Der Fürst des Parnass

Der Fürst des Parnass
Carlos Ruiz Zafón, 2014

Noch vor dem Ab­schluss des Zyk­lus um den „Fried­hof der Ver­ges­se­nen Bü­cher“ streut Car­los Ruiz Za­fón eine kur­ze Er­zäh­lung in sei­ne Ro­man­se­rie ein. Die­ Ge­schich­te trägt den Ti­tel Der Fürst des Parnass und ist Vor- und Nach­wort in einem. In einem dün­nen und da­zu noch ver­schwen­de­risch weit ge­setz­ten Bänd­chen lässt uns der Autor wis­sen, wie al­les be­gann.

„Ich ha­be die­se klei­ne Er­zäh­lung als Di­ver­tis­se­ment ge­dacht, als eine Art Ge­schenk an die Le­ser, das mehr von der ge­hei­men Ge­schich­te des Fried­hofs der Ver­ges­se­nen Bü­cher auf­blit­zen lässt.“
(Carlos Ruiz Zafón im Klappentext)

Wahr­schein­lich ist min­des­tens die Hälf­te der Lese­r¦in­nen hier ge­lan­det, um he­raus­zu­fin­den, wer oder was die­ser „Par­nass“ ist und um wen es sich bei des­sen Fürs­ten han­delt. Al­so wol­len wir zu­nächst ein­mal die­se bei­den Fra­gen klä­ren. Be­vor wir uns Ruiz‘ kurz­wei­li­ger Er­zäh­lung in­halt­lich nä­hern.

Parnass ist laut Du­den ein mas­ku­li­nes Sub­stan­tiv und die Ein­deut­schung des Namens Par­nassós, eines mit­tel­grie­chi­schen Gebirgs­zu­ges. Am Fuß des Mas­sivs liegt die antike Stadt Del­phi. In der grie­chi­schen Mytho­lo­gie ist der Par­nass Sitz des Apollo und der Musen, also der Göt­tin­nen der Künste. Daher steht die Bezeich­nung Par­nass für das Reich der Dicht­kunst.

Der Fürst des Parnass muss dem­nach der Erste, der Vor­derste im Rei­che der Dicht­kunst sein. Der Dich­ter­fürst also. Die­ser Begriff ist hier in Deutsch­land in gewis­ser Weise vor­be­setzt mit Johann Wolf­gang von Goethe. Aber den meint Car­los Ruiz Zafón nicht in sei­ner Erzä­hlung, schließ­lich ist er Spa­nier.

Der Fürst des Parnass- Über die Zusammenhänge

Der Autor beginnt seine Ge­schich­te mit dem Auf­tritt des Cabal­lero Antoni de Sem­pere im „Jahr des Heils 1616“. Die­ser Auf­tritt ist geschul­det dem Ereig­nis der Beer­di­gung von Miguel de Cer­van­tes. Da haben wir ihn also, den Fürs­ten des Par­nass! Natür­lich konnte kein ande­rer gemeint sein als der spa­ni­sche Natio­nal­dich­ter, dem die Mensch­heit die Ge­schich­te von Don Qui­jote, dem Rit­ter von der trau­ri­gen Gestalt ver­dankt. Übri­gens hatte eben die­ser Cer­van­tes zwei Jahre vor sei­nem Tod ein erzäh­leri­sches Gedicht mit dem Titel Die Reise zum Par­nass geschrie­ben.

Vier­hun­dert Jahre spä­ter ver­arbei­tet Car­los Ruiz das Leben des Miguel de Cer­van­tes. Und zwar genau auf die Weise, die er meis­ter­haft beherrscht: Er webt einen Teil des Lebens von Cer­van­tes in sei­nen eige­nen Kos­mos hinein, den er rund um den Fried­hof der Ver­ges­se­nen Bücher errich­tet hat. Der Brü­cken­schlag zwi­schen dem his­tori­schen Cer­van­tes und sei­ner Roman­ge­stalt gelingt Zafón bereits zu Beginn.

Der echte Cer­van­tes näm­lich ver­starb tat­säch­lich im Jahr 1616, aller­dings in Madrid. Nun ver­schwan­den jedoch irgend­­wann nach der Beer­di­gung eben­dort die Gebeine des toten Dich­ter­fürs­ten. Bis heute ist nicht ohne Zwei­fel belegt, wo Cer­van­tes schließ­lich seine letzte Ruhe fand. Zafón ver­legt diese letzte Ruhe­stätte kur­zer­hand nach Bar­ce­lona. Den erfun­de­nen Trans­fer der Lei­che schreibt Car­los Ruiz einer sei­ner Roman­figu­ren aus dem Spiel des Engels zu. Der mys­teri­öse Ver­le­ger Andreas Corelli, der kein ande­rer als die Per­soni­fizie­rung des Teu­fels ist, habe Cer­van­tes mit­tels sei­nes Ein­flus­ses und uner­mess­li­chen Reich­tu­mes in die kata­lani­sche Haupt­stadt ver­le­gen las­sen.

Wiedersehen mit Romanfiguren

Corelli ist nicht der Ein­zige, den der Autor aus sei­nen ers­ten drei Roma­nen hinein­zieht in Cer­van­tes‘ Leben. Tat­säch­lich ist die Beer­di­gung zu Beginn das vor­weg­genom­mene Ende der Ge­schich­te, die Ruiz ein hal­bes Jahr­hun­dert zuvor begin­nen lässt.
Im Jahr 1569 näm­lich ist in die­ser alter­nati­ven His­torien­ver­sion Cer­van­tes auf der Flucht aus Ita­lien, wo er seine Geliebte, Fran­cesca di Palma, ihrem Ehe­mann ent­ris­sen hatte. Die bei­den stran­den in Bar­ce­lona, wo sich ein Kerl namens San­cho Fer­mín de la Torre der Flüch­ti­gen annimmt und mit dem Buch­dru­cker Antoni de Sem­pere bekannt macht.

Der ver­kappte Knappe San­cho des Don Qui­jote lässt dank sei­ner Namens­zu­sätze den Fun­ken des Wie­der­erken­nens augen­blick­lich auf Fer­mín Romero de Torres über­sprin­gen. Die­ser spä­tere Fer­mín war bereits Side­kick des Roman­hel­den Daniel Sem­pere in Der Schat­ten des Win­des und Der Gefan­gene des Him­mels. Und über den Namen Sem­pere braucht nie­mand lange nach­zuden­ken, der einen der Romane um den Fried­hof der Ver­ges­se­nen Bücher gele­sen hat. Die­ser Antoni muss etwa ein Ur­ur­ur­ur­groß­vater Daniels gewe­sen sein. Es folgt noch wei­te­res Per­so­nal aus den Zafón-Roma­nen, stets zur Belus­ti­gung und Fan­tasie­anre­gung der Leser­schaft.

Zusammenfassung des Inhalts

Cervantes taucht also in Beglei­tung der schö­nen Fran­cesca in Bar­ce­lona auf. Er über­zeugt Sem­pere, seine Roman­ge­schich­te Ein Dich­ter in der Hölle abzu­dru­cken und zu ver­öffent­li­chen. Darin erzählt Cer­van­tes die trau­rige Ge­schich­te Fran­ces­cas und wie es ihm selbst gelang, die Schöne mit Hilfe des teuf­li­schen Corelli den Klauen ihres Schick­sals zu ent­rei­ßen; jedoch auf Kos­ten ihres Lebens.

Eben diese Fran­cesca ver­stirbt nicht nur in Cer­van­tes‘ Ge­schich­te son­dern ebenso in Zafóns Fürs­ten des Par­nass. Sem­pere bie­tet darauf­hin Cer­van­tes an,

„… das junge Mäd­chen auf einem beschei­de­nen Fried­hof zu beer­di­gen, auf dem in den schlimms­ten Zei­ten der Inqui­si­tion die Fami­lie Sem­pere Bücher vor dem Schei­ter­hau­fen geret­tet hatte, indem sie sie in den Sär­gen ver­steckte und diese in einer Art Bü­cher­fried­hof und -hei­lig­tum bestat­tet hat­ten. Vol­ler Dank­bar­keit nahm Cer­van­tes an.“
(Seite 66)

Da haben wir es also: Der berüch­tigte Fried­hof der Ver­ges­se­nen Bücher aus Car­los Ruiz Zafóns bar­celo­nesi­schen Tetra­lo­gie ent­stand im sech­zehn­ten Jahr­hun­dert wäh­rend der spa­ni­schen Inqui­si­tion unter der Grab­stätte von Miguel de Cer­van­tes‘ angeb­li­cher Gelieb­ten Fran­cesca di Parma.

Doch dabei lässt es der Autor nicht bewen­den. Erneut mischt Sata­nas Corelli Ge­schich­te und Ge­schichts­schrei­bung auf. Er bringt Cer­van­tes dazu, den eben­falls umstrit­te­nen und nie­mals gefun­de­nen drit­ten Teil des Don Qui­jote zu Papier zu brin­gen. Eben die­ser dritte Teil wird dann in der ers­ten und letz­ten Szene der Kurz­ge­schich­te zum krö­nen­den Ele­ment der zafón­schen Erfin­dungs­gabe. Corelli legt das Manu­skript dem ver­stor­be­nen Cer­van­tes auf die Brust, es wird mit ihm in sei­nem end­gül­ti­gen Grab bestat­tet.

„Lieber Cer­van­tes, will­kom­men auf dem Fried­hof der Ver­ges­se­nen Bücher.“
(Seite 83)

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Wen diese Buch­be­spre­chung neu­gie­rig ge­macht hat, wird sich viel­­leicht für das Auto­ren­­pro­fil von Car­los Ruiz Zafón interes­sieren, das ich als Nach­ruf zu seinem Tod im Juni 2020 zusammen­gestellt habe und in dem auch Rezen­sionen sei­ner ande­ren Romane ver­linkt sind.

Fazit:

Der Fürst des Parnass ist ein Bänd­chen von gerade ein­mal 77 Text­sei­ten, die man auch gut und gerne auf weni­ger als fünf­zig Buch­sei­ten und den­noch sehr gut les­bar unter­brin­gen hätte kön­nen. Umso erstaun­li­cher ist es, wie es Car­los Ruiz Zafón gelingt, eine unglaub­lich kom­plexe Erzäh­lung auf so wenig Raum unter­zubrin­gen. Eine wahre Erzähl­flut pras­selt auf die Leser­schaft ein. Den Fried­hof der Ver­ges­se­nen Bücher auf den spa­ni­schen Natio­nal­dich­ter Cer­van­tes zurück­zufüh­ren ist eine geniale Idee einer­seits, haar­sträu­bend aller­dings min­des­tens ebenso.

Die vor­lie­gende Kurz­ge­schich­te ist für Freunde der ruiz­schen Romane ein unver­zicht­ba­res Muss, ohne Frage. Wer aller­dings die ers­ten drei Roman­teile nicht kennt, ins­beson­dere nicht Das Spiel des Engels, wird das Büch­lein schnell ent­nervt zur Seite legen. Die Ge­schich­te lebt aus­schließ­lich als Erklä­rung für das Vor­aus­gegan­gene. Auch ist sie nur des­halb zu emp­feh­len, weil der Autor selbst in die­sem kur­zen Pre­quel sein bewun­derns­wer­tes Erzähl­ta­lent spru­deln lässt. Ganz knapp ist des­halb Der Fürst des Par­nass an den vier Ster­nen vor­bei­ge­schrammt. Immer­hin ver­gebe ich drei dicke von den fünf mög­li­chen Ster­nen.

Carlos Ruiz Zafón:
El príncipe de parnaso
| Der Fürst des Parnass,
🇪🇸 Planeta, 2012
🇩🇪 Fischer Verlag, 2014

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