Im April 2022 wurde der französische Sozialist Emmanuel Macron zum zweiten Mal in Folge in der Stichwahl zum Staatspräsidenten unseres Nachbarlandes gewählt. Sieben Jahre zuvor, am 7. Januar 2015, erschien der Roman Unterwerfung des Schriftstellers und Bürgerschrecks Michel Houellebecq. Darin beschreibt der Autor, wie Ende Mai 2022 eine Allianz von Sozialisten, Konservativen und Muslimen unter der Führung eines gewissen Mohammed Ben Abbes die Übernahme der Staatsgeschäfte durch die rechtsextreme Marine Le Pen verhindert. Diese fiktive Geschichte unterbreitet uns Houellebecq aus der Sicht eines Ich-Erzähler namens François, eines Literaturprofessors in bestem Alter, der an der Pariser Sorbonne lehrt.
Ich habe Geschmack daran gefunden, Romangeschichten, die einen gewissen Zukunftsbezug haben, einige Jahre später noch einmal zu lesen und sozusagen einer Art „Faktencheck“* zu unterwerfen. So etwa nämlich, wie ich es unlängst mit Hart auf Hart von T. C. Boyle unternommen habe. Auch Houellebecqs Unterwerfung eignet sich dafür besonders gut, und zwar aus zwei Gründen:
Zum einen erfolgte exakt am Tag der Veröffentlichung das islamistisch motivierte Attentat auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo, das sein Titelbild dem Autor gewidmet hatte. Houellebecq wurde daraufhin eine Mitverantwortung unterstellt, er brach die Reklamekampagne für sein Buch ab und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.
Zum anderen war bereits zum Erscheinungszeitpunkt des Buches zweifellos klar, dass das Szenario einer muslimischen Machtübernahme in Frankreich selbst erst im Jahr 2022 völlig fiktiv und jenseits aller vorstellbaren Prognosen lag. – Was also hatte Houellebecq im Sinn, als er uns seine Utopie präsentierte?
Worum geht es?
Bevor ich mich der Frage nach den Absichten des Autors nähere, soll allerdings zunächst möglichst kurz und knapp festgehalten werden, was im Roman passiert. François ist Literaturwissenschaftler und anerkannter Experte für einen französischen Literaten des 19. Jahrhunderts namens Huysmans.
Details zu Joris-Karl Huysmans aufklappen
Details verbergen
Für die Romangeschichte von Unterwerfung am bedeutsamsten erscheint Huysmans spirituelle Sinnsuche und seine damit verbundene Hinwendung zur christlichen Religiosität. Die ließ ihn spät im Leben zum Laienbruder in der Abtei Saint-Martin von Ligugé bei Poitiers werden.
~
Details zu Joris-Karl Huysmans einklappen
François steht erst in seinen Vierzigern. Er ist allerdings überzeugt, seine beste Zeit bereits hinter sich zu haben. Dies gilt sowohl für seine wissenschaftliche Laufbahn an der Pariser Sorbonne als auch für sein Privatleben. Denn seine Aufgabe als Literaturdozent an der Universität bereitet ihm keine Freude. Seine Kolleginnen und Kollegen langweilen ihn und selbst die wechselnden sexuellen Beziehungen zu den Studentinnen seiner Kurse enden stets und verlässlich im Nichts. Das Leben François‘ besteht aus ziellosem Herumvögeln, Fertiggerichten und alkoholischen Exzessen.
Die Präsidentschaftswahl 2022
Eigentlich ist François politisch uninteressiert. Er ist sich selbst und der Gesellschaft, in der er zu leben gezwungen ist, überdrüssig. Doch die außerordentlichen Geschehnisse vor und während der Präsidentschaftswahlen zwingen ihn dazu, sich dennoch mit der Landespolitik zu befassen. Denn nach dem ersten Wahlgang, der ein Patt zwischen Rechtsnationalen und dieser merkwürdigen Koalition aus Muslimen und den beiden Volksparteien bringt, wird die Universität geschlossen. François verlässt danach Paris und wird auf seiner kleinen Flucht mit apokalyptischen, bürgerkriegsähnlichen Szenen konfrontiert.
Nachdem die Koalition unter Mohammed Ben Abbes letztlich den Sieg davongetragen hat, verliert François seine Anstellung. Allerdings sollen ihm – unerwartet – als Frühpensionär finanziell hervorragende Bedingungen zustehen. Die neue Regierung unter muslimischer Ägide hat sich also formiert und reformiert den bis dahin desolaten Staat. Viel Geld fließt aus reichen arabischen Staaten, die Gesellschaft wird umgebaut – ohne jeden Widerspruch aus der Opposition, der Medienlandschaft oder gar von Seiten der europäischen Nachbarn.
Letztlich erhält François das Angebot, seine Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen. Wenn er denn nur dazu bereit wäre, zum Islam zu konvertieren. Dann nämlich würde er ein exorbitantes Gehalt beziehen. Und sich außerdem zwei oder drei Ehefrauen sozusagen für alle Lebenslagen nehmen können. Die Romangeschichte endet an dieser Stelle offen.
Ich hätte nichts zu bereuen.
(François‘ Schlusswort, Seite 271)
Realitätsbezug?
Ich sagte es ja bereits: Der Sozialist Macron hat die Wahlen 2022 im zweiten Urnengang gegen die extreme Rechte von Marine Le Pen gewonnen. Nämlich mit 58 gegen 41 Prozent. Von einer politisch-muslimischen Opposition war dabei weit und breit nichts zu sehen. Denn unter den zwölf Präsidentschaftskandidaten war nicht einer mit islamischem Hintergrund.
Doch gehen wir noch einen Schritt weiter. Im Jahr 2020 gab es 38 Millionen Franzosen mit christlicher Sozialisierung, gut fünf Millionen Muslime und etwa 20 Millionen religiös Ungebundene. Bemühen wir nun die Hochrechnungen für das Jahr 2050: in dreißig Jahren wird es in Frankreich nur mehr 30 Millionen bekennende Christen geben, zwar immerhin 7,5 Millionen Muslime, jedoch fast 31 Millionen religionslose Bürger. (Quelle: statista.de)
Künftig werden also Agnostiker und Atheisten die Mehrheit der französischen Bevölkerung stellen. Solche Prognosen waren und sind sicher auch Michel Houellebecq bekannt. – Ich stelle eine These auf: Genau das war der Grund für den Autor, sich in das gedankliche Abenteuer einer faktisch absurden, religiös geprägten Staatspräsidentschaft zu stürzen.
Heilsversprechen?
Hat also Houellebecq wahrgenommen, dass die gesellschaftliche Entwicklung weg von der Verbindlichkeit und menschlicher Wärme religiöser Rahmenbedingungen zwangsläufig in Apathie und Interesselosigkeit münden würde müssen? Hat er sich deshalb als Hintergrundpersonal und Ideenlieferanten diesen Joris-Karl Huysmans herausgepickt, der in seinen späten Jahren zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt war und darum zum religiösen Konvertiten wurde? Hält er uns mit seinem behäbigen Protagonisten François, der sowieso nur an Ficken, Fressen und Saufen denkt, den Spiegel vor?
Ich weiß es nicht. Ich bin ein wenig ratlos. Klar ist, dass ein Intellektueller wie Houellebecq diese Lösung mit dem Heilsversprechen des Islam nicht ernst meinen kann. Auch nicht, wenn er über viele Buchseiten hinweg den vermeintlichen Charme einer solchen Lösung gegenüber François glorifizieren lässt. Dazu bedient er sich Nebenfiguren wie des Geheimdienstlers Alain Tanneur. Oder des ehemaligen Identitären und Wendehalses Robert Rediger.
Was triggert den Autor? Ist es ein simples „Wehret den Anfängen“? Oder hatte er vielleicht doch vor Augen, was aus Europa hätte werden können, wenn nicht im 15. Jahrhundert die Katholischen Könige in Spanien den letzten Emir von Granada, „El Rey Chico“ Boabdil, verjagt und mit ihm die damals real existierende und prosperierende Koexistenz der drei Buchreligionen beendet hätten?
~
Wirkung
Man muss den ewigen Nörgler und frustrierten Stammtischphilosophen Houellebecq nicht mögen, wenn er schon wieder den quengelnden Zivilisationskritiker raushängen lässt. Man muss auch seine zotigen Sexszenen nicht gut finden, die bestenfalls bewirken, den Protagonisten François in schlechtes Licht zu rücken. Was bei mir nach der Lektüre übrig bleibt: eine Bande machistischer Heuchler, die eine unerwartete politische Wendung hinnehmen, um sich dem neuen System anzubiedern und dessen vermeintliche Vorzüge zur Befriedigung ihrer fragwürdigen sexuellen und finanziellen Gelüste zu nutzen.
Was mir fehlt: die unausweichlichen Reaktionen der Unterlegenen. Denn weder die auf politischem Felde geschlagene Rechtspopulistin Le Pen noch die frisch auf den Stand des Mittelalters zurückgeworfenen französischen Bürgerinnen erheben im Roman ihre Stimmen. Mit Verlaub, beides scheint mir vollkommen unrealistisch. Diesen schleichenden Kuschel-Islam, den auf einmal alle gut finden, nur weil er zunächst die Geldbeutel der Frustrierten füllt und Arbeitslosen- sowie Kriminalitätsraten sinken lässt, den kann ich dem Autor nicht abnehmen.
Was übrig bleibt? Eine mehr oder weniger maskierte Warnung an alternde Zivilisationen? Was steht uns bevor, wenn wir uns nicht alle schnellstens auf unsere Werte besinnen und engagierte Zukunftsplanung angehen? – Ich will ehrlich sein: Die ganze Geschichte ist mir zu platt. Egal welche Botschaft sie uns vermitteln soll.
Und man komme mir jetzt bitte nicht mit der dreifachen „Unterwerfungs“-Theorie. Der Titel könne auf die überfällige politische Unterwerfung eines sterbenden Gesellschaftssystems anspielen? Und/oder auf die angeblich naturgegebene Unterwerfung der Frau gegenüber dem Manne? Oder gar auf die Erfüllung nach extatischer Unterwerfung im sexuellen Sinne gemäß der Geschichte der O. – Ja, was denn? Reden wir hier etwa über fiebrige Fantasien mittelalter Männer mit mittelmäßigen Berufserfolgen und mittelschweren Sex- und Alkoholproblemen? Reden wir hier etwa über Michel Houellebecq selbst?
Fazit:
Nein. Dieser angeblich „mit großer Ernsthaftigkeit und zugleich virtuoser Ironie verhandelte“ Zusammenprall der Kulturen hat mich zu keinem Zeitpunkt meiner Lektüre überzeugen oder gar aufrütteln können. Ja, teilweise hat mich Unterwerfung recht gut unterhalten; zumindest in einigen szenischen Auftritten François‘, dieses trivialen Möchtegern-Bourgeoisen. Aber das war dann doch mehr Lächeln über als Lachen dank. Doch hätte ich diesen Roman nicht gelesen, „ich hätte nichts zu bereuen“. Erkenntnisse, welcher Art auch immer, haben sich bei mir dabei jedenfalls nicht eingestellt. Und Lust auf mehr schon gar nicht.
Der Aktualität des gesamten Themenkomplexes hat es der Roman Michel Houellebecqs zu verdanken, dass mein Algorithmus zur Sternebewertung nur knapp unter drei von fünf möglichen Punkten gelandet ist. Ja, zwei von fünf Sternen treffen es wirklich ziemlich gut.
Michel Houellebecq: Unterwerfung
DuMont Buchverlag, 2015
* * * * *
Wenn Du über diese Links bestellst, erhalte ich eine kleine Provision auf Deinen Einkauf (mehr darüber)
Fußnote:
*) Es geht mir dabei nicht darum festzuhalten, ob ein(e) Autor¦in recht behalten hat oder nicht. Vielmehr interessiert mich, wie das ist mit dem Lesen und Verstehen unter ganz verschiedenen persönlichen oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen:
Die Literatur ist auf ewig mit dem situativen Kontext verbunden, in dem man sich einem Buch annähert. Das persönliche Erleben und die Erzählwelt eines Romans sind für die Zukunft untrennbar miteinander verbunden, weil tagesaktuelle Erinnerungen mit der eigenen Fantasie zu einem Reißverschluss des Denkens verschmelzen.
(Arndt Stroscher, 2022)