Sarfati. Die Eltern Albert und Miriam, genannt Mimi, sind eingewanderte italienische Juden. Ihr Sohn Victor Sarfati wurde in Tunis geboren. Hinzu kommt die adoptierte Tochter sefardisch-jüdischer Abstammung namens Yasmina; und letztlich, ab der Buchmitte, noch Yasminas Tochter Joëlle.
Ja, dieses kleine Kriegskind Joëlle ist tatsächlich identisch mit der neuen Bekanntschaft Ninas aus den 2010er-Jahren. Aber wer war der Vater der damals neugeborenen Joëlle? War es tatsächlich der von den Sarfatis zunächst mehr geduldete als erwünschte deutsche Soldat namens Moritz? Oder gab es womöglich ein dunkles Geheimnis in Yasminas Vorleben, das nicht einmal Albert und Mimi kannten? Schaffte es Moritz, in Piccola Sicilia, wo jeder jeden kannte, nicht enttarnt zu werden? Und was wurde letztlich aus Moritz, Victor, Yasmina und Joëlle? – Ein spannendes Familiendrama nimmt seinen Lauf.
Alles, was ab jetzt über das Romanpersonal und seine Geschichte folgt, ist Geheimnisverrat. Wer lieber selbst im Roman nachlesen und Antworten auf die soeben gestellten Fragen finden möchte, blendet den folgenden Spoiler besser nicht ein.
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Währenddessen hatte Moritz mit mehr Glück als Verstand die Kampflinie der anrückenden US-Amerikaner durchbrochen, nachdem er den letzten fliehenden deutschen Flieger am Flughafen in Tunis verlassen musste. Verletzt erreicht er das Haus in der Altstadt, in dem die Sarfatis untergekommen waren. Auf einem Stückchen Papier hatte Victor ihm zuvor die Adresse nortiert und ihn in einer Kurznachricht auf dem Fetzen als Freund bezeichnet: „È un amico“. Albert und Mimi nahmen Moritz auf, pflegten ihn gesund. In der Tarnung als angeblicher italienischer Verwandter der Sarfatis namens Maurice wird der Deutsche immer mehr zum Teil der Familie.
Victors Heimkehr
Während eines kurzen Heimaturlaubs tauchte der verloren geglaubte Victor schließlich wieder in Tunis auf, irgendwann 1943. Da kam es zum Eklat in der Familie: Die geheime Liebe zwischen Victor und seiner Schwester Yasmina wurde offenbar, Yasmina war schwanger von ihrem eigenen Adoptivbruder. Ja, Joëlle war in Wahrheit ein Kind der Schande, das die Familie Sarfati um ein Haar hätte zerbrechen lassen. Doch Victor entzog sich seiner Verantwortung, ließ die Schwester mitsamt der ungeborenen Tochter und seinen Eltern zurück. Er floh zurück nach Italien, in den Krieg gegen die Deutschen. Wer jedoch blieb, war Moritz; wie ein Fels in der Brandung. Doch wohin hätte er schon gehen sollen. Die aliierten Besatzer hätten ihn sofort inhaftiert, in Deutschland wäre er als Fahnenflüchtiger hingerichtet worden.
Zwar plante Moritz seine Rückkehr nach Deutschland mit Hilfe Alberts und eines bestochenen tunesischen Fischers. Doch die heimliche Überfahrt nach Italien kam in den unsicheren Zeiten nicht zustande. Schließlich wurde Moritz verraten. Als die Amerikaner auf der Suche nach dem deutschen Soldaten das Haus der Sarfatis durchsuchten und dabei Albert schwer verletzt wurde, musste Moritz erneut untertauchen und Unterschlupf bei einem früheren Freund Victors suchen. Dann kam Joëlle zur Welt und die Gerüchte in Piccola Sicilia, Moritz wäre der Vater, verdichteten sich. Da geschah das Unglaubliche, Moritz entdeckte im Kino zufällig auf dem Filmstreifen einer britischen Wochenschau einen Mann, der Victor ähnlich sah.
Die Suche nach Victor
Yasmina war wie elektrisiert. Als dann endlich der Krieg zu Ende war – und nachdem Moritz mit einem gefälschten, jedoch täuschend echt wirkenden italienischen Pass unter dem Namen Maurice Sarfati, geboren in Triest, ausgestattet werden konnte –, beredete sie ihn, sich gemeinsam mit ihr in Sizilien auf die Suche nach Victor zu machen. Von dort aus sollte er weiter in die deutsche Heimat reisen, und Yasmina hätte dann endlich ihren Geliebten wieder.
Auch wenn die Aussichten auf Erfolg bei dieser Suche nach der Nadel im Heuhaufen lächerlich gering schienen, blieb Yasmina stur. Und Moritz stimmte nur zu, weil er längst in Yasmina verliebt war. Schließlich lenkte auch Yasminas Vater Albert seufzend ein und schloss sich dem Suchtrupp an, um die Familieneinheit nicht aufs Spiel zu setzen und um die Schicklichkeit zu wahren.
Wie befürchtet fanden Albert, Joëlle, Moritz und Yasmina auf Sizilien zunächst keine Spur von Victor. Auf vage Vermutungen hin suchten sie im Krankenhaus von Siracusa nach Patientenakten. Dort geschah ein Wunder: Tatsächlich machte Yasmina eine Krankenschwester ausfindig, die sich nicht nur an Victor erinnerte, sondern nach dem Krieg sogar einen Brief von ihm erhalten hatte; aus Ferramonti di Tarsia auf dem italienischen Festland. Die vier Sarfatis setzten über und erfuhren, dass sich ihr Victor dem Mossad le Alija Bet angeschlossen hatte, einer jüdischen Organisation zur Förderung der illegalen Einwanderung nach Palästina.
Das Ende der Gemeinschaft – oder ein Neuanfang?
Sie zogen dann weiter nach Norden, immer auf der dünnen Spur, die Victor hinterlassen hatte. Bis die Suche mit einem Mal abrupt endete. Denn auf dem Friedhof Cimitero Acattolico in Neapel fanden sie schließlich ein Grab: Victor Sarfati, geboren am 22. November 1916 in Tunis, gestorben am 12. April 1945 in Neapel.
Yasminas Fixstern existierte nicht mehr. Noch in der gleichen Nacht versuchte die junge Frau, sich umzubringen. Doch Moritz gelang es in letzter Sekunde, die Lebensmüde aus der Meeresbrandung zu retten. Er machte Yasmina klar, welche Wahnsinnstat sie im Begriff gewesen war zu begehen, – und im nächsten Satz einen Heiratsantrag.
Moritz und Yasmina heirateten in einer jüdischen Zeremonie im Nachkriegslager der Cinecittà in Rom, wo Albert einen russischen Rabbi aufgetrieben hatte. Denn zurück nach Tunis wollten weder Yasmina noch Moritz. Danach trennten sich die Wege. Albert kehrte zurück nach Tunis. Seine Tochter mit der Enkelin mitsamt dem frisch angetrauten deutschen Schwiegersohn machten sich auf den Weg nach Palästina, nach „Eretz Israel“. Denn weder in Europa noch in Tunesien sahen die beiden eine Zukunft für sich. Als sie in einer Nacht- und Nebelaktion zusammen mit einer großen Zahl weiterer jüdischer Flüchtlinge auf Schlauchbooten von der Küste vor Rom zu einem Schiff übersetzten, das sie nach Palästina bringen sollte, geschah etwas Ungeheuerliches:
Yasmina erkannte in einem der Matrosen auf dem Nachbarboot ihren geliebten Victor. Von da an würden die beiden frisch gebackenen Eheleute Moritz und Yasmina nie mehr alleine sein. Auch wenn offen bleibt, ob die Erscheinung Yasminas Fantasie entsprungen oder echt war.
Moritz Reinckes Schicksal
Damit endet die Romangeschichte, die Moritz‘ angenommene Tochter Joëlle der Enkelin des Deutschen erzählt. Wie es weitergehen sollte, erfahren wir nicht mehr. Lediglich einen kleinen Hinweis geben uns Autor Speck und Joëlle mit auf unseren Gedankenweg. Angeblich erhält Joëlle zu ihren Geburtstagen Blumensträuße von einem Unbekannten. Die Frau vermutet, dass der Absender Moritz ist. Tatsächlich wird auch am Tag der Abreise Ninas und Joëlles ein Strauß mit weißen, roten und violetten Blumen im Hotel abgegeben.
Fragen wir uns doch einmal, ob das überhaupt möglich sein kann. Moritz Reinckes Geburtsjahr wird an keiner Stelle des Romans erwähnt. Aber wenn wir davon ausgehen, dass er im Jahr 1943 einen Offiziersrang innehatte, lassen sich rechnerische Rückschlüsse ziehen. Denn Wehrmachtsoffizier wurde man damals im Alter von Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Danach müsste Moritz irgendwann zwischen 1905 und 1915 geboren sein. Seinen letzten Blumengruß an Joëlle in den 2010er-Jahren hätte er also im Alter von deutlich über neunzig oder gar hundert Jahren verschickt.
Vielleicht erfahren wir ja im Nachfolgeroman Jaffa Road mehr, siehe weiter unten?
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Grandioser Geschichtsunterricht
Was ich bisher über die Handlung verraten habe, hört sich wohl wie ein etwas aus den Fugen geratenes Familienepos an. Aber das ist beileibe nicht alles, was uns Autor Speck auftischt. Tatsächlich ist seine Geschichte eine Tour de Force, die einen der wichtigsten Zeitabschnitte der südeuropäischen Historie des zwanzigsten Jahrhunderts durchleuchtet. Historische Fakten besagen, dass die größte Invasion der Aliierten während des Zweiten Weltkriegs über Sizilien lief, nicht erst ein Jahr später über die Normandie. Die Zahl der toten, verletzten und gefangenen Wehrmachtsangehörigen und verbündeten Italiener lag in Tunis höher als wenige Monate zuvor im russischen Stalingrad. Unter Deutschen war damals von „Tunisgrad“ die Rede.
Vor dem 2. Weltkrieg
Nordafrika und insbesondere das säkulare Tunesien waren ein seit Jahrhunderten zusammengewachsener Schmelztiegel der Religionen geworden. Sefardische Juden, die schon Jahrhunderte zuvor nach den Säuberungen der Reconquista aus Spanien nach Nordafrika eingewandert waren und sich mit Arabern vermischt hatten, trafen auf Immigranten aus Italien, zum Teil jüdischen, zum anderen Teil christlichen Glaubens. In Städten wie Tunis lebten Muslime, Juden und Christen, Italiener und Franzosen in guter Nachbarschaft zusammen. Sie mochten sich über religiöse Fragen gestritten haben, aber sie hüteten sich, dabei rote Linien zu überschreiten.
„Man wusste Maß zu halten, im Streit und in der Liebe, man wusste, du kannst deinen Nachbarn einen dummen Esel nennen, aber du darfst niemals seinen Gott beleidigen oder, schlimmer noch, seine Mutter.“
Der Krieg ändert alles
Auch unter dem französischen Protektorat, also seit 1881, änderte sich zunächst nichts am friedlichen Zusammenleben der Kulturen. Erst nachdem in Frankreich die Vichy-Regierung mit den deutschen Besatzern kollaborierte, begannen die französischen Beamten auch in Tunesien die aufgezwungenen Rassengesetze der Nazis durchzusetzen. Im Roman verliert der Jude Albert Sarfati seine Anstellung als Arzt im Krankenhaus der Stadt. Und als die deutsche Wehrmacht 1942 den Norden des Landes im Handstreich besetzte, nahmen die Pogrome gegen Juden dramatische Ausmaße an. Erst wurden jüdische Familien zur Kasse gebeten, dann enteignet. Schließlich zwangen sie die Besatzer, ihre eigenen jungen Männer zum Frondienst auszuliefern. Gleichzeitig hetzte die Wehrmacht Muslime gegen Juden auf.
Die deutsche Schreckensherrschaft dauerte in Tunesien zwar nicht viel länger als ein halbes Jahr, bis amerikanische Truppen die Wehrmacht entwaffneten. Doch die Zeit hatte ausgereicht, Zwietracht, Neid und Missgunst unter der Bevölkerung zu säen. Ehemals friedliche Nachbarn betrachteten einander nun mit Argwohn.
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Einordnung und Bewertung
Es ist zunächst nicht ganz einfach, einen Zugang zu Piccola Sicilia zu finden. Der direkte Einstieg mit dem Fragment einer Vorwegnahme von Ninas Bericht über den Blick von Joëlle auf Moritz Reincke und auf Yasmina ist kryptisch und durchaus dazu geeignet, die Leserschaft vom Kommenden abzuschrecken. Auch die nachfolgenden Gedankensprünge Ninas muss man erst einmal überstehen, bevor man endlich den Rhythmus der Romangeschichte erkennt und ihm von da an folgen kann. Aber dann entwickelt sich eine weitläufige Erzählung geradezu monströser Dimension, der zumindest ich mich nicht mehr entziehen konnte.
Vordergründiges
Ja, da ist zunächst die historische Geschichte. Die über Rommels Nordafrikafeldzug, die der Grausamkeiten von Kriegsereignissen und die der unmenschlichen Bestialität der Naziherrschaft. Die Geschichte der irreversiblen Entwurzelung, die einen ganzen Kontinent und dessen Nachbarländer ergriffen hat.
Und nochmals ja, da ist auch – fein und abstandslos eingewoben in die Historie – der Blick auf einen kleinen Teil aller Betroffenen. Nämlich auf Moritz und die ganze Familie Sarfati. Der Blick aus zwei entgegengesetzte Perspektiven: die des deutschen Besatzers, der ungewollt tiefer in die Leben der Opfer seines Führers hineingezogen wird, als ihm lieb ist; und die der unbeteiligten Opfer, die gleich zweimal überrannt werden, einmal durch die Deutschen, die sich in Tunis verschanzten, und zum zweiten Mal durch die Aliierten, die zusammen mit ihren deutschen Feinden auch die Bevölkerung zerbombten.
In der Tiefe des Wimmelbildes
Doch dabei belässt es Daniel Speck nicht. Ganz tief steigt der Autor mit uns ein in das Leben der nordafrikanischen Stadt Tunis. In die Viertel der Araber, der Juden und der Christen, In die Sukhs der Stadt und in die Gepflogenheiten ihrer Bewohner. In verschiedene Religionen und Identitäten, in Liebe aller Variationen, in Verrat und Hass, in Menschlichkeit ebenso wie in das abgrundtief Böse. Er zeichnet das Portrait einer Epoche und deren Vergänglichkeit. Nichts bleibt, wie es ist.
Specks Hauptfigur Moritz ist zwar Soldat. Aber in erster Linie ist er Fotograf und Kameramann. Moritz‘ feine Beobachtungsgabe lässt uns die Macht der Bilder erkennen, ausgehend von dem, was tatsächlich geschah, über das, was die Fotografen zeigen wollten und wie sie das zu erreichen suchten, bis hin zu dem, was die Propaganda schließlich aus den Bildern machte. Wie sie noch bis zum bitteren Ende den Konsumenten der Bilder eine Traumwelt vorgaukelten, die aus geschönten Sequenzen der Wochenschauen und süßlichen Heimatfilmen zusammengebastelt wurde.
Die Kunst der Täuschung wurde zur Falle der Selbsttäuschung.
Piccola Sicilia gewährt uns etwas Kostbares. Der Roman lässt uns einen Blick auf den inneren Kompass der Seele werfen. Er lässt uns erkennen, was Recht und was Unrecht ist; was Menschlichkeit ist und wie leicht diese verraten werden kann.
Struktur der Erzählung
Die Ich-Erzählerin der Geschichte ist Nina, die deutsche Enkelin von Moritz Reincke, die in der Rahmenhandlung rund um die Bergung des Flugzeugwracks auftritt, auf dessen Passagierliste ihr verschollener Großvater gestanden hatte. Ninas Erlebnisse und ihre persönlichen Gedankengänge sind also die einzigen, die sich der Leserschaft unmittelbar und authentisch offenbaren. Joëlle, die Erzählerin der Kerngeschichte, bleibt hingegen weitgehend undurchschaubar. Über sich selbst spricht sie kaum. Auch das kleine Mädchen Joëlle tritt über die Rolle einer Statistin nicht hinaus.
Wenn jedoch Joëlle ihre Geschichte erzählt, so tut sie dies stets in der dritten Person aus Sicht der jeweils handelnden Personen. Dabei beschränkt sie sich nicht nur auf auf das, was die Personen sagen oder wie sie handeln. Auch deren Beweggründe, Charaktereigenschaften und eigene Gedankengänge offenbart sie der Leserschaft. Die beiden tiefsten Figuren in Joëlles Erzählung sind Moritz und Yasmina. Das geht soweit, dass die beiden ihre intimsten Gefühle mit uns teilen. Mimi und Albert Sarfati werden nicht ganz so transparent dargestellt, auch wenn deren Innenleben durchaus zu uns durchdringen. Selbst Victor hat kaum Gelegenheit, sich selbst darzustellen. Er wird fast immer aus der Sicht von Moritz und noch viel stärker aus der von Yasmina geschildert. Der ganze Rest des Romanpersonals bleibt ohnenhin Staffage.
Diese unterschiedlichen Perspektiven und deren Tiefe entsprechen ja durchaus der Personalstruktur des Romans. Autor Speck ist es in bewunderswerter Weise und durchgehend gelungen, uns einen fein abgestuften Blick auf die Gesamtgeschichte erlesen zu lassen: Nina → Joëlle → Moritz, Yasmina → Albert, Mimi, Victor.
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Piccola Sicilia findet übrigens seine Fortsetzung in Specks drittem Roman mit dem Titel Jaffa Road, der 2021 ebenfalls im Fischer Verlag erschienen ist.
Fazit:
Piccola Sicilia ist ein historischer Roman, dessen multikulturelle Handlung sich zu Beginn der 1940er-Jahre gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hin zuträgt. Erzählt wird er allerdings aus der Perspektive und unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf unsere Zeit, also mit einem Abstand von fünfundsiebzig Jahren. Die Lektüre empfehle ich dringend allen, die einmal einen Blick auf die Kriegsereinisse aus einem ungewohnten Blickwinkel werfen möchten. Denn im Zentrum stehen nicht die Deutschen oder die aliierten Staaten, sondern nordafrikanische Mauren, jüdische Zuwanderer, Immigranten aus Italien; ein Konglomerat aus Ethnien und Religionen, das den wenigsten von uns bekannt sein dürfte. Wer außerdem Wert auf eine spannende und niemals langweilige Geschichte legt, kommt um Daniel Specks Roman nicht herum.
Lange habe ich nicht überlegen müssen, nachdem ich Piccola Sicilia aus der Hand gelegt hatte. Für mich und meinen strengen Bewertungsalgorithmus steht fest: Diese Romangeschichte gehört zu den wenigen hier, die die maximale Sternezahl von fünf verdient haben.
Daniel Speck, Piccola Sicilia
Fischer Verlag, 2018
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