
In den Lesejahren meiner Jugend war Stanisław Lem einer der hellsten Sterne an meinem literarischen Firmament. In den 1970er Jahren habe ich mit Begeisterung alles verschlungen, was ich von ihm in die Hände bekam. Jetzt habe ich eine Neuauflage seiner Sterntagebücher geschenkt bekommen. Denn der Suhrkamp Verlag hat vor wenigen Jahren zum hundertsten Geburtstag des polnischen Schriftstellers und Philosophen eine stark überarbeitete deutsche Fassung des polnischen Originals aus dem Jahr 1957 herausgebracht. Sie enthält nicht nur drei bislang unveröffentliche Reiseberichte, sondern auch Originalillustrationen Lems. Ich war wirklich gespannt, ob ich mich als mehrfacher Großvater mit der gleichen Leidenschaft wie als Teenager durch die Lem-Geschichten ackern würde. Oder ob meine Lektüre eher in eine Art frustriertes Waten durch aus der Zeit gefallene Texte ausarten sollte. So wie etwa bei den ollen Karl Mays. Geschmack ändert sich über die Jahre, nicht wahr, Mesch’schurs?
Worum es geht
Die Sterntagebücher sind eine Sammlung satirischer Reiseberichte des galaktischen Abenteurers Ijon Tichy. In humorigen Episoden berichtet dieser Tichy von seinen absurden Erlebnissen auf fremden Planeten und in fernen Sternensystemen. Der Autor nutzt die Geschichten, um menschliche Schwächen, gesellschaftliche Strukturen und technologische Entwicklungen zu hinterfragen. Dabei bringt er Themen wie Bürokratie, Religion, Krieg, oder Zeitreisen auf parodistische Weise ins Spiel.
Tichy begegnet unter anderem Maschinenreligionen, überregulierten Zukunftsstaaten und seinen eigenen Zeitreise-Duplikaten. Jede seiner Reisen ist zugleich eine Reflexion über menschliches Verhalten, Macht, Ethik und Erkenntnis. In Tichys Berichten überschreitet Lem bewusst die Grenzen zwischen Logik und Unsinn. Die Sammlung verbindet Science-Fiction, Satire und Philosophie auf einzigartige Weise.
Über den Autor
Stanisław Herman Lem wurde 1921 in Lwów, damals Polen, geboren und verstarb 2006 im Alter von 84 Jahren in Krakau an den Folgen einer Herzerkrankung. Er gilt als brillanter Visionär, der komplexe Technologien Jahrzehnte vor ihrer tatsächlichen Verwirklichung beschrieb. Lem schrieb bereits vor einem halben Jahrhundert über KI, Nanotechnologie, Neuronale Netze und VR.
mehr über Stanisław Lem
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Der Geburtsort von Stanisław Lem liegt in Ostgalizien, heute auf ukrainischem Staatsgebiet, und war in Deutschland lange Zeit unter dem Namen Lemberg bekannt. Stanisław wuchs als Sohn einer polnisch-jüdischen Arztfamilie auf und studierte in seiner Geburtsstadt Medizin; bis zum Einmarsch der deutschen Armee 1941. Nachdem die Stadt an die Sowjetunion gefallen war, siedelte Lem im Alter von 24 nach Krakau um. Dort beendete er sein Medizinstudium, fiel jedoch in der Abschlussprüfung durch, weil er sich weigerte, Antworten im Sinne der sowjetischen Systemkonformität zu geben.
Stanisław Lem war von 1953 an sein Leben lang mit Barbara Leśniak verheiratet, mit der er einen Sohn namens Tomasz hatte. In den Achtzigerjahren lebten die Lems wegen der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen zunächst in West-Berlin, dann in Wien. 1988 kehrten sie in ihre Heimat zurück.
Stanisław Lems literarisches Werk
Sein erster Roman mit dem Titel Astronauci | Die Astronauten wurde 1951 veröffentlicht. Den Durchbruch als Schriftsteller schaffte er vier Jahre später mit Obłok Magellana | Gast im Weltraum. Lem erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden auf internationalem Niveau. Im Jahr 1992 wurde ein Asteroid nach ihm benannt: (3836) Lem. Doch als Bürger eines kommunistischen Staates war Lem in den Jahren des Kalten Krieges im Westen politisch auch nicht unumstritten. So wurde ihm 1976 die Ehrenmitgliedschaft der Science Fiction and Fantasy Writers of America entzogen.
Lems Werk ist bekannt für intelligente, oft satirische Geschichten, die sich mit Technologie, menschlicher Erkenntnis und den Grenzen der Kommunikation beschäftigen. Die Texte sind oft philosophisch und tiefgründig, jedoch zugleich humorvoll. Lems zentrale Themen sind technologische Entwicklungen und deren ethische Konsequenzen, die Begrenztheit des menschlichen Begreifens, die Unmöglichkeit echter Kommunikation mit fremden Intelligenzen und ironische Kritik an der Wissenschaftsgläubigkeit.
Zu Stanisław Lems bekanntesten Veröffentlichungen im Genre der Science-Fiction gehören Solaris (1961, über den Versuch der Besatzung einer Raumstation, mit einem rätselhaften Ozeanwesen auf dem Planeten Solaris in Kontakt zu treten), Der Unbesiegbare (1964, über ein Raumschiff, das auf einem fernen Planeten nach einer verschollenen Crew sucht und dort auf eine hochentwickelte Schwarmintelligenz aus Maschinen trifft) und eben die Sterntagebücher des Weltraumreisenden Ijon Tichy.
In seinem letzten Roman, Fiasko (1968), geht es um die gescheiterte Kontaktaufnahme einer menschlichen Expedition mit einer extraterrestrischen Zivilisation. Denn Missverständnisse, Gewalt und technologische Überlegenheit führen letztlich zu einer Kommunikationstragödie.
Lem beschäftigte sich auch mit Erkenntnistheorie, Sprache und Wissenschaftstheorie. Sein Werk bewegt sich oft an den Grenzen zwischen Literatur, Philosophie und Wissenschaft.
„Lem ist ebenso Universalgelehrter wie begnadeter Geschichtenerzähler und Stilist. Ein Genie und einer der tiefen Denker unserer Epoche. Nobelpreiswürdig.“
(New York Times)
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Über die Reiseberichte
Nun habe ich nicht vor, in diesem Rahmen detaillierte Interpretationen zu allen Einträgen in den Sterntagebüchern Ijon Tichys abzufassen. Das würde Rahmen und Intention meiner Buchbesprechung sprengen und die Geduld meiner Leserschaft über die Maßen strapazieren. Übersichtliche inhaltliche Zusammenfassungen der einzelnen Reisen findet man beispielsweise bei der Wikipedia: Sterntagebücher.
Viel lieber möchte ich jetzt einen der Reiseberichte herausgreifen und beleuchten. Nämlich den, der mir beim Lesen am meisten Spaß gemacht
hat:Achtzehnte Reise
Auf nur zwölf Textseiten schildert Ijon Tichy den Ablauf des „größten Werks seines Lebens“. Seine Expedition hatte zum Ziel, das Universum zu schaffen. Und tatsächlich sei ihm dies auch gelungen, die Erschaffung der Erde, des Sonnensystems, aller anderen Galaxien, Sonnen und Milchstraßen – eben des gesamten Universums. Allerdings sei das gesamte Unterfangen gründlich schief gegangen:
„Seit dem zwanzigsten Oktober vergangenen Jahres gehen alle, aber auch wirklich alle Konstruktionsfehler des Universums und die Entstellung der menschlichen Natur auf meine Rechnung. Es gibt keine Flucht vor dieser Erkenntnis.“
(Seite 152)
Die Geschichte basiert auf der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass der Kosmos vor 18,5 Milliarden Jahren zweifellos einen Anfang hatte und aus einem Uratom entstand. Doch woher hätte ein solches Uratom stammen können? „Wer hätte es an einer leeren Stelle unterschieben können? Am Anfang gab es nichts.“ Tichys einfache Antwort lautet: Er selbst habe dieses kosmische Kryotron entwickelt und rückwärts in der Zeit an den richtigen Moment geschossen. Schöpfungsgeschichte à la Lem.
Sabotage der Laborassistenten
Doch leider sei seine Forschungsarbeit von drei Assistenten aus Neid und Geltungssucht sabotiert worden. Ein gewisser Alois Hauffen habe gemeinsam mit seinen Komplizen, dem Deutschen Ast A. Roth sowie dem Hollandbriten Boels E. Bubb, eine „schädliche Parameterberichtigung vollzogen, deren Folgen jeder zur Genüge besichtigen kann, wenn er sich nur ein wenig in dieser gräßlichen Welt umsieht“.
„Später wetteiferten sie darum, nach Entschuldigungen zu suchen, indem sie behaupteten, daß sie nur die »besten Absichten« gehabt und sogar mit Ruhm gerechnet hätten (!), zumal sie ja zu dritt waren.“
(Seite 162)
Aha, da kam sie also ins Spiel, die „Dreinigkeit“! Unter Mitwirkung des Dämons Astaroth aus der westlichen Esoterik und dem Philisterdämon Beelzebub. Die hatten also beispielsweise dafür gesorgt, dass die Menschheit an Stelle der von Tichy beabsichtigten Laubhaftigkeit oder Belaubung dann doch eine Behaarung erhalten hatten.
Einordnung und Bewertung
Zweifellos gehören die Reiseberichte des Sternreisenden Ijon Tichy von Stanisław Lem zu den absoluten Klassikern der Science-Fiction-Literatur. So wie etwa auch die Schöne Neue Welt von Aldous Huxley. Oder Douglas Adams‘ Per Anhalter durch die Galaxis; ja, das ist der Roman, der uns den „Handtuch-Tag“ am 25. Mai beschert hat. Einen vergleichenden Artikel über kosmologische Mythologien hat vor ein paar Jahren Elmar Schenkel verfasst: Kosmologie in Zeiten der Postmoderne. Von Douglas Adams zu Stanisław Lem.
Wer sich intensiver mit Lem und seinem Werk beschäftigen möchte, könnte sich etwa in eine ausführliche Laudatio zum 100. Geburtstag bei Deutschlandfunk Kultur vertiefen: Das Geheimnis der Sterntagebücher. Eine ausführliche Romankritik von Siegfried Lenz aus dem Jahr 1974 findet sich auf der offiziellen Website über Lem: Schwejk als Weltraumfahrer.
„Doch bei allem unverhofften Aufschluß, den Lem uns über uns selbst und über die Zustände auf der Erde gibt, eines braucht man bei dieser Lektüre nicht zu befürchten – düstere Entlarvungsstimmung, feierliche Gerichtsatmosphäre. Im Gegenteil, ich wüßte auf Anhieb kein Buch zu nennen, in dem soviel gebildeter Sarkasmus versammelt ist, soviel zärtlicher Spott, soviel Humor, Schabernack, Witz und lichter Tiefsinn wie in den Sterntagebüchern.“
(Siegfried Lenz, 29. Juni 1974)
Mein eigener Lesebericht
Zu Anfang dieses Beitrags hatte ich mich ja gefragt, ob ich ein halbes Jahrhundert nach meinem ersten Lesedurchgang die gleich Begeisterung aufbringen würde können. Die Antwort ist zwiespältig. Wahrscheinlich habe ich mich diesmal mit größerer Ernsthaftigkeit durch die Texte gelesen. So kam es wohl, dass ich mich an komplexeren Erzählungen, zum Beispiel an der der einundzwanzigsten Reise mit detaillierten philosophischen Entwicklungsgeschichten zur Entstehung von KI-Intelligenzen, festgelesen habe. Das unbeschwerte Gelächter meiner Jugendzeit über den ungeheuren Erfindungsreichtum Lems habe ich jedenfalls nicht mehr überall wiedergefunden.
Meine Empfehlung an Interessierte lautet deshalb: Versucht vielleicht nicht, die Berichte wie einen zusammenhängenden Roman an einem Stück zu lesen. Nehmt den Band ab und an mit zeitlichen Abständen zur Hand und befasst Euch mit einzelnen Geschichten. Damit bin ich letztlich am besten gefahren. Auch wenn die gesamte Lektüre sich dadurch unerwartet lange hingezogen hat.
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Fazit:
Die Sterntagebücher von Stanisław Lem sind auf jeden Fall auch viele Jahrzehnte nach ihrer Entstehung sehr lesenswert. Wer sich für satirische Beschreibungen unserer Welt mit all ihren Defiziten und Nickeligkeiten begeistern kann, wird an den paradoxen – wenn auch manchmal ausartenden – Geschichten seine helle Freude haben. Ijon Tichy und seine entfesselte Erzählflut sind und bleiben ein literarischer Klassiker, den man immer wieder aus dem Bücherregal ziehen wird.
Was meine Einordnung zur Sternebewertung betrifft, habe ich mich schwer getan. Aber da es hier um meine persönliche Beurteilung geht, fühle ich mich sehr gut mit den vier von fünf möglichen Sternen, die ich den Sterntagebüchern zugestehen will. Auch wenn mir bewusst ist, dass der eine oder die andere von Euch den Schinken mit einem Kopfschütteln zurück ins Regal oder gar in einen öffentlichen Bücherschrank stellen wird.
Stanisław Lem: Dzienniki gwiazdowe | Sterntagebücher
Suhrkamp Verlag, 2021
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