Kann es eine künstliche Welt geben, in der man überleben kann? Einen hermetisch abgeschlossenen Raum, in dem sich Flora und Fauna – einschließlich einiger Menschen – aufhalten und weiterentwickeln können? Nichts rein, nichts raus, sobald die künstliche Welt einmal verschlossen wurde? Hört sich das nach Besiedelungsplan für autarke Raumschiffe, für Pionierstützpunkte auf fremden Planeten an? Oder mehr nach Dschungelcamp-Soap unter verschärften Bedingungen? – In seinem sechzehnten Roman, Die Terranauten, der im Original 2016 veröffentlicht wurde, schreibt T. C. Boyle über ein wissenschaftliches Experiment, in dem vier Frauen und vier Männer zwei Jahre lang in einer künstlich angelegten Welt unter einer Glaskuppel (über)leben sollen.
Die Romanidee, die sich absurd anhören mag, hat sich Boyle jedoch nicht selbst aus den Gehirnwindungen gewrungen. Bereits ein Vierteljahrhundert vor der Romanveröffentlichung hatte genau dieses Experiment tatsächlich stattgefunden. Gut vierzig Kilometer nördlich der Stadtgrenze von Tucson im US-Bundesstaat Arizona, in den Santa Catalina Mountains, ließ Ende der Achtzigerjahre der Milliardär Edward Bass einen riesigen Kuppelbau errichten.
Biosphäre 2
Unter 6.500 Glasscheiben entstand ein geschlossenes Ökosystem: Savanne, Wüste, Ozean, Regenwald, Landwirtschaft und Wohnräume. Das Projekt Biosphäre 2 sollte ein Experiment zur „Neuerschaffung der Erde“ sein. Im ersten Besiedelungsprojekt hielten acht Bewohner zwischen Herbst 1991 und 1993 zwei Jahre lang unter der Kuppel durch. Allerdings war die Prämisse der völligen Autarkie (abgesehen von Energiezufuhr) mehrfach nicht eingehalten worden: Nach einer Handverletzung musste eine der Bewohnerinnen von Biosphere 2 ein paar Stunden lang draußen behandelt werden und kehrte danach mit zusätzlichem Material in die abgeschlossene Welt zurück. Und dies sollte nicht die einzige unerlaubte Nachlieferung bleiben. Außerdem schaffte es das Team nicht, sich ohne Zugriff auf Notvorräte zu ernähren, und im zweiten Jahr musste Sauerstoff von außen zugeführt werden.
Der zweite Durchlauf mit sieben Teilnehmern begann im April 1994, wurde jedoch bereits nach einem Monat durch zwei Teilnehmer der ersten Mission sabotiert. Sie öffneten versiegelte Zugangstüren von außen und schlugen Glasscheiben ein. Nur fünf Monate nach dem Zwischenfall wurde dann der zweite Projektanlauf abgebrochen.¹
Das gesamte Besiedelungsprojekt gilt als gescheitert, auch wenn durchaus wissenschaftlich wertvolle Erkenntnisse gesammelt werden konnten.
Heute ist der Projektkomplex Teil der Attraktionen der University of Arizona. Es gibt Besuchertouren, Projekte für die schulische Erziehung, wissenschaftliche Experimente und Angebote für Konferenzen in einem außergewöhnlichen Umfeld.
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Was macht Boyle aus Biosphäre 2?
Die Romanhandlung setzt einige Wochen vor Beginn der zweiten Mission ein. Im Laufe der Geschichte lässt Boyle seine Figuren Bezug auf die wichtigsten Ereignisse der realen ersten Mission nehmen, insbesondere auf die Probleme, die damals auftraten. Doch die eigentliche Erzählung, die uns der Schriftsteller auftischt, könnte den Untertitel tragen: „Wie hätte Mission 2 ablaufen können, wenn es tatsächlich nicht zum frühen Abbruch des Experiments gekommen wäre?“ Es handelt sich bei dem Text also um eine Fantasie des Autors. Ganz gemäß seinem Hinweis aus einem Interview: „Ich brauche immer etwas, was meine Vorstellungskraft stimuliert, damit ich dann damit losfliegen kann.“²
T. C. Boyle fliegt also mit uns durch die fiktive Geschichte eines wissenschaftlichen Experiments, das historisch nicht mehr stattfinden konnte, aber unter anderen Rahmenbedingungen zumindest ähnlich hätte ablaufen können. Sein Romanpersonal entlehnt der Autor dabei teilweise aus Biografien oder Berichten der echten Mitglieder der Besatzung aus der ersten Biosphäre-Mission.
Formale Gestaltung
Die gut sechshundert Buchseiten lange Geschichte hat Boyle in vier logische Teile gegliedert: Vor dem Einschluss und nach dem Einschluss; das erste und das zweite Jahr des Einschlusses. Alle vier Teile bestehen aus schriftlichen Berichten dreier Personen, die am Biosphärenprojekt beteiligt sind. Diese Berichte sind jeweils in der Ich-Form verfasst und sprechen die Leserschaft direkt in der Sie-Form an. Die Erzählungen überschneiden sich und widersprechen sich sogar teilweise. Und genau das entspricht ja einem der Grundrezepte T. C. Boyles: Lass eine Handvoll Deiner Romanpersonen abwechselnd die gleiche Geschichte erzählen und entlarve dabei die Schwächen und Unzulänglichkeiten der verschiedenen Personen, indem Du den Leser mit der Nase auf Widersprüche stößt. Im Falle der Terranauten handelt es sich bei den Erzählern um zwei junge Frauen und einen Mann aus dem ursprünglich sechzehnköpfigen Anwärterteam zur Besatzung von Mission 2.
Dawn Chapman
Eine, die es unter die Glaskuppel der Mission schafft, ist die neunundzwanzigjährige, selbstverliebte Umweltwissenschaftlerin Dawn, die sich für den Posten als Nutztierwärterin qualifiziert, „zuständig für die Zwergziegen, Ossabaw-Schweine, Moschusenten und Hühner, die die Crew mit wichtigen tierischen Fetten und Proteinen versorgen“ (Seite 17).
Diese Dawn trägt unverkennbar Züge einer der echten Teilnehmerinnen von Mission 1, Jane Poynter. Dawn verliebt sich unter der Kuppel in einen der anderen sieben Terranauten, so wie einst Jane in ihren Kollegen Taber MacCallum, den sie nach Abschluss des Experiments tatsächlich heiratete.³
Ramsay Roothoorp
Der zweite Berichterstatter des Romans ist Ramsay mit dem unaussprechlichen holländischen Nachnamen. Ramsay wird Kommunikationsoffizier der Terranauten, „denn er war politisch begabt und imstande, nicht nur beide Seiten, sondern auch die oberen, mittleren und unteren Etagen zu bearbeiten“ (Seite 17).
Darüber hinaus ist Ramsay (36) einer, den man durchaus als Womanizer bezeichnen darf. Immerhin hat er während der Geschichte intensive Beziehungen zu drei oder vier verschiedenen Frauen im Umfeld des Projekts. Ich würde den Kerl wahrscheinlich als Windbeutel bezeichnen, eine Qualifikation, die meiner Meinung nach auf viele Menschen mit hohen kommunikativen aber dafür geringen fachlichen und sozialen Fähigkeiten zutrifft.
Linda Ryu
Dritte und letzte Tagebuchschreiberin ist Linda (32), die koreanische Wurzeln hat und zumindest bis zur endgültigen Auswahl der acht Teilnehmer an der Mission die beste Freundin Dawns war. Als Linda erfährt, dass sie trotz ihres Bachelorabschlusses in Nutztierwissenschaften nicht zum Team gehören wird, stürzt die junge Frau in mehrerlei Hinsicht ab und mutiert zur berechnenden Intrigantin. Mit offenem Ende.
Diese drei Berichterstatter – Dawn, Ramsay und Linda – lässt der Autor ihre Versionen der Ereignisse während der zweiten Biosphäre-Mission erzählen und über alle anderen Protagonisten innerhalb und außerhalb der Kuppel tratschen.
Die Erfolgsfaktoren
Der gesamte Aufbau des Romans erlaubt es der Leserschaft, wie in einer Briefberichterstattung der drei Hauptfiguren an den Geschehnissen während der Mission teilzunehmen. So als wäre man als vertrauenswürdige(r) Eingeweihte¦r mitten im Geschehen bei all den Problemen, die sich ergeben; und bei den Schritten, die alle acht Terranauten, das Projektmanagement und das soziale Umfeld draußen unternehmen.
Wir sind hautnah dabei, wenn es eng wird unter der Kuppel, zum Beispiel wenn draußen ein Lkw einen Strommast umfährt und dadurch Temperatur- und Sauerstoffwerte in Grenzbereiche geraten. Oder wenn eine der Terranautinnen schwanger wird. Soll sie das Kind draußen austragen und wegen der notwendigen Öffnung der Schleusen erneut die Autarkie des Projekts gefährden? Oder einen Abbruch vornehmen? Oder gar …?
Durch solche Grenzerfahrungen kippt schließlich der Teamgeist im Projekt Biosphäre 2. Es menschelt heftig, aus Freund¦innen werden Gegner, aus gegenseitiger Achtung oder Liebe wird Hass. Beziehungen scheitern, Intrigen werden gesponnen. Und wir werden alle zu Komplizen der Erzähler.
Das alles hört sich offensichtlich mehr nach Dschungelcamp-Soap an als nach wissenschaftlicher Projektarbeit. Aber das Besondere an Boyles Geschichte besteht eben darin, dass er den Spagat zwischen tumber Tratscherei und den unvermeidlichen Zerwürfnissen meistert, die sich aus der Extremsituation einer Abschottung ergeben. Einer Abschottung, die unter anderen Rahmenbedingungen – etwa auf einer autarken Raumstation oder einem lebensfeindlichen Planeten – unter keinen Umständen beendet werden könnte. „Nichts rein, nichts raus!“
Lockdown?
Zur Erinnerung: Der Roman wurde in Deutschland bereits 2017 veröffentlich. Zu einer Zeit also, als der Schriftsteller noch nichts von Corona und der resultierenen Zwangsabschottung kleiner Gruppen vom Rest der Welt ahnte. Jedem von uns, der die heute nur wenige Monate zurückliegenden Zwangsseparation aus medizinischen Gründen, das Erliegen sozialer Strukturen und gruppeninterne Gewaltausbrüche durchgemacht hat, wird ein Schauer des Schreckens den Rücken hinunterlaufen bei der Lektüre der Erlebnisse von Boyles Terranauten.
Showdown
Und wie das eben so ist in den Romanen von T. C. Boyle, zum Ende hin hat er immer noch einen draufzusetzen. Etwas, woran seine Leserschaft zu knabbern hat, gerade wenn sie glaubt, das wäre es ja nun gewesen.
In diesem Fall endet irgendwann Mission 2. Die Terranauten atmen also auf, schütteln ihren Lagerkoller ab. Endlich geht es zurück in die Zivilisation mit all ihren Vorzügen und Schrecken. Und es soll ein Nachfolgeteam geben, die nächsten acht, die für die kommenden 24 Monate unter der Kuppel eingeschlossen werden sollen. Dieses Szenario wäre der versöhnliche Ausklang einer Grenzerfahrung, die der Autor seinem Romanpersonal und der Leserschaft zugemutet hat. – Aber genau diese finale Entspannung gestattet uns Boyle nicht.
Bewertung
Ich lege mich schon mal fest: Die Terranauten gehören zum Besten, das T. C. Boyle seinen Leser¦innen zu bieten hat. Der Roman steht direkt hinter meinem Liebling Drop City. Er ist eine zu gleichen Teilen vergnügliche wie nachdenklich machende Mischung über die Irrwege der menschlichen Gesellschaft, über unsere Perspektiven, über die erbarmungslose Macht des Geldes. Und über jede Menge menschlicher Abgründe einer Bande hoffnungsloser Egomanen. Eine bittere Groteske auch über Medienwahn und Sex-Sells-Strategien.
Dieser Roman ist einer derer, die unbedingt in jedes Bücherregal gehören. Oder in den Koffer für die einsame Insel. Ich habe ihn jetzt zum dritten Mal gelesen und mir bei jedem Mal völlig andere Gedanken gemacht, jedes Mal andere persönliche Schwerpunkte gesetzt.
Und ein ganz kleines Kieselsteinchen habe ich jetzt auch noch für Euch. Eines, über das ich zunächst nur stirnrunzelnd gestolpert bin, zu dem ich jedoch noch einmal zurückspringen muss:
Alle Hauptfiguren des Romans tragen Spitznamen, die sie sich gegenseitig gegeben haben. Der Techniker der Terranauten heißt bei den anderen „Düsentrieb“ und so wird der Mann auch den gesamten Text hindurch genannt. Bis auf eine einzige Stelle.
„Ich fand Gyro fürsorglich. Er war ein netter Kerl, ein echt netter Kerl.“
(Dawn auf Seite 263)
„Gyro“? – Da ist Ihnen wohl zum ersten und einzigen Mal etwas durchgerutscht, Herr van Gunsteren. „Gyro Gearloose“ ist der englische Originalname von Daniel Düsentrieb. (Aber dieses sympathische kleine Malheur tut der ansonsten wie immer hervorragenden Übersetzung keinen Abbruch.)
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Wer diese Rezension gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind.
Fazit:
Die Terranauten gehört also zu den dringenden Empfehlungen, wenn es um Romane des Schriftstellers T. C. Boyle geht. Ich gehe sogar so weit, diese Geschichte als Einstiegslektüre zu empfehlen, wenn sich jemand mit den mittlerweilen beinahe zwanzig Romanen des US-Autors beschäftigen möchte. Bis einschließlich heute habe ich hier nur zwei Boyle-Texte mit der Maximalwertung bedacht. Mein persönlicher Liebling Drop City ist womöglich für Leser, die später als in den Sechzigerjahren geboren wurden, nicht so gut zugänglich. Die Terranauten aber sollte jedermann gelesen haben, der sich Gedanken über den Weg macht, der noch vor uns allen liegt. Jede, die sich fragt, wie das alles enden wird mit diesen merkwürdigen Affen, die sich selbst als Krone der Schöpfung bezeichnen.
Ich vergebe für den sechzehnten Roman T. C. Boyles ohne mit der Wimper zu zucken die vollen fünf Punkte.
T. C. Boyle: The Terranauts | Die Terranauten
🇺🇸 Ecco Press, 2016
Carl Hanser Verlag, 2017
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Fußnoten:
¹ — New York Times, The Lost History of One of the World’s Strangest Science Experiments, 29.03.2019
² — Literary Hub, Seven Conversations from an Afternoon with a Writer, 2019
³ — Der Spiegel, Hölle im Glashaus, 22.09.2011