Fleischeslust

T. C. Boyle, Fleischeslust, 2001
T. C. Boyle, 1999

Ich staune ja über das sehr unterschiedliche Arbeitstempo erfolgreicher Schriftsteller. Da ist zum Beispiel Uwe Tellkamp, dieses One-Hit-Wonder der deutschen Literatur in den Nullerjahren. Der braucht zehn und mehr Jahre, um einen einzigen Roman zu veröffentlichen. Andere, wie etwa  T. C. Boyle, hauen über Dekaden hinweg regelmäßig alle zwei Jahre einen Roman raus. Diese werden alle trotz ihrer relativ kurzen Entstehungszeit keinewegs und niemals als Trivialliteratur abgekanzelt. Und zwischendurch veröffentlichen sie auch noch Bände mit Kurzgeschichten, in sich geschlossenen Erzählungen, die alle nur ein paar Seiten lang sind und vermutlich eine Art von Abfallprodukten aus literarischen Ansätzen für nicht romantaugliche Texte darstellen. Und dennoch veröffentlicht und erfolgreich vermarktet werden.

Der erste solcher boyleschen Erzählbände, den ich zu Lesen bekam, war Fleischeslust aus dem Jahr 1999. Das Bändchen mit schlanken 290 Textseiten wurde 1994 im englischen Original mit dem Titel Without a Hero zwischen den Romanen Willkommen in Wellville und América (dem dritten und vierten Roman des Schriftstellers) veröffentlicht.

Es handelt sich um eine Sammlung von 15 Kurzgeschichten, die sich mit grotesken Auswüchsen westlicher Gesellschaften befassen, insbesondere der US-ame­ri­ka­ni­schen. Ein gruseliges Kompendium zum Zustand der glorreichen Vereinigten Staaten von Amerika.

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Fleischeslust – 1. – Großwildjagd

Im hitzegegerbten Flachland außerhalb der kalifornischen Stadt Bakersfield, nur 120 km nordöstlich von Santa Barbara, der Gegend, wo Boyle zu Hause ist, betreibt Bernard, ein Junggeselle in den Fünfzigern, Puffs Afrika-Großwildranch. Auf einem staubigen Stück Land, zwischen nickenden Bohrschwengeln von Ölbrunnen. Sein Geld macht er mit Safarifantasien reicher Kalifornier, denen er Afrikaflair vorspielt und die mit der Trophäe eines selbstgeschossenen Löwen-, Elefanten-, oder wenigsten Zebrakopfes an der Wohnzimmerwand prahlen wollen. Auch wenn Puffs „Wildtiere“ aus irgendwelchen Zoos oder Zirkusarenen stammen, wo sie ausgemustert und billig verkauft wurden.

Auf 28 Buchseiten erzählt Boyle die Geschichte eines grundamerikanischen, großkotzigen Maklerehepaars, das bei Bernard ein paar Felle oder Köpfe schießen will. Doch dann passieren Dinge, die niemand den abgewrackten Rentnerviechern auf der Ranch zugetraut hätte, nicht einmal Bernard. — Eine böse Groteske auf den American Way of Life, auf Selbstüberschätzung und auf die leichtfertige Unterschätzung der Gewalt der Natur.

★★★★

Fleischeslust – 2. – Keimende Hoffnung

Peter und Adriana, ein Paar in mittleren Jahren aus dem New Yorker Umland, aus dem auch T. C. Boyle stammt, befinden sich im Spagat einerseits zwischen Verzweiflung angesichts des todgeweihten Planeten („Die Frösche sterben aus!“) und andererseits aufkeimender Hoffnung im Anblick neu entstehenden Lebens, als die Natur trotz aller Unkenrufen wieder erwacht. Die beiden reagieren ekstatisch.

Ein Kurzbericht über 20 Buchseiten, lautmalerisch, stimmungsgeladen, sehr skurril, aber mit der Anmutung einer Schreibübung im Rahmen eines literarischen Workshops: Verfassen Sie einen Text mit nicht mehr als 2.500 Wörtern, in dem Sie Naturzerstörung, Evolution sowie Rolle des und Auswirkung auf den Menschen thematisieren.

★★

3. – Sammlerinnen und Jäger

Julian und Marsha sind seit sechzehn Jahren verheiratet und haben kein gemeinsames Leben mehr. Julian hat sich in die Weltabgewandtheit der Astronomie zurückgezogen, seine Frau ist zur hemmungslosen Konsumentin geworden. Über die Jahre hat sie das gemeinsame Haus bis in den allerletzten Winkel vollgekauft. Kein einziger Quadratzentimeter Platz ist mehr frei, alles steht voll mit Möbeln und jeder Menge Plunder. Das Paar ist eine grotesk überzogene Persiflage auf uns alle, die wir viel zu viele Dinge besitzen, die wir niemals benötigen oder benutzen.
Als im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr die kleinste Kleinigkeit von Marshas Neuerwerbungen unterzubringen ist, zieht Julian die Reißleine. Er beauftragt Susan Certaine, eine rabenschwarze, unerbittliche Version Marie Kondōs, Marsha und ihn von allem zu befreien. Diesen Auftrag erledigt Susan rücksichtslos, in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit, mit der Julian nicht gerechnet hat. Und zwar bis zur allerletzten Socke.

Die kafkaeske Erzählung erstreckt sich über 29 Buchseiten und ist damit die längste des Geschichtenbandes. Sie ist eine dramatisch überzogene Darstellung der Unfähigkeit der Menschen, sich auf wesentliche, immaterielle Güter zu besinnen und einen persönlichen Lebenszweck auszumachen.

★★★

Fleischeslust – 4. – Ohne Held

„Sag mir, Casey, wo findet man heute noch einen Helden? Wo gibt es einen Mann, der für die Liebe sterben will?“
(Seite 10 der Kurzgeschichte)

Das fragt Irina, eine junge Frau aus Russland, ihren amerikanischen Gastgeber Casey ziemlich genau nach der Hälfte der Erzählung. Ohne Held – oder Without a Hero in der englischen Fassung – ist T. C. Boyles ursprüngliche Titelgeschichte der Sammlung. Der zwanzigseitige Text ist ein kurzes aber heftiges Feuerwerk des Wortakrobaten. Eine turbulente, süffisante Glosse über Konflikte: Ost/West; gedankenloses Anspruchsdenken/Rechnungen, die bezahlt werden müssen; Emanzipation/Prinz auf dem weißen Schimmel.

Der kleine Angestellte Casey lebt in Manhattan Beach bei Los Angeles und holt für einen Freund eine russische Bekanntschaft vom Flughafen ab: Irina. Die junge Frau nistet sich bei Casey ein und nutzt seine Gastfreundschaft ohne jeden Skrupel aus. Lässt sich jeden Abend einladen, telefoniert auf seine Kosten in der Welt herum, verwandelt seine Wohnung in Chaos und lässt sich sein teures Fahrrad klauen. Doch als Irina erkennt, dass Casey nicht ihr reicher Prinz sein will, lässt sie ihn fallen und zieht weiter. Nein, Casey wollte auf keinen Fall Irinas Held sein und für ihre Liebe notfalls krepieren. Puh!

★★★★

Fleischeslust – 5. – Ehrenwerte Gesellschaft

Wir wechseln den Kontinent, in eine kleine Arztpraxis im Örtchen Partinico auf Sizilien, westlich von Palermo. Zwei „Männer der Ehre“, hartgesottene Mafiosi also, suchen den Arzt auf. Don Santo ist verfettet und schwer herzkrank. Wenig später erscheint Don Bastiano, dürr wie ein Zaunpfahl, Opfer eines bösen Magenschwürs. Beide klagen beim Arzt jedoch nicht über ihre Krankheiten sondern jeweils der eine über den anderen. Denn Santo und Bastiano waren wegen einer Familienfehde zweier armer Schneckensammler aneinander geraten. Die Schneckensammler hatten sich wegen anhaltender Dürre die raren Schnecken gegenseitig streitig gemacht. Die Fehde spitzt sich zu und beide Mafiosi suchen den Arzt erneut auf, treffen dabei in der Praxis aufeinander und versterben dort unter den Augen des Mediziners – der eine am Herztod, der andere an einem Magendurchbruch. Bei der Beerdigung der beiden Ehrenmänner regnet es dann wolkenbruchartig, der Friedhof wimmelt nur so von Schnecken.

Eine richtig toll erzählte Geschichte, die nur über 14 Seiten geht, aber deutlich länger wirkt. Nur was uns der Autor damit sagen will, ist doch ein wenig rätselhaft, nicht wahr? Vielleicht dass der Menschen Händel und Handeln vollkommen absurd sind? Und dass die Natur immer am längeren Hebel sitzt und selbst Schnecken einen längeren Atem haben als die ehrenwertesten Verbrecherbanden? – Ich weiß es nicht. Sagt Ihr es mir. (E-Mail im Impressum.)

★★★

6. – Höhere Gewalt

Der fünfundsiebzigjährige Willis Blythe wird von seiner Frau Muriel zum Postamt geschickt, um dort eine Retoure abzuliefern. Als er seinen Wagen abstellt, bricht ein gewaltiger Hurrikan über das namenlose Städtchen herein. Willis wird gerade noch rechtzeitig von einem der Postangestellten in das Gebäude gezogen, wo er mit ein paar anderen Männern die nächsten Stunden verbringt, während draußen der Sturm wütet. Er sorgt sich um seine Frau, die alleine zu Hause ist. Panisch fährt Willis irgendwann zurück, als der Sturm nachlässt, nur um festzustellen, dass sein Zuhause nicht mehr existiert. Dort stehen nur mehr die Grundmauern. Und Muriel, wo ist Muriel?

Eigentlich ist das alles, was sich auf den 27 Seiten der Erzählung zuträgt. Aber die Geschichte, die Boyle um die Katastrophe herum spinnt, hat es wahrlich in sich. Der Autor schafft es nämlich, die gesamten Lebensgeschichten seiner beiden Pro­ta­go­nis­ten in wenige Buchseiten zu packen. Ein wahres Meisterwerk!
Aufgehängt an ein paar Details liegt Willis‘ komplettes Leben vor uns. Von seiner Highschoolzeit über seine gescheiterten Ehen, seine Laster und Gebrechen, seine prekäre Beziehung zur letzten und aktuellen Ehefrau Muriel. Deren gewaltiges Temperement, ihre Lebengeschichte und ihre Dämonen. Da ist kein Wort zuviel und auch keines zu wenig. Und wir wissen schließlich auch, dass nicht nur der Hurrikan eine höhere Gewalt darstellt, sondern auch Muriel im Leben von Willis. Was für eine herrliche Parallele!

★★★★★

Fleischeslust – 7. – Zurück ins Eozän

Bevor Ihr es googeln müsst: Das Eozän liegt 58 bis 36 Millionen Jahre zurück und war eine wichtige Periode in der Entwicklung der Säugetiere. Aber das spielt in dieser Kurzgeschichte keine Rolle. Es geht um einen Vater, der zusammen mit seiner zehnjährigen Tochter an einer Schulveranstaltung teilnimmt. An einem Abend zur Drogenprävention, typisch US-ame­ri­ka­nisch, mit einem uniformierten Drogenbeauftragten, mit am Mikrofon vorgetragenen Versprechen von Grundschulkindern, niemals Drogen in ihre Körper hineinzulassen. Ein bisschen Gehirnwäsche, als ob so ein Abend die Kids tatsächlich vom Rauchen, Kiffen, Saufen oder was weiß ich abhalten würde.

Der namenlose Vater ist wie paralysiert, weil auch er schon an der gleichen Schule war. Damals im „Eozän“, als auch er die Präventionsfilme angesehen hatte. Und dann eben trotzdem alles durchprobiert hatte: Gras, Schnaps, Seconal, Mandrax. Diese kleinen Mädchen hier würden auch irgendwann als Mütter von vier Kindern enden, „zweimal geschieden, den Schädel voller Martinis und Schlankmacherpillen, das Lenkrad ihres Jeep Cherokee wie eine Waffe in der Hand“.

Eine nüchterne Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Verlogenheit über nur 8 Seiten. Von einem der es wissen muss. T. C. Boyle hat nach eigener Aussage Dope-Abhängigkeit selbst durchgemacht und die Kurve gerade noch rechtzeitig gekriegt.

(Lesung: T. C. Boyle Riven Rock at the San Francisco Public Library, 11.02.1999 🇬🇧)

★★★

8. – Fleischeslust

Für die deutschsprachige Ausgabe haben sich Autor und Verlag als Titelgeschichte für diese Erzählung entschieden. Kann man verstehen, denn wenn Ihr die Wahl zwischen den beiden Buchtiteln Ohne Held und Fleischeslust hättet, für welchen würdet Ihr Euch entscheiden?

Der dreißigjährige Werbetexter Jim lernt (unter peinlichen Umständen) die nordische Schönheit Alena Jorgensen kennen. Er verfällt den Reizen der Frau, die sich als militante Veganerin entpuppt. Es folgt die Initiation Jims: Zusammen mit Alena und anderen Mitgliedern der real existierenden Animal Liberation Front demonstriert er für die Befreiung der Tiere von menschlicher Herrschaft. Schließlich lässt er sich kurz vor Thanksgiving dazu einspannen, in einer nächtlichen Sabotageaktion die Zäune einer Truthahnfarm aufzuschneiden, um die Tiere vor dem Tod im Schlachthaus zu retten. Doch als Alena ihm danach eröffnet, sie werde mit einem anderen Tierschutzveteranen irgendwo an einer Bärenrettungsaktion teilnehmen und ihn in Kalifornien zurücklassen, erwacht Jim aus der Trance. Auf dem Rückweg schnuppert er an einem Highwayimbiss den Duft von Grillfleisch und erkennt: „Es ist doch bloß Fleisch!“

Während der Lektüre dieser 28 Buchseiten langen Kurzgeschichte bin ich das Gefühl nicht losgeworden, dass Boyle nicht nur – ganz offensichtlich – mit der Zweideutigkeit des Begriffs „Fleischeslust“ zwischen der kulinarischen und der sexuellen Interpretation spielt. Sondern dass er sich darüber hinaus – weniger offensichtlich – lustig über die Mitläufer der Tierschutzbewegung macht. Die Motivation dieses Jim entsteht zunächst zwischen seinen Oberschenkeln und steigt dann gegen Ende doch wieder nach oben in den Bauch. (T. C. Boyle ernährt sich übrigens seit vielen Jahren selbst vegetarisch. Seine Frau hingegen ist Fleischfresserin, wie er es ausdrückt.)

★★★

Fleischeslust – 9. – Die 100 Gesichter des Todes, Folge IV

Der Tod ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Es bleibt allerdings die Frage, wie er zu jedem einzelnen kommt. Im Jahr 1978 erschien unter dem Titel Faces of Death eine filmische Aneinanderreihung von Todes- und Tierschlachtungsszenen. Welche der Aufnahmen authentisch und welche gestellt waren, ist nicht bekannt. Die Gesichter des Todes gehören zu den kontroversesten Filmen überhaupt; bei dem einen oder anderen genießt er Kultstatus. Die Folge IV der nachfolgenden Serie erschien im Jahr 1990, zu einer Zeit also, in der die boylesche Kurzgeschichte entstanden sein könnte.

Der Autor schreibt auf 7 Seiten über einen jungen Mann, der Schwierigkeiten hat, mit den realen Todesfällen in seiner Familie und Umgebung umzugehen. Sein Vater starb bei einem Flugzeugunfall, die Mutter an einem Infarkt im Supermarkt. Seine Tante „ging dahin“, nachdem ein Pfleger ihren Rollstuhl an einer Schräge abgestellt und versäumt hatte, die Bremsen zu aktivieren. Aber dem „authentischen Tod“ in die Augen blicken kann der junge Mann nur, wenn er sich eine der Szenen der Gesichter des Todes ansieht.

Eine – zumindest nach meinem Geschmack recht lahme – Kritik an der Unfähigkeit der Menschen, mit realen Ereignissen umzugehen und sich nur an den marktschreierischen, im Ausdruck völlig übersteigerten Erzeugnissen der Medienindustrie aufzugeilen.

★★

10. – 56 : 0

56 : 0 hat das American-Football-Team der Caledonia College Shuckers ihr vorletztes Spiel in der Hochschulliga verloren. Und damit nicht genug. Die Hälfte der Spieler ist schwer lädiert, kaum einer kann sich weiter als zwischen Bett und Toilette bewegen, wenn überhaupt. Der Trainer hat die Saison aufgegeben und will das letzte Spiel kampflos verloren geben, also gar nicht mehr antreten. Doch der Protagonist der Geschichte, Ray Arthur Larry-Pete Fontinot, will nicht aufstecken. Er motiviert seine Teamkameraden, die mindestens ebenso ramponiert wie er selbst sind, so dass sie auch zum letzten Spiel noch einmal auflaufen. Allerdings verlieren sie auch diesmal. 57 : 0!

Eine Geschichte, die sich über satte 19 Seiten erstreckt und für nicht US-Foot­ball-Fans nur schwer zu verdauen ist. Es geht um Verlierer, um Loser, die aber trotzdem nicht aufgeben; weil ihre Zukunft, ihr Selbstwertgefühl und ihr gesellschaftlicher Status von diesem Sport abhängen.

★★

11. – Ende der Nahrungskette

Wir lesen hier die Mitschrift der Befragung eines Entwicklungshilfemitarbeiters vor dem US-Senat. Vom Entwicklungshelfer wird eine Rechtertigung für ein Projekt in Borneo verlangt, das komplett aus dem Ruder gelaufen sein muss. Wobei: Genau genommen ist es ein Monolog des Entwicklungshelfers, die Senatoren sind offenbar sprachlos. Dieser Monolog beginnt mit der Erklärung, warum es in Borneo dazu kam, dass eine gewaltige Wolke DDT über dem Projektgebiet verspüht wurde. Nämlich um die Moskitos auszumerzen.

„Meine Herren, wenn Sie können, stellen Sie sich einen nackten kleinen Jungen vor, zwei Jahre alt und ganz schwarz von Fliegen und Moskitos, so daß er aussieht, als hätte er Trainingshosen an.“
(Seite 1 der Erzählung)

Der absurde Bericht, der sich über 8 Buchseiten erstreckt, steigert sich von einem Fiasko zum nächsten, bis hin zum Fallschirmabwurf importierter Katzen, um der Rattenplage Herr zu werden, die sich in mehreren Eskalationsstufen aus dem DDT-Einsatz ergab. (Aber die Katzen wurden von der inzwischen verhungernden Bevölkerung verspeist. – Das Ende der Nahrungskette.)

T. C. Boyle präsentiert uns eine loriotwürdige Groteske über die Gedankenlosigkeit, mit der Menschen Entscheidungen treffen, ohne im Geringsten deren Auswirkungen auf das Große und Ganze im Auge zu behalten.

★★★

12. – Byrd the Third

Da haben wir es wieder, Boyles Faible für längst vergessene Entdecker und Forscher. Mit einer Abenteurerbiografie hatte er seine Romankarriere begonnen. Und nun knüpft er in einer Kurzgeschichte an das Leben eines US-amerikanischen Flugpioniers an, Richard Evelyn Byrds, der 1927 einen Non­stop-Trans­at­lan­tik­über­flug und danach vier erfolgreiche Antarktisexpeditionen unternommen hatte.

T. C. Boyles 16-sei­ti­ge Erzählung handelt – Jahrzehnte später – von einem weniger erfolgreichen Byrd. Nämlich vom Sohn der Abenteurerlegende. Dieser Sohn, Richard Evelyn Byrd III, ist bereits ein älterer Herr und lebt gedanklich fast nur noch in der ruhmreichen Vergangenheit seines Vaters. Bei einer Zugfahrt von Boston nach Washington steigt Byrd zu früh aus und wird an einem unbekannten Bahnhof von einem Halunken abgefangen. Der Kerl lotst ihn in eine Lagerhalle, nimmt ihn dort aus und überlässt dann den hilflosen Alten seinem Schicksal. Byrd ist nicht mehr in der Lage, seine Situation zu erfassen, geschweige denn sich in Sicherheit zu bringen. Und so endet eine glorreiche Familiengeschichte bei Minustemperaturen irgendwo in einer Lagerhalle einer namenlosen Stadt.

Eine belanglos dahinplätschernde Geschichte, die allerdings beim genaueren Hinsehen die gnadenlose Härte der menschlichen Natur offenbart. Härte, Mitleidlosigkeit und auf der anderen Seite klägliche Hilflosigkeit. Ein klassischer Boyle, in Kurzform unter 5.000 Wörtern.

★★★★

Fleischeslust – 13. – Beat

Die Beatniks, also die Mitglieder der Beat Generation rund um den Schriftsteller Jack Kerouac waren in den Fünfzigerjahren eine Provokation der amerikanischen Gesellschaft. Ihre Texte waren rüde, sie pflegten ihren chaotischen Lebensstil. In seiner Geschichte lässt T. C. Boyle den jungen Beatfan Buzz erzählen, wie er Weihnachten 1958 in Long Island bei Jack Kerouac reinplatzt und dort nicht nur die ebenso junge Ricky kennenlernt, sondern im Rahmen einer mehrtägigen Beatnikorgie auch die Ikonen William Burroughs, Allen Ginsberg und Neal Cassady. Die sechs versumpfen in einer benzedrin-, hasch- und musikgeschwängerten Wolke in Jacks Wohnung. Solange bis dessen Mutter der Kragen platzt und alle davonjagt.

Die 20 Buchseiten enden mit dem Epilog, in dem Buzz berichtet, dass er damals Ricky geschwängert hatte. Wie die beiden dann ein Leben im Beat verbrachten, ein Kind nach dem anderen zeugten und irgendwann auf ein frühes Ende zusteuerten. Schon wieder so eine „boyleske“ Story: Aus einem historisch überlieferten Kern heraus schreibt er sich eine Erzählung zusammen, die so nie passiert ist, aber so passieren hätte können. Und natürlich endet die Story in einer Tragödie. – Genau betrachtet nimmt sich diese Kurzgeschichte wie ein Vorläufer von Das Licht (2019) aus.

★★★

Fleischeslust – 14. – Der Nebelmann

Eine der tiefsinnigsten Erzählungen in der Sammlung ist die Geschichte, die mit „dem Nebelmann“ beginnt und endet. Der 15-sei­ti­ge Text schildert das Panorama einer Jugend in einem kleinen Ort nördlich von New York. Die Geschichte erstreckt sich über ein paar wenige Jahre, Anfang der Sechziger, und wird aus der Sicht eines namenlos bleibenden Jungen im Alter von zehn bis dreizehn Jahren erzählt.
Er spricht über seine Schulzeit und über das erste Atomkraftwerk der Welt, das in der Nachbarschaft in Betrieb genommen wird. Über den Umgang mit Alkohol der Eltern und Großeltern. Über die Begegnung mit einem Mädchen mit dunkelhäutigem Vater und asiatischer Mutter, mit dem er Tanzkurs und Abschlussball absolviert. Es geht dabei auch um beginnenden Rassismus in der Gesellschaft.

„Es gab keine Schwarzen an unserer Schule und Asiaten und Latinos auch nicht. Italiener, Polen, Juden, Iren […], die gab es, die waren wir. Aber Maki Duryea war die erste Schwarze – und die erste Asiatin.“
(Seite 4 der Kurzgeschichte)

Boyles Erzähler ist irischer Herkunft. Wegen dieser Abstammung, der zeitlichen und örtlichen Einordnung  und verschiedener persönlichen Details hat man dann und wann das Gefühl, er könne ein Alter Ego T. C. Boyles selbst sein, auch wenn dieser ein paar Jahre zu alt für die chronologische Verortung der Geschichte ist. Der titelgebende Nebelmann bildet übrigens lediglich eine Art Klammerung. Er fährt zu Beginn und zu Ende des Textes durch die Ortschaften und versprüht Insektizid gegen Mücken. Anfangs machte sich darüber niemand Gedanken. Doch ein paar Jahre später, zum Ende des Textes, trägt der Mann beim Sprüheinsatz eine Atemschutzmaske.

★★★★

Fleischeslust – 15. – Auf dem Dach der Welt

Den Abschluss des Erzählbandes bildet eine inzwischen aus der Zeit gefallene Geschichte, die auch in ihrer Aussage ein bisschen rätselhaft bleibt. Elaine, geschiedene Mutter eines Sohnes, arbeitet während der Sommermonate als Feuermelderin im kalifornischen Sequoia Nationalpark, nördlich von Los Angeles. Während der warmen Jahreszeit besetzt sie rund um die Uhr und an sieben Tager der Woche den Needles Feuerwachturm.

Needles Fire Lookout Tower im Sequoia Nationalpark, Kalifornien
Needles Fire Lookout Tower im Sequoia Nationalpark, Kalifornien

Auf den 22 Seiten der Kurzgeschichte erzählt Elaine von den Besuchen eines Mannes, dessen Gegenwart ihr unangenehm ist, der aber immer wieder auf dem Wachturm auftaucht. Mal nur mit anzüglichen Komplimenten, mal mit Blümchen. In der Schlusszene der Erzählung sucht Elaine mit Einbruch der Nacht bei einsetzendem Scheefall noch einmal die Landschaft nach Feuern ab. Dabei entdeckt sie unterhalb ihres Turms ein großes Lagerfeuer, an dem nur einer sitzen kann: der unheimliche Besucher.

„Er campte. Er konnte umkommen da draußen – er war wirklich verrückt –, es konnte ohne weiteres ein Blizzard aufziehen, und dann würde es tagelang schneien. Aber er campte. Und dann wurde ihr klar: er campte für sie.“
(Schlusseite)

In der Realität brannte der Needles Feuertwachturm am 28. Juli 2011, siebzehn Jahre nach der Erstveröffentlichung von Boyles Geschichtensammlung, ab und wurde danach nicht wieder aufgebaut.

★★★

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Wer diese Besprechungen gern gele­sen hat, inte­res­siert sich even­tuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Rezensionen zu Boyle-Romanen und -Erzählungen auf dieser Website zu finden sind.

Fazit:

Erzählsammlungen wie Fleischeslust bieten ja immer so etwas wie einen Blick in die Schreibwerkstatt einer Schriftsteller¦in. Da sind dann Geschichten dabei, denen deutlich anzusehen ist, dass sie aus der Feder der Tastatur des jeweiligen Autors stammen. Aber auch andere Texte, über die man als Leser¦in staunt, die man nicht erwartet hätte. Deshalb lese ich die boyleschen Geschichtenbände immer sehr gerne. Zwar wird man selten so mitgerissen wie von einer längeren Romanerzählung eines Schriftstellers, den man besonders mag. Und dennoch befasse ich mich zur Abwechslung gern mit Kurzgeschichten, die man nach kurzer Lesezeit abschließen, aber durchaus sofort noch ein zweites oder drittes Mal lesen kann, wenn man ein kleines Juwel entdeckt hat.

Unter jede Kurzgeschichte habe ich eine Bewertung nach meinen Sterneregeln gesetzt. Wenn ich daraus den Mittelwert bilde, landen wir bei 3,2 – also bei soliden drei von fünf möglichen Sternen.

T. C. Boyle, Without a Hero | Fleischeslust
🇺🇸 Random House, 1994
🇩🇪 Carl Hanser Verlag, 1999

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