Der Circle

Dave Eggers, Der Circle, 2014
Dave Eggers, 2014

Der Roman Der Circle erstürmte im Jahr 2014, nur ein paar Wochen nach seinem Erscheinen, die Spitzenplätze der Bestsellerlisten des deutschen Buchhandels. Der kalifornische Schriftsteller Dave Eggers schreibt darin über einen totalitär agierenden kalifornischen Medien- und Technologiekonzern, den „Circle“, der in den Zehnerjahre die Werte der amerikanischen Gesellschaft umkrempelt und die Bevölkerung in seine lemminghafte Gefolgschaft verwandelt. Der Autor macht gar keinen Hehl daraus, dass seine dystopische Geschichte eine modernisierte Fassung der Abgründe in George Orwells 1984 ist; im Gegenteil.

Orwell hatte sein Referenzwerk über totalitäre Überwachungsstaaten im Jahr 1948 abgeschlossen. Der Romanklassiker erlebte jedoch im Jahr 2013 ein intensives Revival, nämlich nachdem der Whistleblower Edward Snowden das PRISM-Über­wa­chungs­pro­gramm des US-Ge­heim­dien­stes NSA zur Überwachung und Auswertung elektronischer Medien offengelegt hatte. PRISM soll eine umfassende Überwachung der digitalen Kommunikation von Personen innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten ermöglichen. Noch im gleichen Jahr erschien Eggers‘ The Circle im amerikanischen Original.

Der Circle: Worum es geht

Mit vierundzwanzig ergattert Maebelline Renner Holland, genannt Mae, einen Job beim kalifornischen Mediengiganten Circle. Dieses Unternehmen vereint alles, was wir mittlerweile in unserem echten Leben von den großen amerikanischen und chinesischen Technologiekonzernen wie Bytedance, Google, Meta, Tencent und Co. kennen. Seine Spitzenstellung verdankt der Circle einem einmaligen System zur Zusammenführung digitaler Identitäten – „ein Konto, eine Identität, ein Passwort, ein Zahlungssystem“. TruYou macht Schluss mit dem Chaos der Benutzerkennungen!

Auf dem beeindruckenden Circle-Campus im fiktiven Ort San Vicenzo wird hart gearbeitet, aber auch hart gefeiert. Das kaum überschaubare Angebot an kostenlosen Freizeitangeboten, die auf dem Firmencampus stattfinden, begeistert Neuling Mae. Google lässt grüßen. Doch rasch wird ihr klar, dass all diese Vergnügen keine wahlfreien Optionen sind, sondern Pflichtveranstaltungen. Das Motto im Circle lautet: „Community first!“ – die Gemeinschaft geht ausnahmslos vor. Noch ärger aber ist, dass sogar die ungeschriebene Verpflichtung besteht, auf einer breiten Palette an Social-Media-Ka­nä­len alles zu kommentieren und zu illustrieren, woran man teilnimmt und was einen bewegt.

Wer da nicht mitspielt, bekommt klare Ansagen von oben. Zwar zögert Mae kurz nach der einen oder anderen Aufforderung durch ihre Vorgesetzten, zumindest anfangs. Aber letztlich macht sie doch mit, schließlich will sie auf keinen Fall in ihrem Traumjob zur Außenseiterin weden. Mae stört sich schließlich nicht mehr daran, dass ihr Beruf und ihr Privatleben in einem einzigen öffentlichen Wirbel an Text-, Foto- und Videostreams durcheinander gemischt werden.

„Alles was passiert, muss bekannt sein.“

„Beim Circle wird nichts gelöscht.“ – Diese Vorgabe gilt jedoch nicht nur für Angestellte. Die Geschichte nimmt eine geradezu surreale Wendung, nachdem der Öffentlichkeit ein brandneues System präsentiert wird: SeeChange ist eine Kombination aus unauffälligen Minikameras und einem Cloudpool, über den alle damit aufgenommenen Videostreams weltweit abrufbar sind. Sofort und für immer. Es dauert nicht lange, bis Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens Schlange stehen, um ihr Leben durch Dauervideos vollständig transparent zu machen und sich dadurch als Gutmenschen darzustellen, die schießlich nichts zu verbergen haben.

Ja, hier trägt der Autor so richtig dick auf. Ich konnte mir ein leicht genervtes Stöhnen nicht verkneifen. Aber spätestens an dieser Stelle sind wir nun unübersehbar in Orwells 1984 angekommen. Wer das noch immer nicht wahrhaben will, bekommt es kurz darauf schwarz auf weiß präsentiert, als nämlich die Konzernleitung des Circle mit drei Leitsätzen aufwartet, die sozusagen die Quintessenz ihrer Mission darstellen:

„Geheimnisse sind Lügen“
„Teilen ist Heilen“
„Alles Private ist Diebstahl“

1984, dreißig Jahre danach

Woran erinnern uns diese Slogans mit der Gleichsetzung von Begriffen, die nichts miteinander zu tun haben? – Ganz richtig, das Konzept stammt von den Diktatoren aus dem achtzig Jahre alten Orwellroman. Dort lauten die Parolen, ebenfalls drei an der Zahl: „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“ und „Unwissenheit ist Stärke“. Dave Eggers konstruiert also unübersehbar einen Zusammenhang zwischen der fiktiven orwellschen Staatspartei und dem kalifornischen Tech-Kon­zern.

Die drei gegenwartsnahen Losungen aus Der Circle legt übrigens einer der Vorsitzenden der Firma geschickt der Protagonistin Mae in den Mund. Nachdem nämlich die junge Frau eines Nachts den Fehler beging, sich von einem geschlossenen Kajakverleih ein Boot „auszuleihen“, und dabei von See­Change-Ka­me­ras gefilmt wurde, lädt der Mann Mae zum Gespräch vor. Die eingeschüchterte Frau stimmt dem rhetorischen Diskurs ihres Chefs Satz für Satz zu. So kommen dann diese drei absurden Maximen zustande. Zu allem Überfluss lässt sich Mae – sozusagen zum Beweis ihrer Läuterung – dazu bekehren, fortan als vollständig transparente Botschafterin des Circle ihr Leben im Livestream öffentlich zu machen.

Mit dieser beunruhigenden Entwicklung endet nach 340 Textseiten das erste Buch, etwa nach zwei Dritteln der gesamten Erzählung.

Buch 2

Nein, keine Angst (oder gegebenenfalls Hoffnung). Ich werde jetzt bestimmt nicht davon berichten, wie die Geschichte im Detail weiter oder gar zu Ende geht. Nur so viel: Mae macht sich tatsächlich weltweit transparent. Und das Management des Circle hat es sich – ziemlich nebulös – zum Ziel gesetzt, mit Hilfe ausgeklügelter, breit angelegter Datenverknüpfungen „den Kreis zu schließen“.

Doch andererseits formiert sich auch Widerstand gegen den globalen Datenkraken, passiv wie aktiv. Maes eigene Eltern zum Beispiel? Ihr aus der Zeit gefallener Ex-Freund Mercer? Oder das Phantom mit dem Kampfnamen Kalden, das Mae bereits in Buch 1 hin und wieder heimgesucht hat?

Auf den letzten fünfzig Seiten des Romans eskalieren die wahnwitzigen Geschehnisse rund um den Circle.

~

Der Circle: Bewertung

Wir lesen die gesamte Geschichte in der dritten Person, ausschließlich aus der Perspektive von Mae Holland. Alle anderen Figuren leben nur in der Beobachtung durch Mae. Die junge Frau ist also nicht nur Projektionsfläche des Autors, sondern zwangsläufig auch Identifikationsfigur für die Leserschaft.

Leider ist die Figur der Mae nach meinem Geschmack viel zu eindimensional angelegt. Wollte man es nett formulieren, dann ist Mae einfach naiv. Sie reflektiert in keinem Moment die Tragweite ihrer Aktionen und macht sich bereitwillig zum Sprachrohr der totalitären Organisation. In dieser Rolle überschreitet Mae immer rücksichtsloser die Grenzen zwischenmenschlicher Grundsätze. Trotz aller Mahnungen opfert sie ihre sozialen Beziehungen und verrät ihre bisherigen Vertrauten für die Zielsetzungen einer dubiosen Organisation, ohne dabei ihr Verhalten auch nur ansatzweise in Frage zu stellen. Das ist mir zu glatt.

Womöglich mag man Eggers zugutehalten, dass er genau diese Naivität der Menschen aufs Korn nehmen wollte. Der Romanhandlung aber hat das nicht gut getan. Die Rechtfertigungen Maes für ihre bizarren Entscheidungen – gegenüber sich selbst und gegenüber den Lesern – wirken von Anfang an und bis zum bitteren Ende unangenehm unbesonnen, stereotyp, einfach flach.

Genau in diesem Zusammenhang muss einmal gesagt werden: Die drei letzten Textseiten, die unter der Überschrift „Buch 3“ stehen, hätte sich Eggers schlicht und einfach sparen können; ja, sogar sparen müssen! Mit dem Schlusssatz aus Buch 2 hätte er seiner Geschichte einen Endpunkt gesetzt, der gar keiner wäre, sondern die Lektüre mit einem Ausblick versehen hätte, der unsere Fantasie angekurbelt hätte. Die spartanische Auflösung im Buch 3 hingegen ist vorhersehbar langweilig.

Ist der Circle ein Schurkenunternehmen?

Zweifellos wird die Firma so dargestellt. Allerdings erfahren wir rein gar nichts über die eigentlichen Ziele oder Motivationen des Konzerns. Das angebotene Heilsversprechen per grenzenloser Transparenz bleibt bis zuletzt diffus. Was treibt die Führungsriege des Circle wirklich an? Geht es darum, Geld zu scheffeln und dabei nötigenfalls über Leichen zu gehen? Ist es das, was uns Eggers vermitteln will? Oder hat der Autor versucht, uns eine satirisch gemeinte Groteske aufzutischen, die ich aus irgendeinem Grund nicht als solche wahrgenommen habe? Das immerhin noch subtilste Gleichnis der Geschichte zeichnet das Bild eines unersättlichen Haifischs im Seepferdchenbecken.

Im Rückblick nach der Lektüre, als ich den gesamten Erzählstrang noch einmal Revue passieren ließ, erkannte ich ein wenig irritiert, dass die tatsächliche Handlung der Geschichte doch arg überschaubar ist. Was sich da tatsächlich ereignet, hätte man auch in einem schmalen Büchlein bequem unterbringe können. Der Rest der immerhin 550 Textseiten ist eher eine Art Ideensammlung: all die Werkzeuge – heute würde man wohl eher von „Tools“ oder „Apps“ sprechen –, die der Circle in rascher Folge entwickelt und unter die Menschheit bringt, hat etwas Stichpunkthaftes an sich. Ein Sammelsurium obszöner Instrumente, die ausnahmslos alle von den Pappkameraden des Romanpersonals frenetisch bejubelt werden. Ehrlich gesagt, ich empfand dieses Arsenal der Zwangsherrschaft in der Summe doch recht ermüdend.

~

Übrigens: The Circle wurde im Jahr 2017 mit Emma Watson in der Rolle der Mae verfilmt, erhielt allerdings durchgehend schwache Kritiken. – Wer diese Buchbesprechung gern gele­sen hat, inte­res­siert sich even­tuell auch für die Fortsetzung Every, die der Autor knapp zehn Jahre später nachschob. Möglicherweise beflügelnd wäre auch der großartige Vorläufer und Ideenlieferant für 1984 mit dem Titel Schöne Neue Welt.

Fazit:

Ohne jeden Zweifel richtet sich Der Circle an alle Nutzer der WhatsApp-, Twitter-, Instagram- und Face­book-Platt­for­men. Seht nur, welcher Zukunft Ihr da so unbedacht Vorschub leistet! Oder aber an all die Mahner in der Wüste, die schon immer gewusst haben, wohin der mediale Overkill führen wird? Im Guten betrachtet ist Dave Eggers‘ Roman ein Mahnmal an unsere Gesellschaft, endlich einmal zu reflektieren, worauf wir uns längst eingelassen haben. Im Schlechten jedoch ist diese recht langatmige Verhängnisgeschichte leider kein wirklich aufschlussreicher Beitrag zur Debatte über unser Medienverhalten.

Ich habe einige Zeit mit mir über eine Bewertung im Sterneformat gerungen. Letztlich hat es die Geschichte mit größter Mühe und Not auf drei der fünf möglichen Sterne gebracht. Und dies auch nur deshalb, weil der Roman bei allen Schwächen in Stil, sprachlichem Ausdruck und Handlungsablauf wenigstens als prominenter Weckruf an eine Gesellschaft dienen könnte, die auf breiter Ebene längst aufgegeben hat, darüber nachzudenken, was sie mit ihrer außer Kontrolle geratenen digitalen Kommunikation anrichtet.

Dave Eggers, The Circle | Der Circle
🇺🇸 Alfred A. Knopf, 2013
🇩🇪 Kiepenheuer & Witsch, 2014

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