Manche Literaturkritiker stehen auf dem Standpunkt, biografische Romane seien etwas für schriftstellerische Anfänger. Weil diese mit einem vorgegebenen Tatsachengerüst den Mangel an eigenem, fiktiven Geschichtenmaterial kaschieren könnten. Seit nunmehr vier Dekaden beweist T. C. Boyle regelmäßig, dass eine solche Verallgemeinerung falsch ist. In seinem vierzehnten Roman schreibt der US-amerikanische Meister der Erzählkunst über die Schicksale dreier Frauen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten um den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf der einsamen kleinen Insel San Miguel vor der kalifornischen Küste landen: über die schwindsüchtige Marantha, die ihrem Mann folgt, weil sie sich Besserung ihres Gesundheitszustandes erhoffen; über Maranthas Adoptivtochter Edith; und über die einstige Großstadtbibliothekarin Elise, die schließlich auf San Miguel glückliche Jahre verbringt.
Zugegeben, dieser Abriss hört sich nicht zwingend nach einem literarischen Meisterwerk an. Zumal Boyle auch noch erklärt, er habe sich weitgehend an historisches Material aus dem neunzehnten Jahrhundert gehalten. Wie kann da noch Platz für Spannung oder wenigstens Unerhörtes sein? Doch zumindest meine Zweifel an der Lesbarkeit der Geschichten, gegen jegliche Anwandlung von Langeweile, hat der Autor schnell und gründlich zerstreut.
Über den Inhalt
Am Neujahrstag des Jahres 1888 betritt Marantha Waters (38) die Insel San Miguel nach einer Überfahrt von Santa Barbara. Zum Umzug überredet hat sie ihr zweiter Ehemann Will, der endlich sein eigener Herr sein und auf San Miguel eine Schafzucht übernehmen möchte. Den Einstieg in die Selbständigkeit bezahlt hat Marantha mit der Erbschaft ihres verstorbenen ersten Mannes. Gemeinsam mit dem Ehepaar reisen auch Maranthas Adoptivtochter Edith, die Hausangestellte Ida, beide junge Mädchen, und der Hilfsarbeiter Adolph. Auf der Insel treffen sie auf den jungen Jimmie, der zusammen mit Adolph und Will die Farmarbeit übernehmen und, na ja, sich in Edith verlieben wird.
Marantha leidet an Tuberkulose. Die rauen Wetterbedingungen auf San Miguel sowie die Unterkunft im baufälligen Farmhaus verschlimmern ihr Leiden. Die Frau hasst das spartanische Inselleben von Anfang an, auch wenn sie sich das zunächst nicht eingestehen will. Innerhalb weniger Monate eskaliert die Situation unter den Aussiedlern, und als Marantha ihren Mann beim Seitensprung mit dem Hausmädchen erwischt, erzwingt sie gegen Wills Widerstand die Rückkehr aufs Festland. Nach 172 Buchseiten endet der erste Teil der Geschichte mit dem Titel Marantha.
Teil II: Edith
Mit der Schiffspassage nach Santa Barbara geht die Erzählerrolle von Marantha auf ihre Tochter Edith über. Wir erleben ihre Rückkehr in die Zivilisation mit, die Einschulung in ein Internat für höhere junge Damen bei San Francisco und dann – mit einem Schlag – den Tod ihrer Mutter Marantha. Damit endet Ediths behütetes Familienleben, ihre Welt bricht zusammen. Kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag zwingt ihr Stiefvater Will sie zurück nach San Miguel.
Auf der Insel geht Edith durch die Hölle. Diesmal ist sie die einzige Frau unter den Männern. Denn ihr Stiefvater hatte Ida nicht mitgenommen. Das Hausmädchen war schwanger von ihm, doch Will hatte sie noch in Santa Barbara verstoßen. Also wird Edith auf San Miguel zur Haussklavin der Rancher. Sie lernt zu kochen, den Haushalt mehr schlecht als recht zu führen. Sie fummelt mit Jimmie und verliert während der Schafschur ihre Unschuld an einen der Saisonarbeiter – immer mit dem Hintergedanken, einen Verbündeten zu finden, mit dessen Hilfe sie der verhassten Insel den Rücken kehren könnte.
Und nach mehreren gescheiterten Versuchen, auf einem der Versorgungsboote zu fliehen, gelingt es Edith schließlich im Alter von achtzehn Jahren und achtzig Buchseiten später tatsächlich, der Gefangenschaft zu entkommen:
„Sie war nicht mehr Edith Scott Waters, sie war keine junge Frau von irgendeiner Schafranch auf irgendeiner Insel, sie war in keiner Weise gewöhnlich. Sie war Inez Deane, die Königin der Bühne, und sie kehrte nach Hause zurück.“
(Schlusssatz Teil II, Seite 253)
Teil III: Elise
Harter Bruch: Nachdem Edith Waters irgendwann im Jahr 1891 von San Miguel fliehen konnte, springen wir satte 39 Jahre und einen Weltkrieg in die Zukunft. Im März 1930 landen Elizabeth „Elise“ Lester (38) und ihr frisch angetrauter Ehemann Herbie auf der Insel. Fast zwanzig Jahre lang sollte das Paar auf San Miguel leben. In guten wie in schlechten Tagen. Glücklicherweise brauchen die Lesters nicht in der Ruine der Waters-Ranch zu leben, denn der alte Will hatte noch zu Lebzeiten ein neues Haus aus dem Holz eines gestrandeten Schiffs gebaut.
In diesem Haus spielt sich die gesamte Geschichte um Elise und Herbie ab. Die beiden bekommen Nachwuchs, erst Marianne, dann Betsy, sie arrangieren sich mit Jimmie – ja, genau dem Jimmie, der als Junge bei den Waters gearbeitet hatte und in Edith verliebt gewesen war, nun aber ein alter Mann geworden ist, der aber immer noch im Auftrag des Pächters zwischen Inseln und Festland pendelte. Und der mit seinen sporadischen Erzählungen eine Brücke schlägt zwischen den Romanteilen II und III. (Siehe auch Eintrag in der Islapedia.)
Aus der Einsamkeit der Insel heraus erleben sie die Weltwirtschaftskrise, Prohibition, den Verlauf des Zweiten Weltkrieges – o Schreck, ein japanische U-Boot im Kanal zwischen den Inseln und der kalifornischen Küste! Zweimal bleibt Elise alleine mit den Mädchen auf San Miguel. Zum ersten Mal, nachdem Herbie sich alte Granatsplitter aus dem Leib operieren lassen muss. Und zum zweiten Mal, nachdem er sich in einem Anfall von Zorn auf zwei junge Soldaten, die auf der Insel stationiert sind, beim Brennholzmachen zwei Finger abhackt.
Das Leben der Lesters hätte so weitergehen können. Noch Jahre oder Jahrzehnte, bis die beiden Mädchen erwachsen und Herbie und sein Frau alt geworden wären. Doch dann kam der Tag, an dem Elises Glück endete. Aber das lest Ihr besser selbst nach.
Langweilig?
Nicht wahr? Das hört sich alles nach jeder Menge eintönigen Insellebens an. Nach gut 440 Buchseiten Behäbigkeit, Einsamkeit und Monotonie. Nach kargem Leben weitab von jeder Zivilisation. Da braucht man als Leser¦in schon eisernes Durchhaltevermögen, möchte man meinen.
Tatsächlich aber kommt bei der Lektüre niemals das Gefühl auf, dieser eine elend lange Abschnitt müsse doch nun endlich sein Ende finden. Nein, die Geschichte bleibt von Anfang bis Ende spannend. Dem Autor gelingt es scheinbar mühelos, die Leserschaft mit seinen Hauptfiguren mitfiebern zu lassen. Immer und immer wieder schafft es T. C. Boyle, genau an den richtigen Stellen wohl dosierte Hinweise zu geben, die einen aufhorchen lassen: Da ist doch etwas im Busch, da wird doch nicht etwa …
Und genauso gekonnt bricht Boyle seine Erzählung in den richtigen Momenten ab, so dass es der Fantasie der Leser¦innen überlassen bleibt, die Geschehnisse in Gedanken weiterzuspinnen.
Welt- und Literaturgeschichte
Hinzu kommt, dass immer wieder konkrete Ereignisse der Weltgeschichte durchblitzen, zum Beispiel der Angriff auf Ellwood durch ein japanisches U-Boot. Wir schlingern zusammen mit den verschiedenen Protagonisten durch ein halbes Jahrhundert, das wir alle nicht erlebt haben, noch nicht einmal der Autor selbst. Doch das uns auf diese Weise unmittelbar präsent nahe gebracht wird. Es lohnt sich übrigens, ab und zu die Lektüre zu unterbrechen, um den historischen Hinweisen Boyles nachzugehen; so wie etwa dem hier verlinkten U-Bootangriff.
Wer dann bei der einen oder anderen Textpassage genau aufpasst, dem fallen womöglich auch noch die Versatzstücke aus Shakespeares Inseldrama Der Sturm auf. So lässt der Autor die fünfzehnjährige Edith ihre Beziehung zu Jimmie auf Prosperos Tochter Miranda und den ihr hörigen missgebildeten Inselsklaven Caliban projizieren. Ja, Boyle macht in seinen Texten auch gerne mal die eine oder andere literarische Wundertüte auf.
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Es passiert mir nicht oft, dass ich nach dem Schlusssatz eines Textes völlig gebannt verharre und dann am liebsten gleich noch einmal von vorne beginnen möchte. Um die eine oder andere Verbindung noch einmal nachzulesen. Inzwischen habe ich den Roman dreimal gelesen und bin sicher, dass noch ein paar weitere Durchgänge folgen werden.
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Wer diese Rezension gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind. Darüber hinaus ist San Miguel einer der biografischen Romane, für die Boyle längst weltbekannt ist.
Fazit:
In San Miguel stellt Boyle ein weiteres Mal seine unerhört unterhaltende Erzählkunst unter Beweis. Wer meine anderen Boyle-Besprechungen gelesen hat, mag ruhig denken: Das schreibt er doch bei jedem der Romane. Ihr habt recht. Denn tatsächlich gilt diese Feststellung für alle Bücher des Schriftstellers. Doch nach meinem Empfinden hat T. C. Boyle in seiner Inselgeschichte noch eine Schippe draufgelegt. Wer aus einem solchen Stoff und einer solchen Umgebung eine derart packende Geschichte machen kann, der gehört zur Riege der ganz, ganz Großen. Für mich steht die Inselsaga weit oben auf der Bestenliste dessen, was der Vielschreiber Boyle veröffentlicht hat.
So wundert es mich auch gar nicht, dass mein Bewertungsalgorithmus für San Miguel wieder einmal nicht weniger als vier von fünf möglichen Sternen auswirft. Dieser Roman ist einer von denen, die man als gebundene Ausgabe besitzen muss. Denn als Taschenbuch würde er zweifellos nach ein paar Jahren auseinanderfallen.
T. C. Boyle: San Miguel
🇺🇸 Viking Press, 2012
Carl Hanser Verlag, 2013
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