Noch vor dem Abschluss des Zyklus um den „Friedhof der Vergessenen Bücher“ streut Carlos Ruiz Zafón eine kurze Erzählung in seine Romanserie ein. Die Geschichte trägt den Titel Der Fürst des Parnass und ist Vor- und Nachwort in einem. In einem dünnen und dazu noch verschwenderisch weit gesetzten Bändchen lässt uns der Autor wissen, wie alles begann.
„Ich habe diese kleine Erzählung als Divertissement gedacht, als eine Art Geschenk an die Leser, das mehr von der geheimen Geschichte des Friedhofs der Vergessenen Bücher aufblitzen lässt.“
(Carlos Ruiz Zafón im Klappentext)
Wahrscheinlich ist mindestens die Hälfte der Leser¦innen hier gelandet, um herauszufinden, wer oder was dieser „Parnass“ ist und um wen es sich bei dessen Fürsten handelt. Also wollen wir zunächst einmal diese beiden Fragen klären. Bevor wir uns Ruiz‘ kurzweiliger Erzählung inhaltlich nähern.
Parnass ist laut Duden ein maskulines Substantiv und die Eindeutschung des Namens Parnassós, eines mittelgriechischen Gebirgszuges. Am Fuß des Massivs liegt die antike Stadt Delphi. In der griechischen Mythologie ist der Parnass Sitz des Apollo und der Musen, also der Göttinnen der Künste. Daher steht die Bezeichnung Parnass für das Reich der Dichtkunst.
Der Fürst des Parnass muss demnach der Erste, der Vorderste im Reiche der Dichtkunst sein. Der Dichterfürst also. Dieser Begriff ist hier in Deutschland in gewisser Weise vorbesetzt mit Johann Wolfgang von Goethe. Aber den meint Carlos Ruiz Zafón nicht in seiner Erzählung, schließlich ist er Spanier.
Über die Zusammenhänge
Der Autor beginnt seine Geschichte mit dem Auftritt des Caballero Antoni de Sempere im „Jahr des Heils 1616“. Dieser Auftritt ist geschuldet dem Ereignis der Beerdigung von Miguel de Cervantes. Da haben wir ihn also, den Fürsten des Parnass! Natürlich konnte kein anderer gemeint sein als der spanische Nationaldichter, dem die Menschheit die Geschichte von Don Quijote, dem Ritter von der traurigen Gestalt verdankt. Übrigens hatte eben dieser Cervantes zwei Jahre vor seinem Tod ein erzählerisches Gedicht mit dem Titel Die Reise zum Parnass geschrieben.
Vierhundert Jahre später verarbeitet Carlos Ruiz das Leben des Miguel de Cervantes. Und zwar genau auf die Weise, die er meisterhaft beherrscht: Er webt einen Teil des Lebens von Cervantes in seinen eigenen Kosmos hinein, den er rund um den Friedhof der Vergessenen Bücher errichtet hat. Der Brückenschlag zwischen dem historischen Cervantes und seiner Romangestalt gelingt Zafón bereits zu Beginn.
Der echte Cervantes nämlich verstarb tatsächlich im Jahr 1616, allerdings in Madrid. Nun verschwanden jedoch irgendwann nach der Beerdigung ebendort die Gebeine des toten Dichterfürsten. Bis heute ist nicht ohne Zweifel belegt, wo Cervantes schließlich seine letzte Ruhe fand. Zafón verlegt diese letzte Ruhestätte kurzerhand nach Barcelona. Den erfundenen Transfer der Leiche schreibt Carlos Ruiz einer seiner Romanfiguren aus dem Spiel des Engels zu. Der mysteriöse Verleger Andreas Corelli, der kein anderer als die Personifizierung des Teufels ist, habe Cervantes mittels seines Einflusses und unermesslichen Reichtumes in die katalanische Hauptstadt verlegen lassen.
Wiedersehen mit Romanfiguren
Corelli ist nicht der Einzige, den der Autor aus seinen ersten drei Romanen hineinzieht in Cervantes‘ Leben. Tatsächlich ist die Beerdigung zu Beginn das vorweggenommene Ende der Geschichte, die Ruiz ein halbes Jahrhundert zuvor beginnen lässt.
Im Jahr 1569 nämlich ist in dieser alternativen Historienversion Cervantes auf der Flucht aus Italien, wo er seine Geliebte, Francesca di Palma, ihrem Ehemann entrissen hatte. Die beiden stranden in Barcelona, wo sich ein Kerl namens Sancho Fermín de la Torre der Flüchtigen annimmt und mit dem Buchdrucker Antoni de Sempere bekannt macht.
Der verkappte Knappe Sancho des Don Quijote lässt dank seiner Namenszusätze den Funken des Wiedererkennens augenblicklich auf Fermín Romero de Torres überspringen. Dieser spätere Fermín war bereits Sidekick des Romanhelden Daniel Sempere in Der Schatten des Windes und Der Gefangene des Himmels. Und über den Namen Sempere braucht niemand lange nachzudenken, der einen der Romane um den Friedhof der Vergessenen Bücher gelesen hat. Dieser Antoni muss etwa ein Ururururgroßvater Daniels gewesen sein. Es folgt noch weiteres Personal aus den Zafón-Romanen, stets zur Belustigung und Fantasieanregung der Leserschaft.
Zusammenfassung des Inhalts
Cervantes taucht also in Begleitung der schönen Francesca in Barcelona auf. Er überzeugt Sempere, seine Romangeschichte Ein Dichter in der Hölle abzudrucken und zu veröffentlichen. Darin erzählt Cervantes die traurige Geschichte Francescas und wie es ihm selbst gelang, die Schöne mit Hilfe des teuflischen Corelli den Klauen ihres Schicksals zu entreißen; jedoch auf Kosten ihres Lebens.
Eben diese Francesca verstirbt nicht nur in Cervantes‘ Geschichte sondern ebenso in Zafóns Fürsten des Parnass. Sempere bietet daraufhin Cervantes an,
„… das junge Mädchen auf einem bescheidenen Friedhof zu beerdigen, auf dem in den schlimmsten Zeiten der Inquisition die Familie Sempere Bücher vor dem Scheiterhaufen gerettet hatte, indem sie sie in den Särgen versteckte und diese in einer Art Bücherfriedhof und -heiligtum bestattet hatten. Voller Dankbarkeit nahm Cervantes an.“
(Seite 66)
Da haben wir es also: Der berüchtigte Friedhof der Vergessenen Bücher aus Carlos Ruiz Zafóns barcelonesischen Tetralogie entstand im sechzehnten Jahrhundert während der spanischen Inquisition unter der Grabstätte von Miguel de Cervantes‘ angeblicher Geliebten Francesca di Parma.
Doch dabei lässt es der Autor nicht bewenden. Erneut mischt Satanas Corelli Geschichte und Geschichtsschreibung auf. Er bringt Cervantes dazu, den ebenfalls umstrittenen und niemals gefundenen dritten Teil des Don Quijote zu Papier zu bringen. Eben dieser dritte Teil wird dann in der ersten und letzten Szene der Kurzgeschichte zum krönenden Element der zafónschen Erfindungsgabe. Corelli legt das Manuskript dem verstorbenen Cervantes auf die Brust, es wird mit ihm in seinem endgültigen Grab bestattet.
„Lieber Cervantes, willkommen auf dem Friedhof der Vergessenen Bücher.“
(Seite 83)
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Wen diese Buchbesprechung neugierig gemacht hat, wird sich vielleicht für das Autorenprofil von Carlos Ruiz Zafón interessieren, das ich als Nachruf zu seinem Tod im Juni 2020 zusammengestellt habe und in dem auch Rezensionen seiner anderen Romane verlinkt sind.
Fazit:
Der Fürst des Parnass ist ein Bändchen von gerade einmal 77 Textseiten, die man auch gut und gerne auf weniger als fünfzig Buchseiten und dennoch sehr gut lesbar unterbringen hätte können. Umso erstaunlicher ist es, wie es Carlos Ruiz Zafón gelingt, eine unglaublich komplexe Erzählung auf so wenig Raum unterzubringen. Eine wahre Erzählflut prasselt auf die Leserschaft ein. Den Friedhof der Vergessenen Bücher auf den spanischen Nationaldichter Cervantes zurückzuführen ist eine geniale Idee einerseits, haarsträubend allerdings mindestens ebenso.
Die vorliegende Kurzgeschichte ist für Freunde der ruizschen Romane ein unverzichtbares Muss, ohne Frage. Wer allerdings die ersten drei Romanteile nicht kennt, insbesondere nicht Das Spiel des Engels, wird das Büchlein schnell entnervt zur Seite legen. Die Geschichte lebt ausschließlich als Erklärung für das Vorausgegangene. Auch ist sie nur deshalb zu empfehlen, weil der Autor selbst in diesem kurzen Prequel sein bewundernswertes Erzähltalent sprudeln lässt. Ganz knapp ist deshalb Der Fürst des Parnass an den vier Sternen vorbeigeschrammt. Immerhin vergebe ich drei dicke von den fünf möglichen Sternen.
Carlos Ruiz Zafón:
El príncipe de parnaso | Der Fürst des Parnass,
🇪🇸 Planeta, 2012
🇩🇪 Fischer Verlag, 2014