Im Jahr 2023 wird der Ingeborg-Bachmann-Preis an Valeria Gordeev (37) verliehen. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert und gilt als eine der wichtigsten literarischen Auszeichnungen im deutschen Sprachraum. Er wird seit 1977 von der Stadt Klagenfurt während der Tage der deutschsprachigen Literatur vergeben.
Gordeev erhält den Preis für ihren Text über einen Mann mit Putzwahn: Er putzt. (Auszug und Links siehe unten.) Mit nur einem Punkt Vorsprung hat sich die Autorin damit in einer Stichwahl von der Zweitplatzierten Anna Felnhofer abgesetzt.
Stimmen aus der Jury
„Ein kolossal guter Text. Mit welcher Präzision alles sprachlich abgebildet wird, finde ich großartig gelungen“ — „Hier wird eine Welt entworfen – und das ist das, was Literatur auszeichnet – eine Welt des Schmutzes.“ — „In der Erzählung wird das Bedürfnis nach einer heilen Welt gestillt, in der alles in Ordnung ist.“ — „Der Text schafft trotz extremer Engführung einen weiten Raum. Das ist die Kunst dieses Textes.“ — „Es zeigt, wie man schreiben kann und wie man mit jeder Konzentration auf ein Blutfleckchen immens viel Text produzieren kann.“ — „Vor fünf Jahren hätte ich mich bei diesem Text total gelangweilt. Jetzt nach der Pandemie muss ich sagen, es ist ein hochpolitischer Text. Wir alle sind ihrer Mann geworden. Wir alle sind zwangsneurotisch geworden.“ — „Der Glaube, ich könnte mit den Infektionen umgehen und könnte ihnen mit den Hygienemitteln bekommen, und dann sehe ich, dass man mit Wattestäbchen genau das Gegenteil dessen erreicht, dass man erreichen wollte.“
Siegertext: Er putzt
„ER PUTZT. Putzt die Spüle, putzt den Abfluss, nimmt das Abflusssieb heraus und reinigt die Unterseite des Abflusssiebs. Er schraubt das Abflusssieb auseinander, hebt den Gummiring an und entfernt den faulig darunter hervorkriechenden Schmutzrand. Auch den Gummiring reinigt er, indem er ihn mit Essig besprüht und beidseitig mit Zellstofftüchern abtupft […] Diese Faulheit beim Zuschrauben von Deckeln, ein Segen für die Menschheit, würde sie endlich lernen, Deckel richtig zuzuschrauben – das Öffnen ist ihr gerade noch zuzumuten, das Zuschrauben jedoch übersteigt ihre Kräfte –, das Ergebnis: […] eine Sauerei.“
(Valeria Gordeev, Er putzt, Österreichischer Rundfunk)
Über die Autorin
Valeria Gordeev wurde 1986 in Tübingen gboren. Ihre Eltern waren 1970 aus Russland eingewandert. Gordeevs Familie lebt in Deutschland, der Ukraine, Russland und den USA. Die eigene nationale Erfassung der Autorin beginne als staatenloses Kind, mit diesem Startpunkt fühle sie sich wohl, heißt es auf den Webseiten des Bachmann-Preises. Womöglich interessant ist, dass Gordeevs Abschlussarbeit an der Universität der Künste Berlin ein Reisführer an das Böhmische Meer war, der auf einem bekannten Gedicht Ingeborg Bachmanns basiert.
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In den Zeiten der eskalierten Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, in denen wir nun seit fast 500 Tagen leben, sollte man immer hinterfragen, ob nicht auch die Abstammung einer Preisträger¦in eine Rolle bei der Verleihung gespielt hat. (Nicht dass ich eine solche Komponente kritisieren möchte. Immerhin können auf diese Weise Signale gesetzt werden, die die politische und diplomatische Ebene als kulturelle Facette ergänzen. Selbst wenn die Ausgezeichnete dann mit dem Verdacht zurecht kommen muss, einen Preis für etwas bekommen zu haben, auf das sie selbst keinen Einfluss hatte.)
Ich bin durchaus der Meinung, dass die gefühlte Staatenlosigkeit der Autorin bei gleichzeitiger Abstammung aus Russland als Zeichen von Weltbürgerlichkeit ein Aspekt bei der Preisverleihung gewesen sein könnte; auch wenn von den Preisverleihern auffällig bemüht auf die deutsche Nationalität Gordeevs hingewiesen wird. Ein Aspekt, der die Sinnlosigkeit von Kriegen, unter der alle leiden, Angegriffene ebenso wie Angreifer, ein weiteres Mal unterstreicht. Denn man kann es nicht oft genug sagen.