
Schluss mit cool lautet der Titel einer Sammlung von Kurzgeschichten des US-Autoren T. C. Boyle. Es ist der dritte seiner Erzählbände, die nicht nur auf englisch, sondern auch auf deutsch erschienen sind. Die Veröffentlichung im englischen Original trägt übrigens den Titel After the plague. Sowohl beim Original, als auch bei der deutschen Übersetzung handelt es sich um die Einzeltitel zweier unterschiedlicher Geschichten aus dem Band. Zur zeitlichen Einordnung der Texte möchte ich anmerken, dass alle Erzählungen noch vor den gesellschaftlichen Zäsuren des Jahrtausendwechsels entstanden sein müssen. – Insbesondere bezieht sich also die letzte Kurzgeschichte der Sammlung mit dem Einzeltitel Nach der Pest keinesfalls retrospektiv auf die Corona-Pandemie, so wie ich das verschiedentlich gehört und gelesen habe, sondern ist allenfalls eine düstere Vorahnung mit einem Vorlauf von gut zwanzig Jahren.
Die institutionalisierte Literaturkritik war sich im Erscheinungsjahr des Erzählbandes nicht recht einig, ob sie die Sammlung nun als „systematische Studie von betörender Genauigkeit“ loben oder wegen der „wiederkehrenden Motive“, ihrer „plumpen, gezwungenen Konstruktionen“ und ihrer „seichten Aufbereitung“ tadeln sollten. Aber sehen wir doch einmal selbst, was uns Boyle da auf insgesamt 380 Textseiten auftischt. Durchgehendes Thema aller sechzehn Geschichten ist die „Katastrophe Mensch“.
Torschlusspuder
1. —Als Hors d’œuvre serviert uns T. C. Boyle eine wahnwitzige Geschichte vom nördlichen Ende der Welt. Nämlich die Geschichte von Ned, einem der rauen Kerle, die in Alaska jenseits der Zivilisation in der Wildnis leben. Dort wo Frauen Mangelware sind und Einsamkeit die harten Kerle schwer in die Mangel nimmt. Ned hat sich nach Anchorage begeben, so wie Hunderte anderer Kerle auch. Denn dort haben sich 107 Frauen aus dem Rest der USA zu einer Art Speed Dating eingefunden. Sie alle sind Willens, einen Naturburschen zu finden, an dessen Seite sie Abstand zur Hektik der Moderne finden würden.
107 Aussteigerinnen. Und auf der anderen Seite Torschlusspanik unter weibstollen Trappern. Der Erzähler Ned hat sich auf Jordy, eine hübsche Lehrerin eingeschossen. Die würde er zu gerne beim „Fleischbasar“ ersteigern und mit nach Boynton nehmen. Doch fassungslos muss er miterleben, wie ausgerechnet sein Konkurrent Bud ihn und alle anderen Interessenten überbietet. Jordy geht für 250 Dollar an Bud, das frisch gebackene Paar macht sich auf den Weg ins Nirgendwo hinter Boynton.
Ned ist wütend wie ein gereizter Stier. Dieser Vergleich passt, denn Ned ist schließlich eine zwei Meter große Kampfmaschine mit 110 Kilo. Er wird seine Jordy vor diesem Bud retten, hetzt den beiden hinterher. In Buds einsamer Hütte, weitab jeder Zivilisation, kommt es zum Showdown. Denn wer sich im Recht fühlt, schreckt auch nicht davor zurück, seine Interessen mir brutaler Gewalt durchzusetzen. Nach 23 Buchseiten ist Schluss, draußen fällt in dicken weißen Flocken der Torschlusspuder.
Wie bitte? Fleischbasar in Alaska? Boynton? Zwei Hinterwäldler buhlen um die Gunst einer zivilisationsmüden Frau? Woher kennen wir das bloß? – Richtig: Nur kurz nach dem Erzählband erschien schon Boyles neunter Roman Drop City. Darin werben die beiden Fallensteller Sess und Bosky um die schöne Pamela. Die gleiche Geschichte, allerdings ohne die schaurige Andeutung dessen, was Jordy am Ende erwartet.
★★★★
2. — Nicht zimperlich
„Der kalifornische Albtraum“, so hätte diese Kurzgeschichte auch betitelt werden können: Die junge Paula ist Triathletin, durchtrainiert und bestens vorbereitet auf den Wettkampf, der ihr bevorsteht. Sie weiß, diesmal kann sie ihre härteste Konkurrentin endlich schlagen. Nein, besser noch: Zweifellos wird sie sie schlagen! Wenn da nicht Paulas Freund Jason wäre.
Dieser Jason, ein Söhnchen reicher Eltern, die ihm seinen Surf&Tauch-Shop finanzieren, ist ein Faulpelz, ein Nichtsnutz ohne Ziele und ohne Ehrgeiz. Jason verbringt seine Tage damit, in seinem Laden abzuhängen und danach an den Tresen irgendeiner Bar zu wechseln, um zu saufen, zu rauchen und sich von Footballübertragungen berieseln zu lassen. Ein schlaffer Tunichtgut, der allerdings grenzenlos überzeugt von seiner eigenen Persönlichkeit ist. In gedankenloser Egomanie und in all seiner Überheblichkeit gelingt es Jason während der letzten sechsunddreißig Stunden vor Paulas Rennen und über 27 Textseiten hinweg, den bevorstehenden Erfolg seiner Freundin Schritt für Schritt zu sabotieren. – Die Geschichte einer toxischen Beziehung.
★★
3. — Babymörder
Der Enddreißiger Philip betreibt in Detroit eine frauenärzliche Klinik. Er ist ein arrivierter Spießer mit beispielhafter Familie in einer beneidenswerter Wohnlage und mehr als genug Geld für ein sorgenfreies Leben. Aber Phil hat ein Problem: Abtreibungsgegner demonstrieren gegen Schwangerschaftsabbrüche, die in seiner Klinik durchgeführt werden. Täglich finden sich Gruppen religiöser Fanatiker vor seinem Privatgrundstück und vor dem Klinikgebäude in der Stadt ein. Sie skandieren Bibelsprüche und blockieren in passivem Widerstand das Durchkommen in welche Richtung auch immer, rein oder raus. Die längst nur mehr widerwillig anrückende Polizei braucht Stunden, um diese Demos aufzulösen. Doch Philips Familie hat sich dem Dauerproblem ergeben, das ihnen zäh wie Kaugummiklumpen an den Schuhsohlen pappt.
Eines Tages jedoch trifft Phils jüngerer Bruder Rick aus Kalifornien in Detroit ein. Rick ist ein Kiffer, der seine Finanzlage durch Scheckbetrug aufgebessert hatte und deshalb zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Wenn er nicht im Knast landen will, muss er ein halbes Jahr bei seinem Bruder arbeiten und unauffällig bleiben. Doch Rick findet sich nicht mit den Fanatikern ab, die sich wie eine Zombiearmee jammernd und klagend an alle klammern, die mit der Klinik in Verbindung stehen. Erst prügelt er auf die Demonstranten ein und eines Tages dreht Rick durch.
Die Geschichte ist mit 30 Buchseiten vielleicht ein bisschen lang geraten. Aber vor dem aktuellen (2025) Hintergrund der Massenbegnadigungen verurteilter Abtreibungsgegner durch den US-Präsidenten Donald Trump hat die Erzählung durchaus erneut Bedeutung gewonnen. Und das ist kein Einzelfall, denn viele von Boyles älteren Geschichten erhalten über die Zeit hinweg immer wieder Bedeutsamkeit. Alles kehrt wieder!
★★
4. — Gefangene der Indianer
Ich gestehe, dass mich die nächsten zwanzig Textseiten zunächst verständnislos und nach selbst einem zweiten Lesedurchgang zumindest ratlos zurückgelassen haben. Es geht um ein junges Paar, Melanie und Sean. Er ist Doktorand der Literaturtheorie, sie Bibliothekarin; angehendes Bildungsbürgertum. Eigentlich stehen die beiden an der Eintrittsschwelle zu einem verheißungsvollen Leben. Es geht ihnen beiden gut, Melanie ist schwanger. Doch sie findet nicht den Mut, diese Tatsache ihrem Partner Sean mitzuteilen.
Gründe dafür gibt es: Etwa ein Univortrag, in dem eine verbissene Dozentin mit Bindestrichnamen über die Verpflichtung der Menschheit sprach, „unwürdiges Leben“ auszusortieren, angesichts der sechs Milliarden Menschen auf der Erde. Sean hatte der Dozentin zugestimmt. Oder die schwer greifbare Angst vor irgendwelchen ausländischen Mördern aus den Nachrichten, die sich ihre Opfer wahllos auszusuchen scheinen?
Schließlich klopft tatsächlich ein heruntergekommener Latino an Melanies Tür, dem sie zwar nicht öffnet; der jedoch am gleichen Abend eine Nachbarin vergewaltigt, die ihm Gartenarbeit verschafft hatte. Sean und Melanie hatten nach dem Übergriff noch versucht, den fliehenden Wanderarbeiter zu überwältigen, allerdings vergeblich. Der Mann konnte entkommen.
Immer wieder eingeschoben in die Handlung werden Sequenzen aus einem Historienbericht, den Melanie gerade liest. Es geht um Gräueltaten, die Indianer im 18. Jahrhundert weißen Siedlern, insbesondere Frauen und kleinen Kindern, angetan hatten. Die ganze Erzählung endet recht kryptisch mit einem Traum Melanies von einem blutigen blonden Kinderskalp. – Welche Botschaften nehmen wir hier also mit? Leben Melanie und Sean in einer Welt blutrünstiger „Indianer“, die es nicht ratsam erscheinen lässt, weitere Kinder zu zeugen? Geht es um Angst vor dem Fremden? Wird Melanie ihren Fötus womöglich abtreiben lassen? Ich gestehe, ich habe es nicht verstanden.
★
Achates McNeil
5. —Der junge Mann mit dem ungewöhnlichen Vornamen Achates ist Literaturstudent an der State University of New York. Und er ist Sohn der (fiktiven?) Schriftstellerlegende Tom McNeil. Auf Achates‘ Semesterlehrplan stehen gleich zwei der Werke seines illustren Vaters. Doch der Sohn verleugnet seine Abstammung. Denn er hasst seinen Erzeuger, der seine Mutter und ihn einst verlassen hatte, um mit jüngeren Freundinnen und seiner Entourage durch die Literaturwelt der USA zu tingeln.
Allerdings taucht Vater Tom irgendwann an der Uni des Sohnes auf, um eine Lesung zu veranstalten. Der Besuch des Ausnahmeliteraten artet genau in der Höllenvorstellung aus, die Achates befürchtet hat: Tom zieht vor seinen Claqueuren eine egomanische Show ab und verzichtet dabei auch nicht darauf, das vermeintlich tolle Einvernehmen mit seinem Achates zur Schau zu stellen – eine erniedrigende Prozedur! Doch nachdem Tom McNeil wieder abgereist ist, lassen die Speichellecker von eben den Sprössling ebenso rasch wieder links liegen, wie sie ihm gerade noch an der Seite seines Vaters gehuldigt hatten.
Die ganze Geschichte wäre nicht mehr als eine nette kleine Persiflage auf den überkandidelten US-Literaturbetrieb, wenn nicht T. C. Boyle in den fünfundzwanzig Seiten des Textes unmissverständlich klar machte, dass dieser unsympathische Starautor Tom kein anderer als er selbst ist. Sein Vorname, die Beschreibung seines Äußeren, Details aus seinem Leben, die Eigenart, spanische Wörter in sein Englisch einzuweben … – Sehr viele Kleinigkeiten lassen keinen anderen Schluss zu, als dass mit diesem Tom McNeil Thomas John Boyle selbst gemeint ist.
Bravouröse Selbstironie
Texte wie dieser sind einer der Gründe, warum ich T. C. Boyle so besonders schätze. Für seinen Hang, sich selbst der Lächerlichkeit preiszugeben, sich mit einem Grinsen im Gesicht über diesen „dürren Kerl mit Spinnenbeinen, komischem Kräuselhaar und Ziegenbärtchen“ zu amüsieren. Daran hat er einen Heidenspaß. In seinem Erzählband Sind wir nicht Menschen (2020) taucht Boyle übrigens sogar zweimal, allerdings in weniger sarkastischen Szenen auf, nämlich unter dem Namen Riley in Der Marlbane Manchester Musser Preis und in Ein Tod weniger.
★★★★
6. — Mexiko
Die Welt ist schlecht! Und für die Dummen, die Naiven oder Überheblichen ist sie es gleich doppelt oder dreifach. – Der Kalifornier Lester steht in der Blüte seines Lebens. Er arbeitet in San Francisco für irgendein Biotech-Unternehmen und hat gerade in der Lotterie eine Reise gewonnen, zwei Wochen Touristenoase am Strand in Oaxaca, Mexiko. Nun gut, seit dem Unfalltod seiner Frau hat sich Lester ein wenig gehen lassen. Er schleppt locker zwanzig Kilo zu viel in Form einer mächtigen Wampe mit sich herum, bewegt sich zu wenig und trinkt zu viel. Les ist sozusagen der durchschnittliche amerikanische Traummann.
Im mexikanischen Urlaubsresort glüht Lester erst einmal richtig vor, warum denn auch nicht? Hat er sich das etwa nicht verdient? Dann macht er in der Hotelbar ganz zufällig die Bekanntschaft einer einsamen Schönheit. Die beiden kommen ins Gespräch, verabreden sich zum Abendessen …
Auf dem Rückweg ins Hotel wird Lester dann von „kriminellen Elementen“ niedergeschlagen, mit Stiefeln getreten und ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Eine recht vorhersehbare Geschichte, die sich über 23 Buchseiten zieht und mit den Klischees der amerikanischen Herablassung gegenüber dem Rest der Welt und der Verschlagenheit der Latinos spielt.
★★
Die Liebe meines Lebens
7. —Vorbemerkung: Die Statistik besagt, dass im Jahr 2010 43,3 Prozent der Schwangerschaften in den USA ungewollt waren. Die Rate der Kindstötungen während oder nach der Geburt liegt bei 25 Fällen pro 1 Million Kindern, das entspricht der Zahl von etwa 100 getöteter Neugeborener pro Jahr. Zwei Drittel bis drei Viertel der Kindstötungen werden von den leiblichen Müttern begangen. (Diverse statistische Quellen)
China und Jeremy sind zwei High-School-Schüler in ihrem letzten Jahr, also beide vermutlich achtzehn Jahre alt. Das Paar ist unzertrennlich, ihr künftiger gemeinsamer Lebensweg steht für beide ohne jeden Zweifel fest. Deshalb sind sie auch sehr darauf bedacht, keine Schwangerschaft vor dem College und vor der Uni zu riskieren. Aber dann passiert es eben doch. Obwohl sich Jeremy und China noch immer über alles lieben, finden die beiden keinen Weg, vernünftig mit der ungeplanten Situation umzugehen. Weder in die eine, noch in die andere mögliche Richtung. Und so nimmt die Natur einfach ihren Lauf, ohne dass einer der beiden angehenden Elternteile es verhindern könnte; ohne dass auch nur irgendeiner ihrer Verwandten oder Bekannten etwas mitbekommen hätten.
Ein Sozialdrama, das im Laufe von 24 Buchseiten seinen unerbittlichen und unausweichlichen Verlauf nimmt. Die ganze Entwicklung, ja sogar die einzelnen Schritte sind so ungeheur vorhersehbar, dass die Lektüre schon fast physisch Schmerzen bereitet. Menschen sind Monster.
★★★
Rost
8. —Es folgt die mit achtzehn Seiten kürzeste Erzählung des Bandes. Mit ihr erreichen wir die Hälfte der Sammlung, Bergfest! Fast wünschte ich, die beiden Protagonisten der Kurzgeschichte könnten das auch von sich sagen: Bergfest. Aber Eunice und Walt stehen wohl eher schon an der Schwelle zum Winter ihrer beider Leben. Wenn man auf Details achtet, kann man mitrechnen; Eunice ist 79, ihr Mann fünf Jahre jünger.
Die Handlung der Geschichte lässt sich in einem Doppelsatz erschöpfend zusammenfassen: An einem Vormittag stürzt Walt mitten im Garten auf der Suche nach dem Hund und kommt nicht mehr hoch, und als Eunice nach einem langen Tag mit Wodka Tonic vor dem Fernsehgerät gegen Abend endlich nach ihrem Gatten sucht, fällt sie selbst über die liegende Gestalt und bricht sich den Schenkelhals. Das war es dann wohl für die beiden?
Kurz und heftig, und dennoch eine der besten Geschichten der Sammlung. Denn Boyle lässt seine beiden Figuren einen ganzen Tag lang ihre Vergangenheiten Revue passieren. Das Kennenlernen, die Attraktivität der zwei jungen Leute, beglückender Sex. Wie Walt seine Eunice aus ihrer unglücklichen ersten Ehe befreite. Aber auch der Unfalltod des Sohnes. Das gemeinsame Haus mit der damals brandneuen Küche. Und im Gegensatz dazu die unaufhaltsame Entfremdung zwischen dem alternden Paar. Und wie immer unvermeidlich in boyleschen Texten: Alkohol, sehr viel Alkohol. – Alles in allem eine prachtvolle Anekdote!
★★★★
Peep Hall
9. —Es geht um ein Phänomen, das zu Beginn des Jahrtausends, als die Kurzgeschichten aus Schluss mit cool veröffentlicht wurden, vermutlich noch nicht weit verbreitet war. Es geht um digitale Prostitution. Mittlerweile verdingen sich ja Menschen aller Art und in allen Ecken der Welt als Darsteller, die vor ständig laufenden Webcams ihren Alltagstätigkeiten nachgehen: Schlafen, Kochen, Abhängen, Pinkeln und was weiß ich noch. Es geht um das versteckte Reich einzelner Menschen, das paradoxerweise gleichzeitig für jedermann frei zugänglich ist, der den Webcamzugang gegen Geld freischaltet. Es muss wohl ein rätselhafter Zauber darin liegen, einer/einem Fremden nach Lust und Laune auch bei den ordinärsten Banalitäten zuzusehen.
Erzähler dieser dreißigseitigen Geschichte ist der vierzigjährige Hart (nein, nicht „Bart“) Simpson. Er arbeitet als Barkeeper in einem Hotel und lebt ansonsten zurückgezogen in einem geerbten Bungalow in Südkalifornien. An privaten Kontakten oder Unternehmungen hat Hart kein Interesse. Jedenfalls solange nicht, bis er die Bekanntschaft einer jungen Frau macht, die neu in der Gegend ist. Jennifer lebt als „Samantha“ zwei Häuser weiter, zusammen mit weiteren sechs Mädchen, denen man 24 Stunden lang über die Webcams auf www.peephall.com* beim Zeit-Totschlagen zusehen kann. Hart ist elektrisiert.
* — Spart Euch die Mühe: Die Domain peephall.com ist nicht registriert, Stand Februar 2025.
★★★
10. — Abwärts
Ein gewisser Fausto verliebt sich mit dreißig in die fünfzigjährige Sonia. Die beiden heiraten und leben fortan glücklich zusammen. Doch Sonia und Fausto sind Teil einer fiktiven Science-Fiction-Welt, in der die Menschen nicht linear bis zum Tod altern. Vielmehr werden sie fünfzig, kehren dann um und leben von da an ihr Leben abwärts, bis sie wieder Kinder sind und schließlich als Säuglinge enden. Ihre glücklichste Zeit verbringen Fausto und Sonia, als sie beide vierzig sind – er aufwärts lebend, sie abwärts. Ihre Paarbeziehung endet, als Sonia zwölf wird und Fausto gute dreißig, seinerseit bereits auf dem Abwärtsweg. Hinter dieser Paargeschichte verbirgt sich ein Familiengeheimnis. Denn tatsächlich war – und ist – Fausto der Sohn von Sonia, wird also Jahrzehnte später zum Ersatzvater seiner eigenen Mutter.
Okay, gewiss, eine faszinierende Idee. Doch das ist gar nicht die eigentliche Erzählung, die uns T. C. Boyle hier auftischt, sondern nur eine Geschichte in der Geschichte. Boyle erzählt uns nämlich von John, dessen Frau Barb außer Haus ist, zum Einkaufen, während sich draußen ein Tornado zu entladen beginnt. Der Strom in Johns Haus fällt aus, er muss den Kamin beheizen. Statt Fernsehen sucht er sich aus dem verlassenen Zimmer seines längst ausgezogenen Sohnes einen alten Science-Fiction-Roman aus; nämlich den mit der Geschichte aus dem ersten Absatz da oben.
Johns Lektüre wird unterbrochen, als urplötzlich sein Sohn mit Freundin aus dem Schneesturm auftauchen. Barb ist noch immer nicht zurück. Aber John kann nicht von der absurden Geschichte um Fausto und Sonia lassen. Nicht einmal dann, als der Sohn mit der Nachricht von einem tragischen Unfall aufwartet. Wir ahnen, es kann sich dabei nur um Barb handeln. Aber John will die Lektüre trotzdem um keinen Preis abbrechen.
Äh, wie bitte?
Geht es hier etwa um einen, der sich an einem Buch festgebissen hat? Der die Realität über seiner Lektüre ausblendet, welche Schrecknisse da draußen in der echten Welt auch passieren mögen? Nein, das wäre mir zu simpel. Hat womöglich John selbst gerade mit fünfzig „umgedreht“ und damit begonnen, sein Leben rückwärts zu leben? Dafür spräche, dass völlig unerwartet sein Sohn zurückkehrt, der doch längst auf und davon war?
Aber was hat es dann mit der verschwundenen oder verunfallten Ehefrau Barb auf sich? Und welche Rolle spielt Bern, die ominöse Freundin von Johns Sohn? Soll sie etwa die in umgekehrter Richtung lebende Barb sein? Ist John womöglich identisch mit seinem eigenen Sohn? Kann man überhaupt als Abwärts-Ich seinem eigenen Aufwärts-Ich begegnen? – 19 Textseiten, die mich entgeistert zurücklassen.
★★
Guten Flug
11. —„Hast du einen guten Flug gehabt?“, lautet die Frage von Ellens Mutter an ihre Tochter, als sie diese nach stundenlangen Verspätungen am Flughafen in New York abholt. Diese Frage steht als letzter Satz am Ende der zwanzigseitigen elften Erzählung des Bandes. Da stelle ich mir gerne das kollektive Grinsen und Kichern der Leserschaft vor. Denn wir wissen an dieser Stelle alle längst, welche Unbillen Ellen auf ihrer Reise von Los Angeles an die Ostküste der USA erleiden musste.
Wer T. C. Boyles News auf seiner Website folgt oder in seinen Social-Media-Präsenzen stöbert, weiß, dass der Schriftsteller kein sonderlich begeisterter Fluggast ist, auch wenn er Reisen durch die Lüfte nicht vermeiden kann. Seinen Flugreisebericht aus der Sicht von Ellen darf man durchaus als persönlichen Seitenhieb auf die moderne Gesellschaft werten, so wie etwa auch seine Geschichte über Die große Werkstatt.
Ellens Odyssee
Ich will hier gewiss nicht die vollständige Geschichte der unglücklichen Fluzeugpassagierin Ellen wiedergeben. Lest die Story einfach selbst, es lohnt sich wirklich. Nur so viel:
Ellens Reise beginnt mit Stunden der Verspätung wegen technischer Schwierigkeiten. Kaum hat die Maschine dann endlich abgehoben, geht eine der Turbinen in Flammen auf, der Flieger muss umkehren. Schon an dieser Stelle nervt Ellens Sitznachbar, der Mann mit der Baiserfrisur, der nicht etwa froh ist, wieder heil auf dem Boden gelandet zu sein, sondern wegen der unvermeidlichen Verspätung zu maulen beginnt.
Der gleiche Passagier macht sich kurz darauf gleichermaßen unbeliebt bei seinen Mitfliegern und dem Flughafenpersonal, als er sich rücksichtslos in der Warteschlange zum Ersatzflieger vordrängelt und Sonderbehandlung einfordert. Während des Fluges zur Ostküste gerät der Kerl dann endgültig außer Rand und Band. Als ihm die Crew den lauthals geforderten Upgrade „nach vorne“ verweigert, rastet der Baisermann komplett aus, bedroht Passagiere und Besatzung. Als die Situation eskaliert und das Ekel gar noch Ellens sympathischen Sitznachbarn niederschlägt, ist die Toleranzgrenze der Frau erreicht. Mit einer Gabel in der Hand stürzt sie sich auf den Egomanen und sorgt persönlich dafür, dass der Mann bei einem Zwischenstopp in Denver verhaftet und abgeführt werden kann. – Man kann sich unschwer Boyles boshaftes Grinsen vorstellen, während er diese Zeilen in seinen Computer getippt hat.
★★★
12. — Die schwarz-weißen Schwestern
Larry arbeitet als Landschaftsgärtner in den reichen Vororten von Los Angeles. Er ist es gewohnt, exzentrische Wünsche seiner Kunden zu erfüllen, die allesamt in Geld schwimmen und gut zahlen. Doch was die Schwestern Moira und Caitlin ihm antragen, ist dann doch heftiger als alles Bisherige. Die beiden Frauen haben nämlich ein extremes Faible für die Farben Schwarz und Weiß. Alles andere muss weg. Larry soll nun also alle Bäume, Büsche und den Rasen entfernen, damit das riesige Grundstück asphaltiert werden kann.
Wichtig für Moira und Caitlin sind aber auch die Rahmenbedingungen bei den Arbeiten: Weiße Männer oder Schwarze, keinesfalls aber Mexikaner. Und alle müssen sie schwarze Jeans und weiße T-Shirts tragen. Die Schwarzen allerdings umgekehrt, weiße Jeans und schwarze T-Shirts. Ein zu braun gebrannter Surfer wird gefeuert. Und das Bier, das Larry eines Tages von Caitlin angeboten bekommt, ist selbstverständlich Guinness.
Wir wissen allerdings nicht, wie Boyle seinen Larry reagieren lässt, als ihn Moira nach zwanzig Buchseiten im Bett ihrer jüngeren Schwester erwischt und ihn dazu auffordert, künftig Arbeit im Freien zu meiden und sich das Haar schwarz färben zu lassen, wenn er Caitlin weiterhin daten wolle.
★★
13. — Schluss mit cool
Diese Erzählung ist Namensgeber für den deutschen Titel der Sammlung, das englische Original wurde nach der letzten Erzählung des Bandes benannt, Nach der Pest. Ich könnte mir vorstellen, dass einer der Gründe für diese Wahl durch den Hanser Verlag darin besteht, dass die vorliegende Geschichte – ich versuche es vorsichtig auszudrücken – im Universum des Autors selbst spielt:
Der Protagonist Edison Banks ist ein Mann in Boyles Alter, der in einem der begüterten Trabanten von Los Angeles lebt. Er ist in der Unterhaltungsbranche reich geworden, erst als Kopf einer Band, die seinen eigenen Namen trug, und danach als Erfinder und Produzent einer Fernsehserie. Zum Zeitpunkt der Erzählung befindet sich Edison jedoch in einer Umbruchs- oder Findungsphase. Von seiner Lebensgefährtin hat er sich gerade getrennt, die Zeit seiner beruflichen Erfolge ist abgelaufen und nach einer Knieoperation ist er nicht mehr so fit wie früher. All das schmeckt Edison nicht so richtig, er ist gereizter Stimmung.
Über die Handlung
Am Strand gerät Edison Banks mit drei Jugendlichen in Streit, die ihn provoziert haben. Als er ihnen den Marsch blasen will, merkt er, dass er körperlich mit den Kerlen nicht mehr mithalten kann – dieses Scheiß-Knie! Frustriert und mit Blutdruck lässt er sich in einer Strandkneipe volllaufen. Sein Versuch, mit einem weiblichen Gast der Bar zu flirten, schlägt fehl. Die Stimmung kippt. Doch als dann plötzlich ein junger Mann am Tresen auftaucht, der ihn nicht nur erkennt, sondern sich auch noch als sein Fan outet, ist Edisons Welt auch dank der sedierenden Wirkung einiger Drinks wieder in Ordnung. Er lädt seinen Bewunderer zum gemeinsamen Hören von Schallplatten zu sich nach Hause ein: „Jederzeit, Mann, kein Problem. Bloß nicht zwischen eins und vier – da bin ich unten am Strand.“
Der aufmerksamen Leserschaft ist an dieser Stelle schon klar, dass das schief gehen wird. Tatsächlich erwischt Edison den jungen Kerl schon am nächsten Tag beim Einbruch in sein Haus; nur weil er an diesem Tag früher vom Strand zurück kommt. Mit gezückter Pistole steht Edison vor dem Einbrecher, der ihn jedoch nicht ernst nimmt und verspottet. Doch jetzt ist ein für alle Mal Schluss mit cool. Die Geschichte endet nach 25 Seiten mit dieser Szene, also offen.
Was würdest Du an Edisons Stelle machen? Eine weitere Demütigung einstecken? Oder den miesen Typen über den Haufen schießen? Nach der amerikanischen Castle Doctrine, die auch im Bundesstaat Kalifornien gilt, könntest Du danach straffrei ausgehen.
★★★
Meine Witwe
14. —Eine Vorstellung, der wahrscheinlich so gut wie jede(r) schon einmal nachgehangen ist, die oder der ein halbes Jahrhundert Lebenszeit oder mehr hinter sich gebracht hat, betrifft das zukünftige Leben, das der Partner (oder die Partnerin) dereinst führen wird, sobald man selbst irgendwann den Löffel abgegeben, das Zeitliche gesegnet, oder ins Gras gebissen haben wird. Natürlich, da geistern Bilder von verwilderten Gärten, langsam zerfallenden Häusern und gebrechlichen Katzendamen inmitten ihrer fünfunddreißig Samtpfötigen durch unsere Gedanken. Schreckensbilder von tauben, blinden Autofahrern, von Menschen, die stunden-, ach, was sage ich: tagelang, Dinge in ihren Wohnmuseen suchen, solange bis sie irgendwelche anderen einst verschollenen Gegenstände finden.
Kauzige, ein bisschen verwahrloste Menschen, deren Zeit absehbar zu Ende geht und die dennoch von nichts mehr zu haben scheinen als von Zeit. – Über so einen Menschen schreibt T. C. Boyle auf den 21 Seiten seiner vierzehnten Geschichte. Es geht um seine Frau, oder besser gesagt um seine Witwe. Denn dass es hier tatsächlich um Frau Boyle geht, ist zweifelsfrei. Zu viele Details in der Erzählung stimmen mit dem Leben der Boyles überein: Das alte Auto, das noch ältere Haus, der kalifornische Ort der Handlung bei Santa Barbara, der Nachname der Witwe, die mit „Frau B.“ angesprochen wird, also genau so, wie der Schriftsteller seine Frau selbst nennt.
Die Kurzgeschichte besteht aus immerhin acht Kapiteln: Ein Katzenmensch, Das Dach, Einkaufen, Der zweite Ehemann, Ihre Handtasche, Bob Smith alias Smythe Roberts, Robert P. Smithee, Claudio Noriega und Jack Frounce, In ihren eigenen Worten und Nachts. In diesen acht Episoden lässt uns Boyle wissen, wie er sich das restliche Leben seiner Frau vorstellt, sobald er selbst die ewige Ruhe gefunden hat. Ein zu gleichen Teilen beunruhigender wie tröstlicher Ausblick.
★★★★
Die unterirdischen Gärten
15. —Vorbemerkung: Im San Joaquin Valley, zweihundert Meilen nördlich von Los Angeles, liegt in der Stadt Fresno eine touristische Sehenswürdigkeit mit dem Namen Forestiere Underground Gardens. Es handelt sich dabei um eine Reihe von unterirdischen Räumlichkeiten und Bauten, die von Baldassare Forestiere, einem sizilianischen Einwanderer, über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten von 1906 bis zu seinem Tod im Jahr 1946 errichtet wurden. Die Gärten werden heute vom Forestiere Historical Center betrieben und gelten als unkonventionelles Beispiel volkstümlicher Architektur.
Auf 24 Buchseiten erzählt T. C. Boyle die Geschichte von Baldassare, so wie er sich den Mann und seine Beweggründe vorstellt: ein kleiner, zäher Kerl mit einer unbeirrbaren Vision, von der er sich durch nichts und durch niemanden abbringen ließ.
★★★
Nach der Pest
16. —Der englische Originaltitel der Geschichtensammlung wurde nach der Betitelung dieser letzten Erzählung gewählt: After the plague. (Für die deutsche Ausgabe wurde allerdings die dreizehnte Geschichte Namensgeber, Schluss mit cool, siehe oben.) Worum es auf den 29 Seiten der vorliegenden letzten Erzählung geht, sollte schon durch den Titel klar sein. Die Apokalypse ist über die Welt gekommen, in Form einer Mutation des Ebolavirus, das 99 Prozent der Menschheit innerhalb weniger Tage tötete. Der fünfunddreißigjährige Erzähler, ein gewisser Jed oder mit vollem Namen Francis Xavier Halloran III., hat überlebt, weil er sich in den Tagen und Wochen von Ausbruch und Abebben der Seuche in eine einsame Berghütte zurückgezogen hatte, um dort in aller Ruhe zu schreiben.
In Boyles Kurzgeschichte kommt es nach dem Ende der menschlichen Zivilisation einmal nicht zum Marodieren rücksichtsloser Banden. Vielmehr gehen sich die wenigen Überlebenden meist aus dem Weg. Jede(r) versucht, das eigene Leben zu sichern. Weit mehr als genug zum Überleben liegt ja überall herum. Und weiter über den Tellerrand einiger Monate oder Jahre hinaus lässt uns der Autor auf den paar Buchseiten nicht blicken.
Erwähnenswert ist womöglich noch, dass dieser Jed wieder einmal autobiografische Züge Boyles trägt. Vor der Pest lebte er in Montecito, Boyles Heimat. Außerdem wäre Jed gerne Schriftsteller, und sein Refugium in den Bergen könnte durchaus das von T. C. Boyle selbst sein. Aber das ist ja nichts Neues. Der Autor stellt uns ja immer wieder liebend gerne seine verschiedenen Alter Egos vor.
★★★★
~
Wer diese Besprechungen gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Rezensionen zu Boyle-Romanen und -Erzählungen auf dieser Website zu finden sind.
Fazit:
Der Erzählband Schluss mit cool macht seinem Autor T. C. Boyle alle Ehre. Wie so oft präsentiert er uns diesmal sechzehn schicksalhafte Geschichten, in die wir mit Leichtigkeit einsteigen. Nach ein paar Zeilen wissen wir jedes Mal, worum es geht. Oder Boyle hat uns so neugierig gemacht, dass das Weiterlesen unvermeidlich ist. Dann aber geht eben auch alles schief, was nur schief gehen kann. Die Eskalationen sind zwar nicht unbedingt notwendig. Aber trotzdem sind sie jedes einzelne Mal unausweichlich, die Schuld daran trägt eben die Katastrophe Mensch. Wir tappen durch die skurrilen, oder auch drastischen Erzählungen des US-Autors; und immer wieder spüren wir die sadistische Schadenfreude, mit der uns Boyle infiziert.
Wie in allen Geschichtensammlungen gibt es auch in diesem Band mäßige und gute Erzählungen. Deshalb ist es auch diesmal wenig verwunderlich, dass sich der Durchschnitt meiner Bewertungen knapp unter drei Sternen von den möglichen fünf bewegt. Einige der professionellen Literaturrezensenten halten Schluss mit cool für eine der schwächeren Veröffentlichungen T. C. Boyles, siehe auch ganz oben im zweiten Textabsatz dieser Besprechung. Doch auf mindestens zwei der Geschichten möchte ich persönlich auf keinen Fall verzichten: Rost und Meine Witwe.
T. C. Boyle, After the plague | Schluss mit cool
🇺🇸 Viking Press, 2001
Carl Hanser Verlag, 2002
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