Gray

Leonie Swann, Gray, 2017
Leonie Swann, 2017

Die tierische Kri­mi­auto­rin hat wie­der zu­ge­schla­gen: Gray lau­tet der Ti­tel von Leo­nie Swanns drit­ter Kri­mi­nal­ge­schich­te, in der er­neut ein ani­ma­li­scher Er­mitt­ler an der Mör­der­su­che be­tei­ligt ist. In ih­ren bei­den vor­aus­ge­gan­ge­nen Best­sel­lern Glenn­kill und Ga­rou hat­te Swann eine Schafs­her­de als De­tek­tiv­trup­pe auf­tre­ten las­sen. Sie­ben Jah­re nach dem zwei­ten Teil hilft nun ein Pa­pa­gei na­mens Gray – das drit­te G in Fol­ge – da­bei, die To­des­um­stän­de sei­nes ver­bli­che­nen Be­sit­zers auf­zu­klä­ren. Da­bei greift die Auto­rin wie­der auf das be­währ­te Kon­zept ih­rer Schafs­kri­mis zu­rück.

Dieses Kon­zept be­steht nicht et­wa da­rin, ihre tie­ri­schen Ro­man­fi­gu­ren als ver­mensch­lich­te Kri­mi­na­lis­ten auf­tre­ten zu las­sen. (Et­wa wie die samt­pfö­ti­ge De­tek­ti­vin Mrs. Mur­phy bei Ri­ta Mae Brown oder das Erd­männ­chen Ray von Mo­ritz Mat­thies.) Bei Leo­nie Swann blei­ben Scha­fe Scha­fe, Zie­gen blei­ben Zie­gen und ein Pa­pa­gei eben ein Pa­pa­gei.

„Nimm ne Nuss!“

Glennkill und Garou waren immer­hin noch aus der Per­spek­tive der Schafe geschrie­ben. Die Tiere konn­ten mensch­li­che Spra­che ver­ste­hen und sich ihren Reim darauf machen, auch wenn sie sich selbst nur mit­tels Schafs­lau­ten unter­ein­an­der ver­ständ­lich machen konn­ten. Der Papa­gei Gray hin­ge­gen wird nie­mals zum Erzäh­ler. Er bleibt stets der Beglei­ter der Haupt­figur, obwohl er im Gegen­satz zu den Scha­fen als Papa­gei tat­säch­lich mensch­li­che Spra­che von sich geben kann. Mit sei­nen manch­mal mehr, manch­mal weni­ger ziel­siche­ren und oft zwei­deu­ti­gen Äuße­run­gen erregt Gray nicht nur die Begeis­te­rung diver­ser Roman­figu­ren son­dern auch die der Leser­schaft.

Gray – Worum geht es?

Auf dem Uni­ver­sitäts­ge­lände im eng­li­schen Cam­bridge stürzt ein Stu­dent vom Dach der King’s Col­lege Kapelle in den Tod. – Ein Unfall? Selbst­mord? Oder etwa doch …

Dr. Augus­tus Huff war Tutor und Zim­mer­nach­bar des Toten. Alar­miert von einer Rei­ni­gungs­kraft stö­bert Huff in den Räu­men des Ver­stor­be­nen einen krei­schen­den Papa­geien auf, der laut­stark den Hit Bad Romance von Lady Gaga into­niert. Von da an weicht Gray, der Papa­gei des Toten, nicht mehr von Huffs Seite. Das Pro­blem: Augus­tus Huff ist hoch­gra­dig neu­ro­tisch und aber­gläu­bisch, lei­det unter Zähl- und Ord­nungs­zwang. Stu­den­ten nen­nen ihn unter vor­gehal­te­ner Hand nur „Dr. Tick-Tick-Tick“. Und nun hat er auch noch einen Vogel!

Von Anfang an zwei­felt Huff an einer Unfall- oder Selbst­mord­theo­rie. Sehr bald fin­det er auch Indi­zien, die seine Zwei­fel unter­mau­ern. Gegen die Wider­stände sei­nes Umfel­des macht sich der Uni­do­zent also daran, den mys­teriö­sen Todes­fall unter die Lupe zu neh­men. Der Papa­gei ist ihm dabei sowohl Hin­der­nis als auch Hilfe. Denn Gray singt nicht nur Schla­ger son­dern zitiert stän­dig Worte und Halb­sätze, die er von sei­nem vor­mali­gen Besit­zer und ande­ren Per­so­nen auf­ge­schnappt hatte. Mit sei­nem vor­lau­ten Gekrächze bringt der Vogel sei­nen neuen Hal­ter oft in Ver­legen­heit, letzt­lich aller­dings auch auf die Spur der Gescheh­nisse, die zum Tod des Stu­den­ten führ­ten.

Gray – Erfolgsrezept

Einer­seits bringt die Ge­schich­te bereits eine hohe Anfangs­geschwin­dig­keit mit, weil sie annä­hernd in Echt­zeit geschrie­ben ist. In Echt­zeit und stets aus der Sicht des Pro­tago­nis­ten Augus­tus Huff, ohne Per­spek­tiven­wech­sel. Die Ein­tei­lung in ein­und­zwan­zig Kapi­tel ist eher will­kür­lich. Inhalt­lich tren­nende Ele­mente stel­len die Kapi­tel­gren­zen näm­lich nicht dar. Zäsu­ren bil­den ledig­lich einige wenige Ein­schübe mit der stets glei­chen Über­schrift „Tage­buch eines Luf­ti­kus“. Von Anfang an klar ist, dass mit dem „Luf­ti­kus“ ein Fassa­den­klet­te­rer gemeint ist. Aller­dings, um wel­che Per­son es sich dabei han­delt, die die Gescheh­nisse kom­men­tiert, wird erst gegen Ende der Roman­ge­schich­te erkenn­bar.

Ande­rer­seits ist es nicht ein­fach, eine Echt­zeit­erzäh­lung so zu schrei­ben, dass sie über die gesamte Stre­cke hin­weg inte­res­sant bleibt. Doch genau das ist der Auto­rin gera­dezu meister­haft gelun­gen. Hand­lungs­arme Durst­stre­cken über­brückt sie dabei wech­sel­weise mit der Schil­de­rung der lie­bens­wer­ten Neu­ro­sen der Haupt­figur Huff oder mit wir­kungs­vol­len Sprach­ein­schü­ben sei­nes tie­ri­schen Beglei­ters Gray. Tat­säch­lich nutzt Swann die Ein­würfe des Papa­geien häu­fig als Sti­mu­lans für den Pro­fes­sor, nun doch end­lich den nächst­fäl­li­gen Schritt zu tun. (Aller­dings bitte immer „mit links voran“; denn einen Weg mit dem rech­ten Fuß zu begin­nen, das wäre für den aber­gläu­bi­schen Dozen­ten dann doch ein zu schlech­tes Omen.)

Leonie Swanns Humor

Einen Groß­teil seiner Attrak­tivi­tät zieht der Roman aus dem tro­cke­nen Humor der Schrift­stel­le­rin. Das beginnt, wie bereits ange­merkt, mit dem Titel: Nach Glenn­kill und Garou folgte der dritte Roman­ti­tel, der mit einem G beginnt. Die­ses dritte G, der Papa­gei Gray, ist ein ech­ter Spaß­vo­gel. Illus­trie­ren möchte ich das mit einem Dia­log wäh­rend eines Uni­ver­sitäts­din­ners, an dem auch Gray auf der Schul­ter sei­nes Hal­ters teil­nimmt:

Zu seiner Lin­ken hatte es Gray end­lich geschafft, mit dem klei­nen Wis­sen­schaft­ler ein Ge­spräch über Mikro­bio­lo­gie anzu­knüp­fen.
„Wolle?“, fragte er. „Papier?“
„Bei­nahe über­all!“, erklärte der Mikro­bio­loge. „Fas­zinie­ren­de Krea­tu­ren. Bewun­derns­wert.“
„Faszi­nie­rend!“, stimmte Gray zu.
„Hier. Auf dem Tisch. Auf unse­ren Kör­pern. In unse­ren Kör­pern. Wir sind nichts als … Kolo­nien von Bak­te­rien! Ist das nicht wun­der­voll?“
„Knapp dane­ben ist auch vor­bei“, gab Gray zu beden­ken.
„Es gibt kein ‚dane­ben‘!“, wider­sprach der Mikro­bio­loge mit glän­zen­den Augen. „Sie sind über­all. Sie pas­sen sich an. Sie sind wir!“
„Wir!“, sagte Gray gut­gläu­big. „Huff?“
(Seite 339)

Und in diesem Moment ver­liert neben Gray Augus­tus Huff in sei­nem Sau­ber­keits­wahn die Fas­sung ange­sichts des gru­seli­gen Bak­terien­dia­lo­ges sei­nes Papa­geien. Wit­zige Text­pas­sa­gen durch­bre­chen die eigent­li­chen Erkennt­nisse des aka­demi­schen Ermitt­lers und heben deren Bedeu­tung auf beson­dere Weise her­vor. Und all dies passt natür­lich her­vor­ra­gend zur all­seits bekann­ten eigen­bröt­leri­schen Trot­telig­keit der Wis­sen­schaft­ler an einer dis­tin­guier­ten engli­schen Uni­versi­tät.

Formulierungsgenie

Nach der Lek­türe mei­nes drit­ten Romans von Leo­nie Swann muss ich ein­mal los­wer­den, dass ich die Auto­rin für eine begna­dete Erzähl­künst­le­rin halte, für ein For­mulie­rungs­ge­nie, wie es nur weni­ge gibt. Denn wie man es dreht und wen­det: Inhalt­lich gibt keine der Ge­schich­ten um Schafe oder Papa­geien und Aka­demi­ker allzu viel inte­res­san­tes Mate­rial her. Als Krimi­fälle sind die Stoffe zweit- oder dritt­klas­sig.

Aber was die Schrift­stel­le­rin jeweils aus die­sen mage­ren Mate­rial­samm­lun­gen gemacht hat, ist erstaun­lich, ist wun­der­bar, einzig­ar­tig. Ach ja, und dann auch noch Dau­men­kino. Gro­ßes Dau­men­kino, so wie auch schon in Garou (siehe eben­da). Nur dies­mal eben mit Papa­gei und Nuss statt Wid­der!

„Gaga, ooh-la-la“

Nach all die­sen Hin­wei­sen auf die aus­ge­suchte Cho­reo­gra­fie des Romans möchte ich noch ein­mal auf Grays Lieb­lings­hit von Lady Gaga zurück­kom­men, der immer wie­der in der Erzäh­lung auf­taucht. Denn auch der ist kein Zufall. Zum einen passt der Song­text wie die Faust aufs Auge des papa­gei­schen Gekräch­zes: „Rah, rah-ah-ah-ah!“
Und zum ande­ren bie­tet er von Anfang an einen fei­nen Hin­weis auf das Motiv der Blut­tat der Ge­schich­te:

I want your love and all your lover’s revenge
You and me could write a bad romance

~

Wenn ich hier schon so ins Schwär­men gerate, dann schließe ich diese beschei­dene Hymne auch noch mit mei­ner Lieb­lings­pas­sage aus Gray ab, einer absurd-nach­denk­li­chen Betrach­tung über Bücher. Inhalt­lich ganz abseits der Roman­erzäh­lung. Aber ein­fach wun­der­voll for­mu­liert:

Alte Bücher. Gebraucht. Gebrauchte Bücher mach­ten ihn ner­vös […], weil diese Bücher so etwas wie Erfah­rung besa­ßen – Erfah­rung mit dem Gele­sen-Wer­den. Selbst­bewusste, reso­lute Bücher, die sich ihrer Wir­kung voll bewusst waren, die ihn viel­leicht mit frü­he­ren Lesern ver­gli­chen, klü­ge­ren, ein­sich­tige­ren, als er je sein würde.
(Seite 86)

~

Wer diese Buchbesprechung mag, wird sich womöglich für meine Rezensionen der beiden Schafskrimis Leonie Swanns interessieren: Glennkill oder Garou.

Fazit:

Leonie Swann hat es also wie­der getan. Nach einem Schafs­krimi, einem Schaf-Thril­ler und einem Sei­ten­schritt in ein ande­res Genre (Dun­kel­sprung) schiebt sie den drit­ten Roman mit einem tie­ri­schen Mord­ermitt­ler nach. Gray ist zwar in vie­ler­lei Hin­sicht anders als die Schafs­ge­schich­ten der Auto­rin; und doch in gewis­ser Weise sehr ähn­lich, weil die Ge­schich­te mensch­li­che Schwä­chen und Unzu­läng­lich­kei­ten aus einer tie­ri­schen Per­spek­tive beleuch­tet und dadurch umso sicht­ba­rer macht. Wer an richtig guter Unter­hal­tung inte­res­siert ist, die auch noch mit einer reich­li­chen Prise an Hin­ter­sinn gewürzt ist, sollte sich den Roman unbe­dingt auf den Bücher­sta­pel legen.

Für ihren Humor und für ihre For­mulie­rungs­künste hat sich Leo­nie Swann auch dies­mal drei ganz, ganz dicke Sterne ver­dient. Für vier von fün­fen hat es aller­dings auch dies­mal knapp nicht gereicht.

Leonie Swann: Gray
Goldmann Verlag, 2017

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