Die Schriftstellerkarriere des US-amerikanischen Bestsellerautors T. C. Boyle begann im Jahr 1979. Im Februar jenes Jahres erschien beim kleinen Bostoner Literaturverlag Atlantic Monthly Press der Erzählband The Descent of Man | die Abstammung des Menschen, als Anspielung auf das berühmte Darwin-Werk aus 1871. Damals war T. C. Boyle 32 Jahre alt. Seine Erzählungen waren in den Jahren zuvor in verschiedenen Zeitschriften abgedruckt worden. Drei Jahre später veröffentlichte Boyle seinen ersten Roman mit dem Titel Water Music. Die deutsche Leserschaft entdeckte Boyle überhaupt erst Ende der Achtzigerjahre. Es sollten bereits die ersten fünf seiner Romane in deutscher Übersetzung in den Verkauf gegangen sein, bevor sich der Hanser Verlag des allerersten Erzählbandes seines inzwischen arrvierten Paradegauls annahm. Boyles Erstling erschien 1995 unter dem Titel Tod durch Ertrinken.
Der deutsche Buchtitel ist gleichzeitig Überschrift der siebzehnten und letzten Erzählung des nur 230 Textseiten langen Bandes. Im englischen Original heißt diese Geschichte Drowning und ist wohl die schwächste oder zumindest unergründlichste der Kurzgeschichten.
Die US-Literaturrezensionen zu Boyles erstem Geschichtenbändchen waren durchwegs positiv bis hymnisch. Der Houston Chronicle schrieb beispielsweise im April ’79:
„Boyle ist ein hervorragender Satiriker. Er ist nicht nur ein geschickter Geschichtenerzähler – ein Verweber verrücktester Lebensmomente –, sondern er besitzt auch die Fähigkeit, Schichten der Überheblichkeit abzutragen, die unser tägliches Leben umgeben. Er nimmt sich genau die Dinge im Leben vor, die uns am meisten am Herzen liegen, zwingt uns, sie gründlich zu untersuchen; und wagt es dann, uns zu zeigen, wie trivial sie in Wirklichkeit sind. Boyle ist kein Humorist von der Stange. Er ist einfach niederschmetternd.“
1. – Abstammung des Menschen
„Ich lebte mit einer Frau zusammen, die plötzlich zu stinken anfing. Es war eine heikle Angelegenheit.“ – Mit diesen beiden Sätzen betritt also T. C. Boyle die literarische Bühne. Nur sechzehn Worte braucht er, um die Leserschaft haltlos in den Sog all seiner kommenden, absurden, ätzend komischen oder nachdenklich machenden Geschichten zu ziehen.
In dieser allerersten Erzählung Boyles präsentiert er uns auf sechzehn Seiten die vernichtende Niederlage des Erzählers, dessen Lebensgefährtin (ausgerechnet namens „Jane“ ¹) ihn verlässt, um künftig ihr Leben an der Seite eines männlichen Schimpansen zu verbringen. Eines Schimpansen im Primatenzentrum, an dem Jane arbeitet. Eines genialen Schimpansen, der Yeats zitiert sowie Darwin und Chomsky ins Yerkische übersetzt, wohl eine Art Primatensprache.
Interessant ist, dass Boyle diese Kurzgeschichte 22 Jahre später in seinem Roman Sprich mit mir erneut aufnimmt. Um Längen weniger drastisch zwar, aber doch auch mit dem gleichen, im Hintergrund lauernden Verdachtsmoment.
¹ — Tarzan und Jane? Jane Goodall?
★★
2. – Der Champion
Der alternde Angelo D., amtierender Weltmeister im Schwergewicht, steckt in den Vorbereitungen zum bevorstehenden Titelkampf. Sein Herausforderer ist deutlich jünger und um einige Pfunde schwerer. Wie wird das Weltmeisterschaftsduell enden? Wird der Jüngere Angelo besiegen?
Nein, in diesem Geschichtchen von nur neun Seiten Länge geht es nicht ums Boxen. Auch nicht um Wrestling. Die beiden Kontrahenten sind Vielfraße. Welcher von beiden wird in den siebzehn Kampfrunden mehr in sich hineinschaufeln können? Es sieht nicht gut aus für Angelo. Doch im letzten Moment kommt sein mit allen Wasser gewaschener Trainer mit einer Geheimwaffe um die Ecke.
★★★
Wir sind Nordländer
3. –Boyle springt mit uns an seiner Seite zurück ins Mittelalter. Er verleiht einem Skalden, so nannte man die höfischen Barden skandinavischer Stämme, seine Stimme und begleitet in dessen Person eine wilde Horde nordischer Kampmaschinen nach Westen auf deren erstem Beutezug nach einem besonders harten Winter. Doch das Boot der Thorkells verpasst sein Ziel Irland. Die Kämpfer landen nach sechs Wochen Wasserschöpfens an unbekannten Gefilden. Die anfängliche Euphorie weicht jedoch der Enttäuschung: Außer ein paar dürren Hunden und mageren Rothäuten hat die neu gefundene Gegend nämlich wenig zu bieten.
„Dieses Neufundland ist keinen Pfifferling wert“, mault der Wikingerchef. Und so machen sich die hornbehelmten barbarischen Seeräuber wieder auf nach Osten, um nach zwölf Buchseiten endlich wieder ein paar fette irische Mönche abzuschlachten. Amerikas Zeit war noch nicht reif.
★★
Ein Herz und eine Seele
4. –Die Colliehündin Lassie war der Star einer US-amerikanischen Fernsehserie der Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre. Das kluge Tier lebte auf einer Farm in den USA und rettete ihren Spielgefährten, erst den kleinen Jeff und später dessen Nachfolger Timmy, immer wieder aus gefährlichen Situationen in der Natur oder mit wilden Tieren. In dieser vierten Geschichte tischt uns T. C. Boyle ein fiktives Drehbuch aus dem Superhelden-Hunde-Epos auf. Inklusive Regieanweisungen zur jeweiligen paradiesischen oder apokalyptischen Szenerie und zur passenden Hintergrundmusik.
Auf elf Textseiten darf Lassie zunächst ihren Timmy noch einige Male aus lebensgefährlichen Schreckensszenen retten. Doch dann taucht ein räudiger Kojote auf, ein furchtbarer Geselle, der jedoch Lassies Hormonhaushalt gehörig durcheinander bringt. Es kommt, was kommen muss: Lassie lässt Timmy im Stich, um mit dem Kojoten das zu treiben, was Hundeartige eben seit Jahrtausenden miteinander machen. – Eine hundsgemeine Parodie auf die honigsüße heile Welt der Nachkriegsjahrzehnte. (Und darauf, dass sogar die klügsten und hübschesten Frauen doch immer wieder auf die gleichen Halunken hereinfallen?)
★★★★
Blutregen
5. –Die sieben Plagen der Endzeit oder die „Schalen des Zorns“ aus der Johannesapokalypse; mit diesem Bild konfrontiert uns Boyle in seiner fünften Kurzgeschichte. Im letzten Buch des Neuen Testaments wurden in der Endzeit vor dem Jüngsten Gericht die Meere, Flüsse und Quellen zu Blut, bei T. C. Boyle regnet es nun tage- und nächtelang Blut.
Wir erleben den Blutregen über vierzehn Seiten hinweg zusammen mit den Migliedern einer Hippiekommune, die sich als unfähig erweist, sich mit der Apokalypse auseinanderzusetzen, geschweige denn mit ihr zurecht zu kommen. Die gesamte Szenerie wirkt wie eine dramatische Endzeitvariante aus der Kommune, die der Autor ein Vierteljahrhundert später in seinem Roman Drop City beschreibt.
★★★
Er schwimmt wieder
6. –Wer schwimmt da wieder? – Nun, der Schwimmer ist in diesem Fall der einstige Vorsitzende und Präsident der Volksrepublik China, Mao Zedong, der anlässlich seines Geburtstages im Dezember ein Bad nimmt. Aufhänger für das Bild des schwimmenden Parteivorsitzenden ist eine wahre Begebenheit aus dem Jahr 1966, als Mao tatsächlich eine Strecke von zwölf Kilometern im Jagtse schwamm, um seine Stärke und Gesundheit öffentlich unter Beweis zu stellen. Die darauf aufbauende boylesche Geschichte, die sich über siebzehn Buchseiten erstreckt, ist eine Aneinanderreihung von Szenen der widersprüchlichen chinesischen Realität, aus der Sicht mehrerer Zeitgenossen, die sich letztlich alle miteinander verweben. Einer der Protagonisten bei Boyle ist Mao Zedong selbst, der an seinem Geburtstag unbeobachtet ein kommunistisches Grafitto in die Toilettenwand schnitzt und später unter dem Jubel seiner Untertanen ins Wasser geht: Er schwimmt wieder!
Aus heutiger Sicht wirkt die absurde Erzählung aus der Zeit gefallen. Man muss diese aberwitzige Groteske wohl als Boyles kritische Parodie auf die China-Euphorie der beginnenden Siebzigerjahre lesen. Denn 1972 reiste der stramme Antikommuniste Richard Nixon nach Peking, um eine Annäherung zwischen den USA und Mao in die Wege zu leiten. Mao-Sticker waren damals in vielen westlichen Ländern ein Verkaufsschlager, Mao-Anzüge der letzte Schrei. Vor dem Hintergrund der politischen Weltlage in den 2020ern könnte die Geschichte womöglich als historische Vergleichsvorlage zur Positionierung dienen.
★★
7. – Dada
An die Groteske um den chinesischen Alleinherrscher Mao hängt Boyle gleich noch eine weitere politische Persiflage an. Auf nur fünf Seiten geht es um die Planung und Durchführung der (fiktiven) Zweiten Internationalen Dada-Ausstellung, die eine gewisse Zoë gemeinsam mit gelangweilten Freunden – einem Friedrich, einem Klaus und einem Werther – in Klaus‘ Loft in New York City organisieren möchte. Auf der Suche nach einem dadaistischen Herzstück für die Veranstaltung stoßen die vier zufällig auf Idi Amin Dada. Zoë macht sich auf den Weg nach Uganda und schleppt den Diktator samt menschlicher und tierischer Entourage zur Dada-Messe nach Manhattan.
Wie schon in der vorhergehenden Geschichte entsteht das Absurde aus haarsträubenden Widersprüchen zwischen menschlichen Momenten und harter politischer Wahrheit. In der Geschichte ist Idi Amin alias „Big Daddy“ ein liebenswerter, wenn auch vollkommen verrückter Teddybär; grenzenlos von sich selbst überzeugt, aber offenbar harmlos und recht einfach zu manipulieren. Die Historie hingegen besagt, dass der „Schlächter von Afrika“ ein besonders brutaler Gewalttäter war, dem während der acht Jahre seiner Diktatur in Uganda (1971–1979) mehrere hunderttausend Menschen zum Opfer fielen – darunter auch einige seiner Ex-Frauen.
★★★
8. – Ein Frauenrestaurant
Die Siebzigerjahre waren das zentrale Jahrzehnt des women’s liberation movement in den USA. Kein Wunder, dass es sich T. C. Boyle nicht verkneifen kann, in seinem zeitgenössischen Erzählband auch zu diesem Thema eine Anekdote beizusteuern. Ein namenloser Erzähler berichtet über ein Restaurant in einer namenlosen Stadt, in dem ausschließlich Frauen als Gäste zugelassen sind. Zunächst ist der Mann erstaunt, doch sehr bald grenzenlos neugierig: Was machen all die Frauen dort bloß? Das muss er herausfinden, sonst wird er keine Ruhe finden. Doch seine Versuche, sich über achtzehn Buchseiten hinweg Zutritt zu verschaffen, scheitern einer nach dem anderen. Bis er auf die Idee kommt, sich Frauenkleidung zu beschaffen. Das wäre doch gelacht! – Tja, aber selbst die perfekte Verkleidung als Frau wird durchschaut, wenn man(n) dann auf der Toilette im Stehen pinkelt und dabei beobachtet wird. Doch schließlich gäbe es ja noch eine allerletzte, allerdings irreversible Möglichkeit, tatsächlich als Frau durchzugehen.
Gerade vor dem Hintergrund der weitreichenden Debatten über Geschlechteridentität der 2010er- und 20er-Jahre liest sich Boyles Geschichte gar nicht so absurd, wie es der Autor wahrscheinlich beabsichtigt hatte. Man könnte bei der Lektüre vielleicht sogar nachdenklich werden. (Und mit dieser Überlegung sind wir nun physisch in der Mitte des Erzählbandes angekommen.)
★★★★
Geschichte vom Aussterben
9. –Die folgenden neun Textseiten bringen eine Zäsur, einen Einschnitt in den Fluss zynischer oder absurder Erzählungen, die uns der Autor bis dahin präsentiert hat. T. C. Boyle kommt auf ein Thema zu sprechen, mit dem es ihm todernst ist und das ihn – und uns als seine Leserschaft – von da an bis heute ständig begleitet. Die Zerstörung der Natur durch den Menschen ist Boyle eine Herzensangelegenheit. Wer seinem X-Account folgt, weiß beispielsweise bald, dass er Jahr für Jahr auf seinem Grundstück Futterpflanzen für den vom Aussterben bedrohten Monarchfalter ansät. Die Ernsthaftigkeit merkt man dem Text sofort an. Ihm fehlt das Provozierende, das grotesk Ironische der anderen Erzählungen. Hier ist Schluss mit lustig!
Es handelt sich um eine Sammlung aus drei kurzen Fragmenten, die jeweils das Ende einer irdischen Spezies beschreiben ². Im ersten sorgt eine einzige arglos auf eine kleine Insel verbrachte Hauskatze dafür, dass eine seltene Vogelart, die nur noch dort lebte, aufhört zu existieren. Das zweite Fragment ist die Geschichte des Aussterbens der einst in Massen vorkommenden Wandertaube. Findige Fleischlieferanten fangen ganze Schwärme der Vögel mit großen Netzen, um die Nachfrage nach dem Delikatessfleisch zu stillen. Solange bis es keine einzige Wandertaube mehr gibt. Und die dritte Geschichte handelt vom Tod der beiden letzten tasmanischen Ureinwohner, Angehörige eines Stammes, die die britischen Siedler in Australien auf dem Gewissen haben.
Voneinander getrennt werden diese Fragmente durch kleingedruckte Dreizeiler faktischen Inhalts zum Stand der Dinge bei der Ausrottung bestimmter Gruppen von Lebewesen. Der erste Einschub beschreibt die Öfen im Krematorium von Auschwitz. Ein weiterer lautet:
„Die höheren Primaten betreffend: derzeit gibt es auf der Erde zirka 25.000 Schimpansen, 5.000 Gorillas, 3.000 Orang-Utans und 4.000.000.000 Menschen.“
² — Alle drei Ausrottungsgeschichten sind übrigens wahr. Das lässt sich ganz leicht im Netz der Netze recherchieren.
★★★★
Caye
10. –Und noch einmal folgt ein radikaler Stilwechsel. Die Kurzgeschichte mit dem Titel Caye besteht aus einer Folge von insgesamt 25 szenischen Momentaufnahmen, fast wie einzeln aus einem Film herausgerissen, oder, sagen wir: wie ein rascher Drehbuchentwurf für einen Film. 25 rätselhafte Textabsätze über sieben Buchseiten hinweg, die beim ersten Lesedurchgang kaum in einem Zusammenhang untereinander zu stehen scheinen. Ich habe zwei Durchgänge gebraucht, um überhaupt zu begreifen, worum es geht; oder gehen könnte. Beim dritten und vierten Lesen ist mir dann endlich ein Licht aufgegangen: ein Beziehungsdrama!
Die Geschichte handelt in den Siebzigerjahren auf einer Karibikinsel, vermutlich auf Caye Caulker, an einem Riff vor der Küste Belizes gelegen. Viel los war damals nicht auf der Insel, „es gibt keine Straßen, keine Gehwege, keine Autos, Fahrräder oder Schuhe. […] Keine Gesetze, kein Friedensrichter, keine Polizei, kein Gefängnis.“
Auch das Personal ist überschaubar. Da sind „Orlandos Onkel“, die zentrale Figur der Erzählung, seine Lebensgefährtin „Die Kanadierin“, die alternde Aussteigerin Fran, die schon ewig auf der Insel lebt, der junge Tito, ein Enkel von Orlandos Onkel, und die hübsche Ida, mit indianischen Wurzeln und etwa gleich alt wie Tito, obwohl sie eine Urenkelin von Orlandos Onkel ist. Ja, der Eindruck trügt nicht; dieser Onkel von Orlando scheint tatsächlich für einen erklecklichen Anteil der Inselbevölkerung genetisch verantwortlich zu sein. Und schließlich ist da noch der Erzähler, dessen Identität jedoch nicht preisgegeben wird.
Alles, was ab jetzt folgt, ist Geheimnisverrat. Wenn Ihr also lieber selbst auf Spurensuche gehen möchtet, blendet den folgenden Spoiler lieber nicht ein.
Spoiler anzeigen
Spoiler verbergen
Nun wird es ein wenig unübersichtlich, aber zumindest scheint klar zu sein, dass die Kanadierin zu einem Festlandsbesuch aufbricht. Die Zeit seiner Strohwitwerschaft scheint Orlandos Onkel dann zu nutzen, um die junge Ida zu verführen, oder sagen wir einfach: seine eigene Urenkelin klarzumachen. Doch nur ein paar Tage später wird Orlandos Onkel in seinem Bett erschossen. Die Festlandspolizei fahndet erfolglos nach dem Mörder, denn keiner der Inselbewohner will damit rausrücken, wer eine zum Mord passende Waffe besitzt. Der aufmerksamen Leserschaft ist natürlich längst klar: Es kann nur Tito gewesen sein. Denn der hat ein Motiv und eine Flinte Kaliber 22!
Dabei hätte es Boyle belassen können. Doch das tut er nicht. So wie er es auch gerne in vielen seiner folgenden Geschichten macht, sattelt er noch einen drauf. Zumindest ich verstehe die letzten etwas kryptischen Textfragmente so, dass der Erzähler und Tito ein und die gleiche Person sind. Dass also der Erzähler der Mörder von Orlandos Onkel ist. Aber macht Euch doch gerne selbst ein Bild.
~
Spoiler verbergen
★★★
Die große Werkstatt
11. –So. Mit dieser Erzählung, der mit 24 Seiten längsten des Bandes, kehren wir wieder zurück ins angestammte Boyle-Land, ins Reich der Groteske, in dem wir wie besoffen von einer absurden Szene in die nächste taumeln. Diesmal geht es um die Geschäftspraktiken selbstherrlicher Automobilwerkstätten. Vermutlich hat T. C. Boyle einmal selbst schlechte Erfahrungen bei der Reparatur seines Autos gemacht und rächt sich nun mit einer kafkaesken Erzählung an seinem Peiniger. Denn schließlich heißt der Protagonist in Die große Werkstatt „B.“ und fährt einen deutschen Audi. (Boyle fährt seit vielen Jahren einen roten 3er BMW und nennt seine Ehefrau „Frau B.“)
Dieser „B.“ strandet eines kalten Wintertages mit seinem Audi am Straßenrand, entpuppt sich dort als handwerkliche Niete, wird aber glücklicherweise samt havariertem Auto von einem Abschleppwagen zu einer Großwerkstatt mitgenommen. Gott sei Dank! – Oder sollten wir lieber sagen: zu seinem großen Pech? Denn einen Reparaturtermin bekommt er nicht. Wenigstens darf er mit ein paar anderen Havariekunden in einem Kämmerchen der Werkstatt auf einer Pritsche übernachten.
Am nächsten Tag durchlebt B. die drei Kreise der Hölle in Form des despotischen Büros zur Terminanmeldung für Reparaturen, einer wahnsinnig gewordenen Mechanikertruppe und einer Autowaschanlage, durch die er fliehen will, die ihn jedoch so richtig in die Mangel nimmt. B. ist gefangen im Gulag eines Automobilmonopolisten. Langsam aber sicher wird dem Mann klar: Hier kommt er nur lebend raus, wenn er auf die unausgesprochene Erpressung der Automafia eingeht …
★★
Grüne Hölle
12. –Der Klassiker: Nach einer Begegnung mit einem Vogelschwarm stürzt ein Kleinflugzeug ab und kracht irgendwo im Amazonasbecken in den südamerikanischen Dschungel, weitab von jeglicher Zivilisation. Nur acht der zwanzig Passagiere und Besatzungsmitglieder überleben den Absturz. Für diese Überlebenden nimmt die Privathölle à la T. C. Boyle ihren Lauf. Der Autor ist ganz in seinem Element:
„Flöhe, Zecken, Schnaken, Nissen, Zikaden, Tausendfüßer, Hundertfüßer, Omnifüßer, Minifüßer, Ohrwürmer, giftige Kröten, Blutegel, Geckos. Wanzen. Iguanas, Lanzenottern, Wolfsspinnen, Tiere, die graben, summen, zischen, stinken. Oonipeden. Spuckende Spinnen. Ameisen. Milben. Moskitos. Alles was kreucht und fleucht und zwickt.“
Ganz zu schweigen von den menschlichen Bewohnern der abgelegenen Gegend, die es auch nicht gut meinen mit den Havaristen. Ich werde hier nicht verraten, was aus den überlebenden Opfern der Katastrophe wird, lest selbst. – Bemerkenswert ist allerdings, dass auch diese 21-seitige Erzählung in späteren Jahren ihre drastische Perfektionierung finden sollte, nämlich in Boyles Roman Der Samurai von Savannah, im Original East is East aus dem Jahr 1990.
★★★
Erde, Mond
13. –Am 21. Juli 1969 betrat der erste Mensch den Mond. Welche ketzerischen Gedanken dabei dem jungen T. C. Boyle durch den Kopf gingen, können wir auf diesen fünf Textseiten nachlesen. Sein namenloser Astronaut, galaktischer Botschafter des Menschengeschlechts, springt übermütig im Mondstaub herum wie ein junger Welpe, furzt in seinen Raumanzug und auf dem Heimflug – ach, du liebes bisschen! – versteigt er sich sogar darin, sich in der Schwerelosigkeit des Raumschiffs einen runterzuholen.
Meanwhile on the farm, das Leben auf der Erde im Haus des Astronauten nimmt 239.000 Meilen entfernt seinen unaufhaltsamen Lauf: „Die Dinge rosten, bröckeln ab, zerfallen […] Im Keller sammeln sich Wasserpfützen, Baumwurzeln sprengen die Wände. Oben wellen sich die Fußböden, Tapeten lösen sich von den Wänden. […] Draußen birst der Teer auf der Straße.“ Der Frau des Astronauten können wir derweil wie im Zeitraffer beim Altern zusehen.
Schließlich kehrt der Astronaut wieder nach Hause zurück. Das Abenteuer ist beendet, jetzt muss sich der glorreiche Held der Nation darum kümmern, seinen verkommenen irdischen Besitz wieder in Schuss zu bringen. Und dort, im hohen Dschungelgras seines verwilderten Gartens, wo er schwitzend die Halme niedermäht; dort spürt dieser Apostel der menschlichen Zivilisation, Erzengel und Bote zwischen Gott im Himmel und den Niederungen der Erde, wie langsam aber sicher die beiden wächsernen Flügel an seinem Rücken zu schmelzen beginnen.
★★★★
Quetzalcoatl Lite
14. –Ich habe nie verstehen können, was Sammler eigentlich antreibt. Wie kommt es dazu, dass Menschen glitzernde Augen bekommen, die eine kleine rote neben einer ebenso kleinen blauen Briefmarke auf einem vergilbten Umschlag betrachten. Oder die sieben Millionen Euro für ein zentimetergroßes, achteckiges Stückchen Papier namens „British Guiana 1c magenta“ hinblättern.
Doch nachdem ich die 21 Seiten dieser gemeinen boyleschen Kurzgeschichte über die sagenumwobene, doch bislang nie aufgetauchte, fünfhundert Jahre alte Bierdose der Azteken gelesen habe, beginne ich wenigstens eine Ahnung zu entwickeln, was in Sammlern vorgeht; was sie dazu bringt, Objekten nachzujagen, die keinerlei materiellen Wert in sich tragen und die von 99 Prozent der Menschheit einfach als Müll entsorgt würden – oder sogar wurden. Was sie dazu treibt, ihr Leben einer Jagd zu widmen, die nur wenige andere verstehen können und in die sie alles Geld stecken, das sie besitzen? Was denn dazu führt, dass die Wertmaßstäbe solcher Menschen in kein anerkanntes soziales Gefüge passt? Dass ihnen Empathie und Interesse an anderen Menschen abzugehen scheint?
Na schön, dann machen wir uns also jetzt im Nachgang zum Jagddebakel nach dem Aztekenbier auf die Pirsch nach dem Sherpabier namens Yeti.
★★★
De Rerum Natura
15. –Die alten Lateiner unter Euch wissen natürlich, dass De Rerum Natura ein über zwei Jahrtausende altes Lehrgedicht des römischen Philosophen Lukrez ist. Lukrez wollte damit seinen Lesern Gemütsruhe und Gelassenheit vermitteln und ihnen die Angst vor Tod und vor den Göttern nehmen. Die Entstehung von Tier und Mensch, von Gesellschaft und Kultur, so Lukrez, seien auf rein natürliche Ursachen zurückzuführen, ohne Dazwischenkunft irgendwelcher Gottheiten.
T. C. Boyles fünfzehnte Kurzgeschichte beleuchtet das Leben eines imaginären Erfinders, der bereits von Kindheit an die Menschheit mit seinen unerklärlichen, aber stets bahnbrechenden Innovationen in Atem gehalten hatte. (Seine kopf-, schwanz- und beinlose Katze zum Beispiel war als schnurrender „Pelzball“ weltweit begehrt.) Natürlich geht auch beim begnadeten Erfinder ab und zu etwas schief. Sein eigener Sohn, den er im Bauch einer Sau herangezüchtet hatte, entwickelt ein Ringelschwänzchen, hufartige Füße und grunzt. Und auch nicht alle Zeitgenossen sind begeistert von den Errungenschaften des großen Erfinders. Der Widerstand gegen den Mann wächst, letztlich kommt es zum offenen Aufstand. Nach vierzehn Textseiten stürmt ein Lynchkommando das Anwesen des Größten aller Großen. Sein Haus brennt! Er steht ganz oben, von Flammen umzüngelt! Aber dann tut es einen Schlag und der Erfinder ist verschwunden. So wie Bilbo zu Beginn des Herrn der Ringe. Oder wie Jesus nach der Kreuzigung aus seinem Grab.
So wie schon in der dreizehnten Erzählung, Erde, Mond, warnt der Autor hier davor, alles zu Ende zu bringen, was Wissenschaft und Technik möglich machen. Allerdings sind boylesche Warnung ja niemals offen vorgetragene Kritik. Vielmehr erzählt er seine oft völlig überzeichneten Geschichten und endet dann mit einem Schulterzucken: Da seht Ihr, was Ihr davon habt!
★★★
John Barleycorn lebt
16. –Der Name John Barleycorn geht auf eine schottische Ballade aus dem Jahr 1782 zurück und ist eine übliche, verharmlosende Bezeichnung für Alkohol. (Ins Deutsche wird John Barleycorn meist mit König Alkohol übersetzt.) Hier erzählt uns T. C. Boyle eine Episode aus dem Leben der gottesfürchtigen Carrie Nation, einer tatsächlich existierenden Aktivistin der Abstinenzbewegung. Carrie war dafür bekannt, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Bars im amerikanischen Westen zu stürmen, mit einem Beil zu zertrümmern und dabei Psalme zu singen. In der Geschichte zerlegt Carrie mit Gleichgesinnten zwei Bars der Stadt Topeka in Kansas, bevor es den Männern der Stadt gelingt, die Kampflustige mit einem Trick zu vertreiben.
Der letzte Satz des fünfzehnseitigen Textes lautet: „Diese Frauen, die kann nichts aufhalten. Als nächstes wollen sie auch noch das Wahlrecht.“
(Sehr wahrscheinlich ist John Barleycorn lebt der erste Vorläufer zu T. C. Boyles bekannten biografischen Romane.)
★★★
17. – Tod durch Ertrinken
Den Abschluss macht eine rätselhafte szenische Erzählung, die mit ihrem eigenen Titel nichts zu tun hat. Boyle selbst erklärt in den ersten Zeilen des zehnseitigen Textes:
„In dieser Geschichte wird jemand ertrinken. Aber es wird keinen erkennbaren Grund dafür geben […] Es wird vielmehr ein Ereignis sein, wie es in der Zukunft häufig vorkommen wird: unerklärlich, unbegreiflich.“
Die Szenen, die sich an diese Nicht-Einleitung anschließen, sind geprägt von maßloser Grausamkeit, die sich aus dem Zustand weiblicher Nacktheit entwickelt. Was empfindet ein Aktmodell vor den Kunststudenten, die sie skizzieren sollen? Ist es unbegreiflich, wenn die Studenten das gleiche Mädchen am nächsten Tag lüstern anstarren? Oder ist es unerklärlich, wenn ein junges Mädchen, das nackt ein Sonnenbad am Strand nimmt, von einem verdrucksten Sozialversager vergewaltigt wird? Und hinterher gleich noch ein paarmal von zufällig vorbeikommenden Fischern?
Ehrlich gesagt, ich war von dieser – nun ja, Geschichte oder Erzählung kann man es gar nicht nennen –, also von diesen szenischen Fragmenten überfordert und stehe dem Text einigermaßen hilflos gegenüber. Warum in aller Welt die deutsche Übersetzung des Gesamtbandes ausgerechnet den Titel dieser Kurzgeschichte erhalten hat, bleibt mir völlig unverständlich.
★
~
Wer diese Besprechungen gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Rezensionen zu Boyle-Romanen und -Erzählungen auf dieser Website zu finden sind.
Fazit:
Wenn man die literarischen Erfolge kennt, die der Autor in den über vier Jahrzehnten nach dem Erscheinen seines allerersten Erzählbandes verbuchen konnte, dann wirkt Tod durch Ertrinken ein bisschen wie eine Schreibübung, wie ein Dehnen der erzählerischen Muskeln kurz bevor es dann richtig losgehen soll. Thematisch begegnen uns schon hier verschiedene Themen, die in späteren Jahren immer wieder vertieft oder aus anderen Perspektiven heraus Platz in T. C. Boyles Geschichten finden werden. Einige der Kurzgeschichten sind bewundernswert gut, beeindruckend. Andere haben mich weniger beeindruckt. Deshalb verwundert es nicht, dass der Bewertungsdurchschnitt in Form meiner Sterne – wie bei allen anderen boyleschen Erzählbänden auch – fast genau bei einer drei von den fünf möglichen liegt.
Man muss diesen Band nicht unbedingt gelesen haben. Es sei denn, man beschäftigt sich mit der literarischen Entwicklung Boyles über die Jahre und Jahrzehnte hinweg. In diesem Fall ist Tod durch Ertrinken Zwangslektüre.
T. C. Boyle, Descent of Man | Tod durch Ertrinken
🇺🇸 Atlantic Monthly Press, 1979
Carl Hanser Verlag, 1995
* * * * *
Wenn Du über diese Links bestellst, erhalte ich eine kleine Provision auf Deinen Einkauf (mehr darüber)