Every

Dave Eggers, Every, 2023
Dave Eggers, 2023

Nach dem Verkaufserfolg seines Bestsellers Der Circle aus dem Jahr 2013 wandelte der US-Schrift­stel­ler Dave Eggers den eigenen Verlag, McSweeney’s Publishing, in eine Non­pro­fit-Or­ga­ni­sa­tion um ¹. Unter deren Dach veröffentlichte er dann ein Jahrzehnt nach dem Circle einen Romannachfolger: Every. In diesem zweiten Teil der Geschichte hat der monopolistische Medien- und Technologiekonzern aus dem ersten Roman in der Zwischenzeit auch noch mit dem weltweit erfolgreichsten Onlineversandhaus fusioniert. Wir blicken hier also einer Schreckensgeschichte über den gewaltigsten Onlineriesen aller Zeiten entgegen, einer Art appeligem Ama­zon-Google-Meta-Mons­ter. Es gilt daher: den Gürtel festgezurrt, die Hosenträger stramm verspannt, den Schutzhelm über den Scheitel gestülpt und los geht’s!

Eggers hat seinen Roman mit gleich drei Untertiteln versehen: Every –oder– Endlich ein Gefühl von Ordnung –oder– Die letzten Tage des freien Willens –oder– Grenzenlose Auswahl zerstört die Welt. Außerdem möchte ich hier gerne noch meinen Liebling unter den ebenfalls drei Epigraphen zitieren, die der Erzählung vorausgehen.

„Gibt es vielleicht außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung?“
(Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, 1941)

Der Autor macht seiner Leserschaft also von vornherein unmissverständlich klar, was auf den folgenden 570 Textseiten, unterteilt in 45 Kapitel, auf sie zukommt.

Every – Worum es geht

In der Dekade, die nicht nur zwischen den Erscheinungsjahren der Romane, sondern vermutlich auch zwischen den beiden Geschichten liegt ², hat also der Medienriese Circle Amazon – Verzeihung, den „dschungel“! – geschluckt und sich in Every umbenannt. Die Firma ist aus dem fiktiven San Vicenzo auf die real existierende Insel Treasure Island in der Bay von San Francisco umgezogen. Die Angestellten nennen sich jetzt nicht mehr „Circler“, sondern „Everyones“. Nach dem Ausscheiden der ursprünglichen Firmengründer ist die gute alte Mae Holland – naive Protagonistin des ersten Romans Der Circle – zur CEO von Every geworden.

Die Trogs

In dieses Szenario steigt die neue Protagonistin Delaney Wells ein. Die junge Frau übernimmt also den Staffelstab als Erzählerin von Mae Holland. Allerdings ist Delaney keine gläubige Anhängerin des Technologiegiganten, im Gegenteil. Sie gehört der kleinen Gruppe sogenannter „Trogs“ an.

So werden Menschen genannt, die sich der allgegenwärtigen Überwachung durch Every entziehen.  Die Trogs leben in Behausungen, die nicht von Kameras erfasst werden, setzten die Every-Werkzeuge gar nicht oder nur in geringem Umfang ein und verkehren in Lokalen, die sich ebenfalls der Überwachung entziehen. Doch ihre Verweigerung wird den Trogs nicht leicht gemacht.

Ein Plan zur Gegenwehr

Delaney Wells betrachtet Mae Holland und ihren Konzern als persönliche Feinde. Ihr Ziel besteht darin, die Macht von Every zu untergraben. Zu diesem Zweck hat Delaney ein gefälschtes Profil angelegt und lässt sich von Every anstellen, um als Insiderin herauszufinden, wie man dem Firmenkoloss schaden und ihn womöglich zusammenbrechen lassen könnte.

Zunächst geht Delaneys Plan auf. Sie wird zur vertrauenswürdigen Mitarbeiterin Everys. Zu ihrer Überraschung stellt sie sehr schnell fest, dass alle Everyones, die sie kennenlernt, von Furcht oder gar Panik vor dem Arbeitgeber und dessen Kontrollsystemen gehetzt werden. Natürlich würde das keiner von ihnen offen einräumen. Aber es ist offensichtlich, dass auf dem Every-Cam­pus die Angst regiert.

Der Overkill schlägt fehlt

Als auch Delaneys Programmiererfreund Wes Makazian, ebenfalls aus der Trogszene, es schafft, sich bei Every einzuschleichen, einigen sich die beiden auf eine Vorgehensweise, der bösartigen Herrschaft von Every ein Ende zu setzen. Delaney und Wes beginnen damit, eigene Vorschläge für Every-Apps einzureichen, eine abstruser als die andere. Der Plan: Wenn Everyones und die Anwender draußen in der Welt mit immer übergriffigeren Anwendungen überflutet würden, müsse sich doch zwangsläufig irgendwann offener Widerstand gegen den überbordenden Ausspähungswahn Everys regen.

Doch der erhoffte Overkill schlägt fehl. Angestellte und Kunden des Konzerns sind durch die Bank hingerissen von Wes‘ und Delaneys‘ Kil­ler-Apps. Eine der Abartigkeiten dieser Serie ist beispielsweise ein Progrämmchen mit dem Namen Did I?, mit dem die User messen konnten, „ob bei einer koitalen Begegnung ein Orgasmus erreicht wurde, […] dessen Dauer, die Intensität und die Qualität insgesamt. Es ermöglichte den Usern, ihre Orgasmen mit denen von Freunden, Angehörigen und Jugendlieben zu vergleichen – und schließlich mit jeder Gruppe der Welt. […] Die Leute waren begeistert.“ (Seite 234)
Sexranking mag beim einen oder bei der anderen vielleicht noch als Spaß durchgehen. Aber die Einschnitte in Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte, die Delaney und Wes anstoßen, werden von einer Buchseite zur nächsten dramatischer.

„Aus irgendeinem Grund hatte sie die perverse Gabe, Ideen zu entwerfen, die sie selbst schrecklich fand, aber den Rest der Menschheit begeisterten.“
(Delaneys Selbstreflexion, Seite 550)

Über den Showdown

Natürlich verrate ich hier nicht, wie Eggers‘ Geschichte zu Ende geht. Aber ich gebe Euch ein paar Fragen mit auf den Weg, wenn Ihr Euch mit dem Roman beschäftigen wollt:

Wird es Wes und Delaney gelingen, mitten im Epizentrum der Überwachung durch Every unendeckt zu bleiben? Unabhängig von dieser ersten Frage: Bleiben die beiden bis zum Schluss ihrem Ziel treu? Oder knickt gar eine(r) von beiden ein? Wechselt die Seite? Ist es andererseits realistisch anzunehmen, dass Del und Wes die einzigen sind, die sich auf die Fahne geschrieben haben, Every zu vernichten? Muss es da nicht irgendwo Gleichgesinnte geben? Und wenn ja, werden andere Gegner des Konzerns wirklich nur mit friedlichen Mitteln versuchen, Every zu schaden? Gibt es nicht immer und überall Gewaltbereitschaft zur Durchsetzung von Zielen?

Und last but not least: Was treibt eigentlich Mae Holland, die schattenhafte Konzernchefin, die auch im vorliegenden zweiten Band immer wieder Erwähnung findet, aber doch nie in Erscheinung tritt?

~

Every – Bewertung

Wie schon Der Circle besteht auch Every aus einer einzigen, chronologisch aneinander gereihten Erzählung einer einzelnen Protagonistin. Nach Mae Holland im ersten Buch ist es nun Delaney Wells, die uns durch den zweiten Roman trägt. Doch im Vergleich zum ersten Roman seines Zweiteilers hat Autor Eggers hinzugelernt. Denn seine Delaney ist nicht annähernd so stereotyp angelegt wie die Mae aus Teil 1.

Auch einen weiteren Kritikpunkt am Circle ist Dave Eggers angegangen. Zumindest zu Beginn lockert er seinen ansonsten mittelgrauen Erzählton ein wenig auf, indem er Selbstironisches einflicht, wie zum Beispiel den …

Spaß mit Firmenlogos:
Logo: Der Circle
The Circle
Logo: Every
Every

„Ein neues Logo wurde entworfen. Es bestand aus drei Wellen, die um einen vollkommenen Kreis wirbelten, und deutete das Strömen von Wasser an, das Aufblitzen neuer Ideen, Interkonnektivität, Unendlichkeit. Beliebt oder nicht, es stellte auf jeden Fall eine Verbesserung gegenüber dem früheren Logo des Circle dar, das an einen Gullydeckel erinnert hatte, und übertraf das langjährige Logo des E-Com­merce-Gi­gan­ten, ein verlogenes Grinsen, ohnehin.“ (Seite 13)

Logo: dschungel

Übrigens ist unübersehbar, dass Eggers auch als Drehbuchautor tätig ist. Der lineare Romanaufbau und die szenischen Aneinanderreihungen mit detaillierten Beschreibungen der Schauplätze, die inhaltlich nichts zur Geschichte beitragen, könnten durchaus als Entwurfsfassung eines Filmskripts durchgehen.

Sammlung des Schreckens

Spätestens nach einem Drittel der Romanseiten verfällt der Autor leider wieder in den Trott der ersten Geschichte. Er reicht seine Protagonistin Del in ihrer Einarbeitungsphase von einer zur nächsten Konzernabteilung durch. In jeder Station macht die Frau Bekanntschaft mit einem weiteren der schamlosen Spionagewerkzeuge von Every. Und jedes Mal bringt sie sich wieder mit eigenen Ideen zur zusätzlichen Verschlimmbesserung dieser Tools ein. Was soll ich sagen? Das ist genauso einfallslos und ermüdend wie schon im ersten Teil der Geschichte.

Besser wird die Erzählung übrigens nicht durch den geradezu verschwenderischen Umgang des Autors mit Personal. An allen Ecken und Enden des Konzerncampus lernt Delaney Unmengen neuer Kolleginnen und Kollegen kennen. Es ist aussichtslos, sich Namen und Funktionen all dieser Everyones merken zu wollen. Allerdings ist das auch gar nicht notwendig, um der ohnehin sehr überschaubaren Handlung folgen zu können. Denn genauso schnell wie sie auftreten, verschwinden fast alle der Figuren wieder, ohne auch nur den geringsten Abdruck ihrer Rollen zu hinterlassen. Ich behaupte sogar, dass man zwischendurch locker ein paar Seiten überspringen kann, wenn es einmal allzu langweilig wird. Dadurch verliert man ganz sicher nicht den Faden.

Das Ende

Ich komme leider nicht umhin festzustellen, dass das Ende der Geschichte gar keines ist. Der Autor lässt seine Parade des Schreckens nach einer knappen Vorankündigung von genau einer Textseite mit einer erbärmlich banalen Schlussszene einfach aufhören. Man muss annehmen, dass dieser beliebige Endpunkt der Erzählung durch eines der aberwitzigen Werkzeuge von Every provoziert wurde! Denn in der Literaturabteilung TellTale hat man natürlich längst die ideale Länge von Büchern herausgefunden:

„Kein Buch sollte mehr als 500 Seiten haben, und wenn doch, dann liegt die absolute Obergrenze, die die Leute noch hinnehmen, bei 579.“
(Seite 212)

Diesen außergewöhnlichen Scharfblick hätte ich Eggers allerdings gar nicht zugetraut. Denn in der Tat, mehr als die 579 Buchseiten von Every hätte ich tatsächlich nicht hingenommen.

~

Wer diese Besprechungen gern gele­sen hat, inte­res­siert sich even­tuell auch für die Vorgeschichte mit dem Titel Der Circle, die zehn Jahre vor Every erschien. Empfehlenswert als Ideenlieferanten für den Autor der beiden Romane wären auf jeden Fall die beiden dystopischen Klassiker 1984 von George Orwell und Schöne Neue Welt von Aldous Huxley.

Fazit:

Im Nachgang zur Lektüre vermag ich gar nicht zu sagen, wieso Dave Eggers seinem Circle den zweiten Teil mit dem Titel Every überhaupt nachgeschoben hat. Bietet die Fortsetzung neue Erkenntnisse, die im ersten Teil gefehlt hätten? Nein. Bietet sie eine frische Perspektive auf einen weltumspannenden Monopolisten, der nach und nach die Menschheit unter seine Kontrolle bringt? Nein. (Denn nur weil die neue Protagonistin sich als Systemgegnerin inszeniert, läuft Teil 2 nicht im Geringsten anders ab als der erste.)

Leider muss ich festhalten: Dem Autor ist es in seiner Fortsetzung Every noch weniger gelungen als in Der Circle, der Leserschaft eine überzeugende Gesellschaftskritik zu präsentieren. Denn auch wenn sein besorgtes Anliegen durchaus berechtigt ist, die Umsetzung ist und bleibt mangelhaft. Mehr als müde zwei von fünf möglichen Bewertungssternen ist mir die Geschichte wirklich nicht wert.

Dave Eggers, Every
🇺🇸 McSweeney’s, 2023
🇩🇪 Kiepenheuer & Witsch, 2023

* * * * *

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Fußnoten:

¹ — McSweeney’s Publishing ist ein US-ame­ri­ka­ni­scher gemeinnütziger Verlag, der 1998 von Dave Eggers gegründet wurde und seinen Hauptsitz in San Francisco hat. Geschäftsführerin ist Amanda Uhle. Die erste Veröffentlichung von McSweeney’s war die Literaturzeitschrift Timothy McSweeney’s Quarterly Concern im Jahr 1998. Seither veröffentlicht das Unternehmen auch Romane, Gedichtbände und verschiedene weitere Zeitschriften.

² — Eine präzise Einordnung, in welcher Zeit Eggers den Circle oder Every ansiedelt, habe ich nicht vornehmen können. In der Vorbemerkung des Autors zu Every steht nachzulesen: „Diese Geschichte spielt in der nahen Zukunft. Versuchen Sie nicht herauszufinden, wann. Eventuelle zeitliche […] Anachronismen sind gewollt.“

Allerdings ist in Every unumwunden die Rede von offenbar nicht sehr weit zurückliegenden Ereignissen, die sich in der „dritten Dekade des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ (Seite 82) zutragen. Auf Seite 179 des zweiten Romans wird erwähnt, dass Mae Holland etwa Mitte dreißig sein muss. Und zu Anfang des Vorgängerromans hatten wir erfahren, dass die gleiche Mae damals 24 Jahre alt war. Dies lässt den Rückschluss zu, dass Every ungefähr um das Jahr 2030 und der Circle demnach etwa 2020 handeln.

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