
Frühjahr 2024: Geduldig wartet die Fangemeinde von T. C. Boyle auf den zwanzigsten Roman des US-Autors, der irgendwann im Jahr 2025 veröffentlicht werden sollte. Doch damit wir nicht unter Entzugserscheinungen leiden müssen, schiebt der Hanser Verlag, wie so häufig, einen weiteren Erzählband Boyles in die Lücke zwischen zwei Romanen. Im englischen Original ist I Walk Between the Raindrops bereits 2022 erschienen. Nun kommen auch die deutschen Leser¦innen in den Genuss von dreizehn neuen Kurzgeschichten, die der ARD-Literaturkritiker Denis Scheck als „starke Geschichten für heftige Zeiten“ bezeichnete.
Tatsächlich geht es auf den 270 Seiten des schlanken Bändchens um einige der aktuellen Reizthemen, die gerade durch Feuilletons und Nachrichten driften: Umweltzerstörung durch den Menschen (eines der immer wiederkehrenden Liebligsthemen Boyles), die Gefahren der Künstlichen Intelligenz, Amokläufer, #MeToo, oder die COVID-Pandemie. Dreizehn spielerische Erzählungen irgendwo zwischen Realität und Vision, oft bizarr und gerade dann immer treffsicher.
„Keiner bringt das Talent der Menschheit, sich selbst zu versenken, so auf den Punkt wie T. C. Boyle.“
Financial Times
1. — I Walk Between the Raindrops
Die erste und auch titelgebende Kurzgeschichte des Bändchens hat T. C. Boyle als seinen persönlichen Favoriten bezeichnet. Es handelt sich um eine zwanzig Buchseiten lange Ich-Erzählung eines Kaliforniers namens Brandon, die vier knappe Episoden aus seinem Leben mit der Ehefrau Nola schildert. In einer fünften Episode schließlich kommt Brandon im Zirkelschluss noch einmal zurück auf die erste der Minigeschichten.
Valentinstag
Geradezu belanglos kommt der Bericht Brandons über den jüngsten Valentinstag daher. Den Tag der Verliebten verbringt das Paar mit einem Kurzbesuch in einer Kleinstadt im Bundesstaat Arizona; die Ehefrau mit Shoppen in Trödelläden, er selbst in einer Allerweltsbar bei einem Jacky Cola. Im Vordergrund steht die Begegnung Brandons mit einer aufdringlichen, vermutlich mental gestörten Frau in der Bar, die der Mann allerdings genervt abblitzen lässt. Im Hintergrund der Erzählung entsteht ein eindringliches Bild der Trostlosigkeit des Städtchens.
Wenn der Berg zum Meer kommt
Rückblick auf die Monate vor dem Valentinstag: Im Dezember hatten Buschbrände im kalifornischen Heimatort von Nola und Brandon gewütet. Doch die beiden hatten Glück, ihr Wohnviertel war vom Feuer knapp verschont geblieben. Allerdings, schon in der Woche nach Neujahr bringen heftige Regenfälle eine Überschwemmung mit sich, die schließlich eine gewaltige Schlammlawine auslöst. Doch auch diesmal schrammt die Katastrophe am Haus des Ehepaares vorbei, wenn auch erneut nur knapp. Als die Regenfälle nachlassen, inspiziert Brandon das Ausmaß der Schäden im Ort.
Spätestens in dieser zweiten Episode wird deutlich, dass Brandon und Nola genauso gut auch Mr. und Mrs. Boyle sein können. Gleiches hat der Schriftsteller selbst erlebt. Wer möchte, kann die Naturkatastrophen ausführlicher in Boyles bekanntestem Roman América, im Original The Tortilla Curtain, nachlesen.
Die GSP-Hotline
Brandon führt uns in der dritten Episode noch weiter zurück in die Vergangenheit, als nämlich seine Frau Nola für ein paar Monate ehrenamtlich bei der Telefonhotline der Gesellschaft für Suizidprävention arbeitete. Nola erzählt Brandon von einem ihrer Kollegen, der eine persönliche Beziehung zu einer jungen Frau aufbaut, die immer wieder bei der GSP-Hotline anruft. Schließlich treffen sich die Anruferin und der Telefonseelsorger im echten Leben. Ob das wohl gutgehen kann?
Fredda und Paul
Jeder von uns hat Freunde, die einfach kein Glück in der Liebe haben. Und viele von uns haben schon mit dem Gedanken gespielt, womöglich zwei dieser Unglücklichen miteinander zu verkuppeln. Brandon und Nola versuchen, ihre zwei besten Freunde Paul und Fredda, beide stark übergewichtig, im Rahmen einer Abendgesellschaft zusammenzubringen. Na ja, ich brauche wohl nicht darauf einzugehen, wie diese Kuppelei bei Boyle ausgeht.
Sei mein Valentinsschatz
Die Begegnung Brandons mit der verwirrten Frau in der Bar aus der ersten Episode von I Walk Between the Raindrops hat noch ein Nachspiel, das uns Brandon bis hierhin unterschlagen hat. Denn nachdem die Verrückte bei ihm abgeblitzt war, hatte sie versucht, sich auf einem Bahngleis das Leben zu nehmen. Das nimmt sich Brandon in dieser Schlusssequenz schwer zu Herzen.
Ich bin ein wenig betreten angesichts der Tatsache, dass T. C. Boyle diese erste Kurzgeschichte als seinen Lieblingstext bezeichnet hat. Fühle ich mich unwohl mit der durchgängig negativen Grundstimmung der Episoden? Mit dieser latenten Passivität Brandons, die erst in den allerletzten Zeilen der Erzählung ein gewisses Maß an menschlicher Erregtheit weicht? Ja, irgendwie schon.
★★
What’s Love Got To Do With It?
2. —Die Älteren unter uns erinnern sich eventuell: Der Titel der zweiten Kurzgeschichte ist auch der Name eines außerordentlich erfolgreichen Popsongs, den die Queen of Rock ’n‘ Roll, Tina Turner, im Jahr 1984 auf ihrem Album Private Dancer veröffentlichte ♫ und der ihr erster und einziger Nummer-eins-Hit in den US-Billboard Hot 100 wurde. Außerdem wurde Turners Leben neun Jahre später unter eben diesem Titel verfilmt.
What’s Tina Got To Do With It? – Die letzten paar Zeilen habe ich nur deshalb hier aufgeschrieben, weil es das erste war, was mir beim Lesen des Titels durch den Kopf ging. Tatsächlich hat die zweite boylesche Kurzgeschichte des Bandes nichts mit dem Song zu tun 😉
Der Amokläufer von Isla Vista
Vielmehr ist die Erzählung eine biografische Aufarbeitung der Hintergründe eines ganz realen Amoklaufes im Jahr 2014 im Umfeld der University of California bei Santa Barbara. Der damals zweiundzwanzigjährige Elliot Rodger tötete sechs Studenten und verletzte vierzehn weitere Menschen, bevor er sich selbst mit einem Kopfschuss das Leben nahm.
Die formale Erzählerin in dieser achtzehnseitigen Kurzgeschichte ist eine gutsituierte Frau in mittleren Jahren, die auf einer längeren Bahnfahrt von Los Angeles nach Dallas mit einem jungen Mann namens Eric ins Gespräch kommt. Dieser Eric berichtet, Elliot Rodger nicht nur gekannt zu haben, sondern die Isolation des Amokläufers und seinen schiefen Blick auf die Welt zu teilen.
Eric und auch Elliot sind sogenannte Incel-Männer, involuntary celibates, also meist junge Männer, die keine Sexpartnerinnen finden und darüber Selbstmitleid und frauenfeindliche Gewaltfantasien entwickeln. Im Fall von Elliot Rodger eskalierten damals Ohnmachtsgefühl und psychopathischer Frauenhass. Von Teilen der Incel-Community wurde der Amokläufer als Held gefeiert.
Diese Geschichte ist eine der zahlreichen Erzählungen T. C. Boyles mit biografischem Charakter, die ich auf einer separaten Seite zusammengefasst habe.
★★★★
Schlaf am Steuer
3. —Flashback: Wer erinnert sich an das Kinofilmdrama von 1955 mit James Dean und Natalie Wood? An die berühmte Szene, in der zwei Halbstarke in geklauten Autos mit Vollgas auf eine Klippe zurasen. Wer als erster aus seinem Auto springt, hat das „Hasenfußrennen“ verloren. Im Film verheddert sich Deans Gegenspieler Buzz am Türgriff und stürzt mit dem Auto in die Tiefe. (Rebel Without a Cause | … denn sie wissen nicht, was sie tun)
Auf nur neunzehn Buchseiten trägt Boyle diese Geschichte in unsere gar nicht mehr so ferne Zukunft: eine tolle Geschichte, die in elf kurze Episoden und zwei Handlungsstränge aufgeteilt ist und uns vorspielt, wie das so sein wird, wenn selbstfahrende – und selbst denkende – Autos nicht mehr tun, was ihre Besitzer wollen. Die Hauptrollen in dieser modernen Variante spielen Cindy, eine geschiedene Frau in ihren besten Jahren, und ihr halbstarker Sohn Jackie.
Cindy, Carly, Jackie und die Fleet Cars
In den elf Episoden wechseln sich Cindy und Jackie als Protagonisten ab. Wir begleiten die Frau in ihrem vollautomatischen und allwissenden Auto namens Carly durch ein paar Tage ihres Lebens. Der Wagen beschränkt sich nicht auf das Fahren, sondern schlägt Routenänderungen vor, zum Beispiel um Cindy günstige Einkäufe zu ermöglichen. Außerdem öffnet er verstockt seine Türen nicht, wenn seine Besitzerin dadurch vermeintlich in Gefahr geraten könnte. Aber andererseits bietet er sich durchaus als Fluchtwagen an, als nämlich Cindy in eine gesetzeswidrige Situation gerät. Der Pontiac Trans Am K.I.T.T. aus der Achtzigerjahre-Serie Knight Rider lässt grüßen!
Wer sich allerdings kein eigenes KI-Auto leisten kann, mietet eben eines der selbstfahrenden Fleet Cars, die einen dort hinbringen, wo man sein möchte. Und wer sich den Mietzins nicht leisten kann? Der junge Jackie kapert ab und zu ein unbesetztes Fleet Car, indem er sich ihm in den Weg stellt und rasch aufs Dach springt. – S-Bahn-Surfen auf fahrerlosen Autos, sozusagen.
Als Jackie und seine Freunde den alte James-Dean-Schinken sehen, beschließen sie, zwei Fleet Cars zu hacken und das „Hasenfußrennen“ aus dem Film nachzuspielen. Zunächst geht auch alles gut, die Jugendlichen bringen zwei Mietwägen unter ihre Kontrolle und deaktivieren die Sicherheitsvorkehrungen.
Technik gegen Mensch
Wird es Cindy gelingen, eine sich anbahnende Romanze zu einem One-Night-Stand bei ihr zu Hause werden zu lassen? Auch wenn Carly, ihr mitdenkendes Auto, die Heimfahrt verweigert? Und wie wird Jackies Mutprobe enden? Werden er und/oder sein Kontrahent in den beiden gehackten Fleet Cars über den Klippenrand in den Tod rasen? – Was soll ich sagen, alles endet eben so richtig boylesk!
Schlaf am Steuer ist eine außergewöhnliche Erzählung, die mir sehr gut gefallen hat. Bei The New Yorker habe ich übrigens eine Lesung dieser Kurzgeschichte gefunden: T. C. Boyle liest Asleep at the Wheel 🇬🇧, 34 Minuten.
★★★★★
Ich nicht
4. —Diese vierte Erzählung kommt mir irgendwie bekannt vor: Ein junger Mann, der irgendwo im „Norden Westchesters“, also genau dort, wo Boyle selbst aufgewachsen ist, eine Stelle als Englischlehrer antritt. Richtig, da gab es ja im Kurzgeschichtenband Zähne und Klauen (2008) eine Erzählung mit dem Titel Gegen die Wand über einen John Caddis, die im Jahr 1968 handelte. Darin schrammt der Englischlehrer John knapp an einer Drogenkarriere vorbei.
Ich nicht hat das gleiche Ausgangsszenario. Hier hat der gelangweilte Junglehrer zwar keinen Namen. Aber der Erzählton ist der gleiche. Nur dass es diesmal nicht um Drogen geht, sondern um das zweite große Ding, das die Leute damals in den Sechzigern und Siebzigern umtrieb. Nämlich um Sex. An der Schule des Erzählers gibt es zwar Regeln, die Beziehungen insbesondere zwischen Lehrkräften und Schüler¦innen unterbinden sollen. Doch eine Kollegin macht kein Geheimnis daraus, mit einem ihrer Schüler aus der Abschlussklasse zu schlafen. Ein anderer, älterer Kollege unterhält eine Beziehung zu einer Schülerin. Über all das wird im Kollegium mehr oder weniger offen getratscht. Schließlich tun sich Abgründe auf und auch unser Junglehrer landet mit mehr als nur einer Kollegin im Bett.
#MeToo?
„Das alles war vor langer Zeit. Damals hatte ich den Ausdruck »sexuelle Belästigung« noch nie gehört – niemand hatte ihn je gehört.“
Andere Zeiten, andere Sitten. Der Boyle von heute stellt in seinem Text dem aktuell vorherrschenden Moralverständnis die Erlebnisse des damaligen Boyle entgegen. Was heutzutage sehr schnell mit einem #MeToo-Vorwurf enden würde, war vor sechzig Jahren als Ausdruck der „freien Liebe“ gang und gäbe: NotMe statt MeToo!
★★★★
5. — Die Wohnung
Eine Finanzwette auf die Zeit kann man nicht verlieren? – Der Börsenaltmeister André Kostolany empfahl den Deutschen einst: „Kaufen Sie Aktien, nehmen Sie Schlaftabletten und schauen Sie die Papier nicht mehr an. Nach vielen Jahren werden Sie sehen: Sie sind reich.“ Damals, im Jahr 1994, wurde die berühmte Volksaktie der Deutschen Telekom zu einem Ausgabekurs von 28,50 DM verkauft. Vier Jahre später war sie mehr als das Siebenfache wert. Doch weitere zwanzig Jahre später war das Papier nur mehr genauso viel wert wie am Ausgabetag.
Die Immobilienwette von Arles
In Boyles fünfter Kurzgeschichte, die sich in der südfranzösischen Stadt Arles abspielt, bietet ein Jurist im Alter von 47 Jahren einer alten Dame aus der Nachbarschaft ein gutes Geschäft an; gut für beide Seiten: Die Neuzigjährige solle eine monatliche Leibrente in Höhe von 2.500 Franc* erhalten, nach ihrem Tod werde ihre großzügige Wohnung dem Juristen zufallen; egal wie lange Madame C. noch am Leben bleiben sollte. Die alte Dame schlägt in den Handel ein.
Auf einundzwanzig Buchseiten erzählt uns der Autor zwei Leben, das der Madame C. und das des Monsieur R., während die Zeit verrinnt und beide immer älter werden. Man vermeint, die Sekunden ticken zu hören und die Jahre immer tiefere Falten in die Gesichter der beiden im Spiegel furchen zu sehen.
Wie alt kann ein Mensch werden? Der heute verlässlich belegt älteste Mensch ist Jeanne Calment. Die Französin wurde in der Stadt Arles in der Provence geboren. Ihre 122 Jahre und 164 Tage stellen die weltweit längste bisher zweifelsfrei dokumentierte Lebensdauer dar. Sie verstarb schließlich im Jahr 1997.
Sieh an, da tischt uns T. C. Boyle also eine weitere biografische Erzählung auf. Die gesamte Lebensgeschichte seiner „Madame C.“, einschließlich dieser Leibrente, entspricht übrigens tatsächlich in allen Details der wahren Biografie von Jeanne Calment. Der unglückselige „Monsieur R.“ hieß im echten Leben André-François Raffray. (Quelle: Wikipedia)
★★★
* — Nach heutiger Kaufkraft wären diese 2.500 Franc aus dem Jahr 1965 fast 3.900 Euro wert.
6. — Dies sind die Umstände
Auf den folgenden sechzehn Buchseiten erzählt uns Boyle eine Episode aus dem Leben von Nick und seiner Lebensgefährtin Laurel. Darin geht es um den unvorsichtigen Umgang der Menschen mit den Gefahren, die die Natur für uns auf Lager hat. Die Moral von der Geschicht‘: Leg Dich nicht unbedacht mit etwas an, was zwicken, stechen oder beißen kann! Insbesondere dann nicht, wenn Du keine Ahnung von den Geschöpfen der Natur hast. Denn sonst verlierst Du womöglich den Mittelfinger, den Du dringend brauchst, „um Leuten, die bei Rot über die Ampel fahren oder Dir die Vorfahrt nehmen, auf ihre Fehler hinzuweisen“.
Im Grunde ist die Erzählung aus dem Munde Nicks nichts anderes als eine Variation der Erlebnisse der beiden Geschwister Cullen aus dem vorausgegangenen Roman Blue Skies. Dort verliert Cooper nach einem Zeckenbiss einen Unterarm und Catherines Hauspython erwürgt eines ihrer Babys. Hier in der Kurzgeschichte werden die unerfreulichen „Umstände“ durch eine Erdheuschrecke, eine Klapperschlange und eine Braune Einsiedlerspinne bestimmt.
★★
7. — Der dreizehnte Tag
Hintergrundwissen: Am 5. Februar 2020 wurde das Kreuzfahrtschiff Diamond Princess im Hafen von Yokohama vierzehn Tage lang wegen COVID-19-Befunden unter den Passagieren unter Quarantäne gestellt. Infizierte Personen wurden damals zur Behandlung auf Krankenhäuser in Yokohama und Umgebung verteilt. Insgesamt wurden der WHO 712 Infizierte an Bord des Schiffes gemeldet, es gab 7 Todesfälle und 32 kritische Fälle. (Quelle)
In Boyles Kurzgeschichte heißt das Schiff Beryl Empress. Erzähler der Geschehnisse ist ein Argentinier namens Jorge, der mit seiner Frau Amarita – beide in ihren Sechzigern – eine Kreuzfahrt im Chinesischen Meer antritt, als sich der Kreuzer in ein schwimmendes Gefängnis im Hafen von Yokohama verwandelt.
Muss ich eigentlich erwähnen, dass in T. C. Boyles Erzählung die Erkrankten nicht evakuiert werden? Sondern dass die Geschichte ins Apokalyptische abdriftet? Die Beryl Empress wird mit über 2.000 Menschen an Bord aus dem japanischen Hafen ausgewiesen und schippert wie ein mittelalterliches Pestschiff übers Meer. Ohne Proviantnachschub wird der Pott auch an den nächsten Häfen abgewiesen. Passagiere geraten außer sich. Schließlich wird die Dame in der Nachbarkabine von Jorge und Amarita tot aufgefunden. Aber das ist noch immer nicht der Schlusspunkt der bizarren Schilderung der Ereignisse.
★★★
Der Schlüssel zum Königreich
8. —Wir dürfen mutmaßen: T. C. Boyle hat sich ein dauerhaftes Alter Ego zugelegt. Der Protagonist der achten Erzählung des Bandes ist ein gewisser Frank Riley. Frank X. Riley, oder F. X. Riley. F. X. so wie T. C., Riley wie Boyle? Wie auch immer, genau dieser Riley hatte schon vier Jahre zuvor einen Auftritt in Ein Tod weniger. Auch damals war er Schriftsteller, paddelte gerne im Kanu herum. Diesmal hat er ein besonderes Faible für alkoholische Getränke, auch nichts Ungewöhnliches in Boyles Geschichten.
Die Erzählung erstreckt sich über einundzwanzig Buchseiten und ist zweigeteilt. Zweigeteilt, allerdings nicht sehr trennscharf. Denn die beiden Handlungsstränge gehen dann und wann unangekündigt ineinander über, als Leser muss man da schon ein bisschen aufpassen.
Der alte F. X. Riley
… ist gerade Strohwitwer und lässt sich zu Hause gemütlich vollaufen, als es an der Haustüre schellt. Ein junger Mann steht vor der Tür, der sich als Frank vorstellt und andeutet, er sein mit dem Schriftsteller verwandt. Das habe er über eine DNA-Datenbank 🇬🇧 herausgefunden. Ist dieser Frank junior tatsächlich Frank X. Rileys Sohn? Ein Sohn, den der Schriftsteller vor einem Vierteljahrhundert mit einer gewissen Heather gezeugt haben könnte? Zumindest stellt Frank junior diese Möglichkeit in den Raum.
Der junge F. X. Riley
Während des Besuchs von Junior gleitet Rileys Erinnerung immer wieder zurück in die Zeit, als er angehender Schriftsteller war. Nach der Veröffentlichung seines ersten Romans war er damals zu Besuch bei seinem ehemaligen Mentor, hier in der Erzählung einem Dave Davit. Anlass war eine Romanlesung Rileys an seiner früheren Universität. Doch der Vorabend der Veranstaltung ging unter in einem ausufernden Besäufnis mit dem Mentor. Die Nacht endete für Riley schließlich mit einer Studentin im Bett seines Motelzimmers. Und tatsächlich: Der Name dieser Studentin damals lautete Heather.
Die alkoholgetränkten Erinnerungen Rileys an jene Tage enden in einer Bestandsaufnahme, die interessant zumindest für diejenigen unter uns ist, die gerne ein bisschen herumrätseln an T. C. Boyles nebulöse Vergangenheit:
„Er flog nach Hause und heiratete das Mädchen, das dort auf ihn wartete, was okay war, was fast zehn Jahre funktionierte, danach ließ er sich von ihr scheiden und heiratete Crystal, von der er sich sechs Jahre später scheiden ließ, um Caroline zu heiraten, dieses um die Jahrhundertwende erbaute Farmhaus mit den von Hand bearbeiteten Hickorybalken und dem Kamin aus Feldstein zu kaufen …“
(Seite 172)
Autobiografisches?
All die Namen rund um Riley schwirren uns nur so um die Ohren? Wer ist der ominöse trunksüchtige Professor Dave Davit? Boyles Mentor an diesem nicht näher bestimmten College „im äußersten Norden des Staats New York“? Ist Caroline vielleicht Boyles Frau Karen im echten Leben? Dieses Farmhaus würde jedenfalls dazu passen. Aber natürlich gibt es auch jede Menge Details, die sich nicht einfügen. Jedenfalls hatte Boyle keinen Bruder. Ebensowenig war er bisher dreimal verheiratet. Wir dürfen uns also aussuchen, wo wir diese Geschichte verorten wollen.
„I’ve got a key to the kingdom and the world can’t do me no harm“
(Josh White, Bluessänger, im Refrain des Songs Got A Key To the Kingdom ♫)
★★★★
9. — SKS 750
Die Abkürzung SKS im Titel dieser Kurzgeschichte steht nicht für „Studienkolleg für Sprachausbildung“. Auch nicht für „Sozialkompetenz-Schulung“. Sondern für Sozialkreditsystem, einer Art Schufascore über das persönliche Verhalten. Die Geschichte trägt sich in einer gar nicht so fernen Zukunft zu. Erzähler über die achtzehn Seiten hinweg ist ein junger Mann, wahrscheinlich in seinen Zwanzigern, der ganz beiläufig vom Leben unter der Herrschaft eines „geliebten Führers“ berichtet.
Meine Lektüre von Deve Eggers‘ Der Circle und Every liegt nur ein paar Wochen zurück. Sofort fühle ich mich zurückversetzt in Eggers‘ Schreckenswelt mit lückenloser Kamerakontrolle und Einbindung in ein alternativenloses soziales Kommunkationssystem. Auch in der Boyle-Geschichte entkommen die Protagonisten nicht der flächendeckenden Gesichts- und Körperkontrolle. Sie geben ihre Gedanken bei Alibaba, auf WeChat und WeDate preis und schielen ständig auf den Zahlenwert, den ihnen das Herrschaftssystem verpasst:
„Zhima Credit stellt sicher, dass guten Bürgern alle Straßen offenstehen, während die Schlechten nirgendwohin können. […] Alles um 700 brachte dich auf die Überholspur zu allen Vergünstigungen, von der Erlaubnis zu fliegen über Leihwagen […] bis zu Preisnachlässen für so gut wie alles. Ich hatte noch nie von jemandem unter 500 gehört, es war das Territorium der Parias und Ausländer und anderer Randgruppen. Sank man unter 500, konnte man sich genausogut erschießen.“
Nach ein paar Leichsinnigkeiten steht unser Erzähler mit seinem SKS-Punktestand auf der Kippe. Aber es wäre doch gelacht, wenn er sich da nicht herausarbeiten könnte. Auch wenn er sich dafür von Devin, seinem besten Freund, trennen muss, der definitiv dabei ist, ins Abseits zu trudeln. Schließlich bekommt er dafür eine neue Freundin, Jewel, mit der er ganz bestimmt in die leuchtend blaue Zone der 750er aufsteigen würde. Oder etwa nicht?
★★★
10. — Big Mary
Wer erinnert sich an das Jahr 1978 und an den Top-Twenty-Hit Fat Bottomed Girls ♫ der britischen Rockband Queen? Geschrieben hat den Song der Gitarrist Brian May, es geht darin um die Anziehung, die wohlgerundete Frauen ausüben: „Fat bottomed girls, you make the rockin‘ world go ’round!“
Es ist schwer vorstellbar, dass ein derartiger Songtext heute, fast ein halbes Jahrhundert später, ohne lautstarke Proteste durchgehen würde. Doch nun hat T. C. Boyle eine Kurzgeschichte über die schwergewichtige Mary veröffentlicht. Mary ist eine selbstbewusste junge Frau, die Anfang der Siebzigerjahre häufiger Gast im Stammlokal einer unbedeutenden Bluesband ist. Der Erzähler der Affaire, genannt Doke, ist Musiker in dieser Band. Körperlich ist die stämmige Mary allen Männern in der Kneipe überlegen, im Armdrücken gewinnt sie gegen jeden. Schließlich stellt sich auch noch heraus, dass Mary eine fantastische Singstimme hat. Ohne viel Federlesens übernimmt sie die Band, „weil sie es konnte“. Und sie übernimmt auch Doke, zieht bei ihm ein.
Hand aufs Herz: Wer glaubt, dass die siebzehn Buchseiten auf ein Happy End hinauslaufen? Niemand? – Na ja, was soll ich sagen. Mary lässt sich auf ein Techtelmechtel mit Dokes Erzfeind ein und die Geschichte eskaliert richtig heftig.
★★★
Die Hyäne
11. —Hintergrundwissen: Im August des Jahres 1951 kam es in der französischen Gemeinde Pont-Saint-Esprit, nördlich von Avignon gelegen, zu einer Massenvergiftung durch Mutterkorn. Von einer örtlichen Bäckerei war verunreinigtes Mehl verarbeitet worden. Nach dem Konsum litten 250 Bewohner unter halluzinatorischen Vergiftungssymptomen, fünfzig wurden in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Es gab sieben Tote.
Der Vorfall wurde unter dem Begriff Affaire du pain maudit 🇫🇷 | Affäre des verfluchten Brotes bekannt. Im Mittelalter waren derartige Massenvergiftungen unter dem Namen „Antoniusfeuer“ gefürchtet. Die damit einhergehenden bizarren Wahnvorstellungen wurden Hexen zugeschrieben, es kam zu den berüchtigten Verfolgungen und Verbrennungen.
Die Mutterkorn-Hyäne
Boyle macht aus der überlieferten Schreckensgeschichte eine ungeheuer beeindruckende Erzählung. Auf fünfzehn Seiten berichtet er aus der Perspektive eines einfachen Fischers, was sich damals so zugetragen haben mag. Ich habe mich an den Roman Das Licht aus dem Jahr 2019 erinnert gefühlt. Darin schildert der Autor sehr überzeugend die Wirkung von LSD-Trips. (Oberschlaumeierei am Rande: Mutterkorn und LSD sind beides Lysergamide. Der Mutterkornpilz wächst auf Getreide und enthält Alkaloide. LSD hingegen ist ein synthetisches Derivat solcher natürlicher Alkaloide.)
In Pont-Saint-Esprit sehen die Betroffenen Hyänen, zweiköpfige Schlangen, riechen den Gestank toter Mäuse, erleben gar den eigenen Tod. Die gefühlten Erlebnisse der Menschen müssen furchtbar gewesen sein. T. C. Boyle schafft es mühelos, uns in die grotesken Wahnvorstellungen der Vergifteten hineinzuziehen. Eine wahrlich grandiose Historie!
Ich habe die Geschichte unter Boyles Erzählungen mit biografischem Bezug gelistet, auch wenn es sich nicht um eine personenbezogene Begebenheit handelt.
★★★★
Die Form einer Träne
12. —Versetzen wir uns einmal hinein in ein junges Paar, das beschlossen hat, eine Familie zu gründen. Eine gewisse Zeit hat es schon gedauert mit der Schwangerschaft. Aber die beiden haben alles dafür getan, und schließlich hat es geklappt. Mama und Papa sind überglücklich. Was kann es Schöneres geben als eigenen Nachwuchs!
Doch drei Jahrzehnte später hat sich der einst heiß geliebte Sprössling in einen asozialen Schmarotzer verwandelt, der sich weigert, erwachsen zu werden. Irgendwo ist beim Abnabelungsprozess zwischen Eltern und Sohn etwas schief gelaufen. Als der Junge seine Freundin schwängert, weist er jegliche Verantwortung zurück, trennt sich und zieht wieder bei den Eltern ein. Die traktiert er mit wummernder Metalmusik, spielt Videogames, plündert schamlos den Kühlschrank und verweigert die Arbeitssuche.
Familiendrama in dreizehn Akten
Ein solches Familiendrama präsentiert uns Boyle über einundzwanzig Buchseiten hinweg in der vorletzten Kurzgeschichte des Erzählbandes. Im Wechsel berichten der 31-jährige Justin und seine Mutter über die Situation. Aus dem jungen Mann sprechen Empörung über all die Ungerechtigkeiten, die ihm seine Eltern zufügen, ein überzogenes Anspruchsdenken sowie pubertäre Verweigerungshaltung und rasender Hass auf alle, die seiner verqueren Egologik nicht folgen wollen. Das Konzept der Eigenverantwortung kennt Justin gar nicht.
Seiner Mutter merkt man ihr schlechtes Gewissen an, obwohl ihr doch gar nichts anderes übrig bleibt, als Grenzen zu ziehen; wenn sie nicht zur Sklavin ihres emotional nicht verfügbaren Sprösslings werden will.
Die messerscharfe Analyse von Beziehungsproblemen war schon immer eine der boyleschen Spezialitäten. Er bedient sich oberflächlich gesehen einer Neutralität und Objektivität und schafft es dennoch, seine Parteinahme unmissverständlich durchscheinen zu lassen. Vieles erschließt sich der Leserschaft auch dadurch, dass es eben nicht erwähnt wird. In diesem Beispiel etwa der fehlende Auftritt von Justins Vater, dessen Kommunikation mit dem Sohn längst vollständig und unwiederbringlich abgerissen ist.
Die Form einer Träne ist womöglich meine Lieblingsgeschichte des ganzen Bandes, ein Meisterwerk der Beziehungspsychologie.
★★★★★
13. — Hundelabor
Jackson ist Medizinstudent im dritten Jahr. Zu seinem Studium gehört auch ein Chirurgiepraktikum. Die Übungsoperationen werden an Laborhunden durchgeführt, die aus Tierheimen stammen, in Käfigen im Keller der Uniklinik gehalten und nach mehreren Übungs-OPs eingeschläfert werden.
„»Denkt nicht an sie wie an Familienhaustiere«, hatte Dr. Markowitz […] gesagt. »Haltet sie für ein Problem, das gelöst werden muss.«“
Doch Jackson hält sich nicht an den Ratschlag seines Professors. In den Pausen seiner Nachtschichten besucht er die Hunde im Labor und führt schließlich sogar „seinen“ Hund Gassi vor die Klinik. Als alle Operationen an den Laborhunden durchgeführt sind und der Tag des Abschieds für immer näher rückt, erträgt Jackson diesen Gedanken nicht. Was wird der junge Mann tun? Seinen Laborhund entführen? Doch wohin mit dem Tier?
Bekanntermaßen ist T. C. Boyle ein aktiver Natur- und Tierfreund und vor allem auch passionierter Hundebesitzer. Besucher seines X- oder Bluesky-Profils 🇬🇧 kennen die fast täglichen Fotos seiner Hündin Ilka, einem ungarischen Hütehund der Rasse Puli. Es überrascht also wenig, dass der Schriftsteller hier ein Plädoyer für das Lebensrecht von Laborhunden hält.
(Mich würde interessieren, wieso Boyle diese Geschichte einem gewissen Joe Purpura gewidmet hat. Denn wenn man ein wenig recherchiert, stößt man rasch auf einen kalifornischen Geburtshelfer und Gynäkologen gleichen Namens, der ebenfalls ein Buch geschrieben 🇬🇧 hat und in der Nachbarschaft der Boyles lebt. Ich stelle mir vor, wie sich die beiden Männer bei einem Glas Rotwein über Laborhunde unterhalten haben könnten. Ach ja, meine Fantasie …)
★★★
~
Wer diese Besprechungen gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Rezensionen zu Boyle-Romanen und -Erzählungen auf dieser Website zu finden sind.
Fazit:
T. C. Boyle ist einer der wenigen Autoren, die sich gleichermaßen ihren Romanen wie auch Kurzgeschichten verschrieben haben. Die dreizehn Geschichten des Erzählbandes I Walk Between the Raindrops erschienen während der vergangenen Jahre bereits in Magazinen wie Esquire, McSweeney’s, Narrative, Playboy, The Kenyon Review, The New Yorker, Zoetrope, bevor sie im vergangenen Jahr in Buchform zusammengepackt wurden. Dieser Band ist seit 1979 der zwölfte nach Boyles Erstling The Descent of Man | Tod durch Ertrinken.
Bisher alle Erzählbände, über die ich auf dieser Website geschrieben habe, sind ausnahmslos bei drei von fünf Wertungssternen gelandet. Das gilt nicht nur für die boyleschen Kurzgeschichten, sondern für die aller Autoren. Vermutlich liegt das einfach daran, dass alle Sammelbände gute wie nicht ganz so gute Erzählungen beinhalten. Doch siehe, oh Wunder, hier liegt uns nun die allererste Ausnahme zu dieser Regel vor. Tatsächlich ergeben sich für I Walk Between the Raindrops gemäß meinem Bewertungsalgorithmus vier von fünf Sternen. Zwar knapp, aber doch ohne jeden Zweifel.
T. C. Boyle, I Walk Between the Raindrops
🇺🇸 Ecco Press, 2022
Carl Hanser Verlag, 2023
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