
Die tierische Krimiautorin hat wieder zugeschlagen: Gray lautet der Titel von Leonie Swanns dritter Kriminalgeschichte, in der erneut ein animalischer Ermittler an der Mördersuche beteiligt ist. In ihren beiden vorausgegangenen Bestsellern Glennkill und Garou hatte Swann eine Schafsherde als Detektivtruppe auftreten lassen. Sieben Jahre nach dem zweiten Teil hilft nun ein Papagei namens Gray – das dritte G in Folge – dabei, die Todesumstände seines verblichenen Besitzers aufzuklären. Dabei greift die Autorin wieder auf das bewährte Konzept ihrer Schafskrimis zurück.
Dieses Konzept besteht nicht etwa darin, ihre tierischen Romanfiguren als vermenschlichte Kriminalisten auftreten zu lassen. (Etwa wie die samtpfötige Detektivin Mrs. Murphy bei Rita Mae Brown oder das Erdmännchen Ray von Moritz Matthies.) Bei Leonie Swann bleiben Schafe Schafe, Ziegen bleiben Ziegen und ein Papagei eben ein Papagei.
„Nimm ne Nuss!“
Glennkill und Garou waren immerhin noch aus der Perspektive der Schafe geschrieben. Die Tiere konnten menschliche Sprache verstehen und sich ihren Reim darauf machen, auch wenn sie sich selbst nur mittels Schafslauten untereinander verständlich machen konnten. Der Papagei Gray hingegen wird niemals zum Erzähler. Er bleibt stets der Begleiter der Hauptfigur, obwohl er im Gegensatz zu den Schafen als Papagei tatsächlich menschliche Sprache von sich geben kann. Mit seinen manchmal mehr, manchmal weniger zielsicheren und oft zweideutigen Äußerungen erregt Gray nicht nur die Begeisterung diverser Romanfiguren sondern auch die der Leserschaft.
Worum geht es?
Auf dem Universitätsgelände im englischen Cambridge stürzt ein Student vom Dach der King’s College Kapelle in den Tod. – Ein Unfall? Selbstmord? Oder etwa doch …
Dr. Augustus Huff war Tutor und Zimmernachbar des Toten. Alarmiert von einer Reinigungskraft stöbert Huff in den Räumen des Verstorbenen einen kreischenden Papageien auf, der lautstark den Hit Bad Romance von Lady Gaga intoniert. Von da an weicht Gray, der Papagei des Toten, nicht mehr von Huffs Seite. Das Problem: Augustus Huff ist hochgradig neurotisch und abergläubisch, leidet unter Zähl- und Ordnungszwang. Studenten nennen ihn unter vorgehaltener Hand nur „Dr. Tick-Tick-Tick“. Und nun hat er auch noch einen Vogel!
Von Anfang an zweifelt Huff an einer Unfall- oder Selbstmordtheorie. Sehr bald findet er auch Indizien, die seine Zweifel untermauern. Gegen die Widerstände seines Umfeldes macht sich der Unidozent also daran, den mysteriösen Todesfall unter die Lupe zu nehmen. Der Papagei ist ihm dabei sowohl Hindernis als auch Hilfe. Denn Gray singt nicht nur Schlager sondern zitiert ständig Worte und Halbsätze, die er von seinem vormaligen Besitzer und anderen Personen aufgeschnappt hatte. Mit seinem vorlauten Gekrächze bringt der Vogel seinen neuen Halter oft in Verlegenheit, letztlich allerdings auch auf die Spur der Geschehnisse, die zum Tod des Studenten führten.
Erfolgsrezept
Einerseits bringt die Geschichte bereits eine hohe Anfangsgeschwindigkeit mit, weil sie annähernd in Echtzeit geschrieben ist. In Echtzeit und stets aus der Sicht des Protagonisten Augustus Huff, ohne Perspektivenwechsel. Die Einteilung in einundzwanzig Kapitel ist eher willkürlich. Inhaltlich trennende Elemente stellen die Kapitelgrenzen nämlich nicht dar. Zäsuren bilden lediglich einige wenige Einschübe mit der stets gleichen Überschrift „Tagebuch eines Luftikus“. Von Anfang an klar ist, dass mit dem „Luftikus“ ein Fassadenkletterer gemeint ist. Allerdings, um welche Person es sich dabei handelt, die die Geschehnisse kommentiert, wird erst gegen Ende der Romangeschichte erkennbar.
Andererseits ist es nicht einfach, eine Echtzeiterzählung so zu schreiben, dass sie über die gesamte Strecke hinweg interessant bleibt. Doch genau das ist der Autorin geradezu meisterhaft gelungen. Handlungsarme Durststrecken überbrückt sie dabei wechselweise mit der Schilderung der liebenswerten Neurosen der Hauptfigur Huff oder mit wirkungsvollen Spracheinschüben seines tierischen Begleiters Gray. Tatsächlich nutzt Swann die Einwürfe des Papageien häufig als Stimulans für den Professor, nun doch endlich den nächstfälligen Schritt zu tun. (Allerdings bitte immer „mit links voran“; denn einen Weg mit dem rechten Fuß zu beginnen, das wäre für den abergläubischen Dozenten dann doch ein zu schlechtes Omen.)
Leonie Swanns Humor
Einen Großteil seiner Attraktivität zieht der Roman aus dem trockenen Humor der Schriftstellerin. Das beginnt, wie bereits angemerkt, mit dem Titel: Nach Glennkill und Garou folgte der dritte Romantitel, der mit einem G beginnt. Dieses dritte G, der Papagei Gray, ist ein echter Spaßvogel. Illustrieren möchte ich das mit einem Dialog während eines Universitätsdinners, an dem auch Gray auf der Schulter seines Halters teilnimmt:
Zu seiner Linken hatte es Gray endlich geschafft, mit dem kleinen Wissenschaftler ein Gespräch über Mikrobiologie anzuknüpfen.
„Wolle?“, fragte er. „Papier?“
„Beinahe überall!“, erklärte der Mikrobiologe. „Faszinierende Kreaturen. Bewundernswert.“
„Faszinierend!“, stimmte Gray zu.
„Hier. Auf dem Tisch. Auf unseren Körpern. In unseren Körpern. Wir sind nichts als … Kolonien von Bakterien! Ist das nicht wundervoll?“
„Knapp daneben ist auch vorbei“, gab Gray zu bedenken.
„Es gibt kein ‚daneben‘!“, widersprach der Mikrobiologe mit glänzenden Augen. „Sie sind überall. Sie passen sich an. Sie sind wir!“
„Wir!“, sagte Gray gutgläubig. „Huff?“
(Seite 339)
Und in diesem Moment verliert neben Gray Augustus Huff in seinem Sauberkeitswahn die Fassung angesichts des gruseligen Bakteriendialoges seines Papageien. Witzige Textpassagen durchbrechen die eigentlichen Erkenntnisse des akademischen Ermittlers und heben deren Bedeutung auf besondere Weise hervor. Und all dies passt natürlich hervorragend zur allseits bekannten eigenbrötlerischen Trotteligkeit der Wissenschaftler an einer distinguierten englischen Universität.
Formulierungsgenie
Nach der Lektüre meines dritten Romans von Leonie Swann muss ich einmal loswerden, dass ich die Autorin für eine begnadete Erzählkünstlerin halte, für ein Formulierungsgenie, wie es nur wenige gibt. Denn wie man es dreht und wendet: Inhaltlich gibt keine der Geschichten um Schafe oder Papageien und Akademiker allzu viel interessantes Material her. Als Krimifälle sind die Stoffe zweit- oder drittklassig.
Aber was die Schriftstellerin jeweils aus diesen mageren Materialsammlungen gemacht hat, ist erstaunlich, ist wunderbar, einzigartig. Ach ja, und dann auch noch Daumenkino. Großes Daumenkino, so wie auch schon in Garou (siehe ebenda). Nur diesmal eben mit Papagei und Nuss statt Widder!
„Gaga, ooh-la-la“
Nach all diesen Hinweisen auf die ausgesuchte Choreografie des Romans möchte ich noch einmal auf Grays Lieblingshit von Lady Gaga zurückkommen, der immer wieder in der Erzählung auftaucht. Denn auch der ist kein Zufall. Zum einen passt der Songtext wie die Faust aufs Auge des papageischen Gekrächzes: „Rah, rah-ah-ah-ah!“
Und zum anderen bietet er von Anfang an einen feinen Hinweis auf das Motiv der Bluttat der Geschichte:
I want your love and all your lover’s revenge
You and me could write a bad romance
~
Wenn ich hier schon so ins Schwärmen gerate, dann schließe ich diese bescheidene Hymne auch noch mit meiner Lieblingspassage aus Gray ab, einer absurd-nachdenklichen Betrachtung über Bücher. Inhaltlich ganz abseits der Romanerzählung. Aber einfach wundervoll formuliert:
Alte Bücher. Gebraucht. Gebrauchte Bücher machten ihn nervös […], weil diese Bücher so etwas wie Erfahrung besaßen – Erfahrung mit dem Gelesen-Werden. Selbstbewusste, resolute Bücher, die sich ihrer Wirkung voll bewusst waren, die ihn vielleicht mit früheren Lesern verglichen, klügeren, einsichtigeren, als er je sein würde.
(Seite 86)
~
Wer diese Buchbesprechung mag, wird sich womöglich für meine Rezensionen der beiden Schafskrimis Leonie Swanns interessieren: Glennkill oder Garou.
Fazit:
Leonie Swann hat es also wieder getan. Nach einem Schafskrimi, einem Schaf-Thriller und einem Seitenschritt in ein anderes Genre (Dunkelsprung) schiebt sie den dritten Roman mit einem tierischen Mordermittler nach. Gray ist zwar in vielerlei Hinsicht anders als die Schafsgeschichten der Autorin; und doch in gewisser Weise sehr ähnlich, weil die Geschichte menschliche Schwächen und Unzulänglichkeiten aus einer tierischen Perspektive beleuchtet und dadurch umso sichtbarer macht. Wer an richtig guter Unterhaltung interessiert ist, die auch noch mit einer reichlichen Prise an Hintersinn gewürzt ist, sollte sich den Roman unbedingt auf den Bücherstapel legen.
Für ihren Humor und für ihre Formulierungskünste hat sich Leonie Swann auch diesmal drei ganz, ganz dicke Sterne verdient. Für vier von fünfen hat es allerdings auch diesmal knapp nicht gereicht.
Leonie Swann: Gray
Goldmann Verlag, 2017
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