Mit Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand gelang dem schwedischen Autor Jonas Jonasson vor gut zehn Jahren ein Erstlingsroman, der aus dem Stand zum weltweiten Millionenseller wurde. Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft vor zwei Jahren erschien Jonassons fünfter Roman mit dem Titel Der Massai, der in Schweden noch eine Rechnung offen hatte. Erstaunlicherweise treten in dieser Geschichte gleich zwei Massai auf, die beide eine Rechnung in Schweden offen haben: Ole Mbatian der Jüngere, ein kenianischer Medizinmann, und sein schwedischer Adoptivsohn Kevin Beck. Ole und Kevin bilden das Zentrum der Geschichte, um das weitere Personen kreisen und die bizarre Romanhandlung vorantreiben.
Da wäre an erster Stelle Victor zu nennen. Victor ist Rassist, skrupelloser Geschäftemacher und ein Egomane, dem jedes menschliche Gefühl fehlt. Außerdem ist Victor der leibliche Vater Kevins, den er mit einer Prostituierten gezeugt hat.
„Er heißt Kevin“, sagte sie.
„Hä?“, sagte Victor.
„Er ist dein Sohn.“
„Sohn? Scheiße, der ist doch schwarz.“
„Wenn du mich genau ansiehst, geht dir vielleicht auf, wie es dazu kommen konnte.“
(Dialog zwischen Kevins Mutter und Victor, Seite 27)
Die Mutter ist sterbenskrank und zwingt Victor vor ihrem Tod dazu, sich um den gemeinsamen Sohn zu kümmern. Doch als der Junge achtzehn wird, will ihn sein Vater loswerden. Möglichst elegant und ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Also nimmt er den lästigen Sohn mit auf eine Reise nach Kenia und setzt ihn dort in der Savanne aus in der Gewissheit, die Löwen würden kurzen Prozess mit Kevin machen.
Doch was geschieht statt dessen?
Kevin überlebt die Nacht, wird am nächsten Tag von Ole Mbatian aufgelesen und als lang ersehnter Stammhalter adoptiert. Der Junge wird zum Massaikrieger erzogen und ergreift erst die Flucht, als ihm in einer rituellen Handlung die Vorhaut abgeschnitten werden soll. Er reist zurück nach Schweden.
Da Kevin noch immer die Schlüssel seiner früheren Wohnung in einem Stockholmer Vorort besitzt, sucht er dort Unterschlupf. Doch mittlerweile wohnt dort Jenny Alderheim. Diese Jenny ist ein weiteres Opfer des geldgierigen Victor. Sie war Tochter eines renommierten Kunsthändlers, in dessen Galerie Victor angestellt war. Doch um an Galerie und Geld zu kommen, schleimte sich Victor bei Jennys Vater ein und heiratete schließlich das unbedarfte Mädchen. Allerdings nur, um nach dem Tod des Alten den gesamten Besitz auf sich selbst überschreiben und sich von Jenny scheiden zu lassen.
Die junge Frau landet mittellos in eben der Wohnung, in der Victor einst den Sohn gehalten hatte, bevor er ihn nach Afrika in den Tod schickte. Nun lernen sich also die beiden Opfer Victors kennen und beschließen, Rache zu üben. Zu diesem Zweck wenden sie sich an Hugo Hamlin, einen ehemaligen Marketingstrategen, der gerade ein neues Geschäftsfeld aufbaut: Die Rache ist süß GmbH unterstützt Menschen bei Racheplänen jedweder Art.
Kevin, Jenny und Hugo machen sich daran, Victor um die Früchte seiner Betrügereien zu bringen. Eine wichtige Rolle dabei spielen zwei Gemälde, die Kevin aus der kenianischen Hütte seines Ziehvaters mitgenommen hatte. Jenny, der Tochter eines Kunsthändlers, fällt sofort auf, dass die Bilder dem Stil der südafrikanischen Malerikone Irma Stern sehr nahe kommen. Vielleicht konnten sie ja die beiden Fälschungen Victor unterschieben und damit seinen Ruf als Galerist zerstören?
In diesem Moment taucht Ole Mbatian der Jüngere in Stockholm auf. Der Medizinmann der Massai hatte sich auf die Suche nach dem verschwundenen, aber schmerzlich vermissten Sohn Kevin gemacht.
Culture Clash
Ole begab sich in die Sicherheitskontrollschleuse. Wo ihm prompt der Speer vom Rücken und das Messer von der Seite geklaubt wurden.
„Warum?“, fragte der Massai.
„Weil sie andere gefährden können“, sagte der Mann von der Security.
„Warum sollte ich sie denn sonst dabei haben?“
Die Leute wurden immer merkwürdiger, je weiter er von zu Hause wegkam.
(Erlebnisse des Medizinmannes am Flughafen, Seite 175)
Ein Gutteil seines Witzes zieht die Romangeschichte aus dem Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen. Ein Massai in Stockholm? Das hat zwangsläufig etwas Crocodile-Dundee-haftes. Dieser Vergleich stammt nicht von mir, sondern von Jonasson selbst. Merke: Lege Dich nicht mit jemandem an, der mit Krokodilen schwimmt. Auch dann nicht, wenn Ihr Euch mitten in Schweden befindet und der Krokodilschwimmer nur ein Glas mit Preiselbeermarmelade bei sich trägt!
Mit dieser Randnotiz sind wir auch schon bei der berühmten Filmszene des zweiten Crocodile-Dundee-Teils gelandet, in der nämlich Aussie Mick einen New Yorker U-Bahn-Langfinger mit einem gezielten Weitwurf einer Konservendose zur Strecke bringt. Geht noch mehr Anleihe, Herr Jonasson?
Ja, es geht. Nach einem Todesfall ermittelt die Stockholmer Kriminalpolizei. Und zwar in Person eines missmutigen Inspektors namens Carlander, der die Tage bis zu seiner Pensionierung zählt und sich auf den letzten Drücker noch mit zwei Massai herumschlagen muss. Carlander und die Afrikaner in Schweden? Wenn uns das mal nicht an Kurt Wallander und Die weiße Löwin erinnert? Schwedische Schriftsteller haben wohl gern ein Faible für Afrikaner, die in Nordeuropa aufschlagen. Das wussten wir ja bereits seit Henning Mankell und spätestens seit Jonas Jonassons zweiter Romangeschichte über Die Analphabetin, die rechnen konnte.
Gefährliches Spiel
Es ist schon ein großer Lesespaß, wenn Ole Mbatian der Jüngere über die Errungenschaften der schwedischen Zivilisation staunt. Etwa über den Komfort in Gefängnissen. Oder über Frühstücksgewohnheiten. Oder gar über Rolltreppen. Denn Rolltreppen gehen immer als Witz. Sogar in afrikanischen Massaidörfern am Ende der Welt.
Der Preis, den der Autor für seine Späße auf Kosten dunkelhäutiger naiver Hinterwäldler bezahlt, ist der Vorwurf des Rassismus. Es ist ein sehr schmaler Grat, auf dem Jonasson wandert, und manch anderer Rezensent des Titels lässt keinen Zweifel daran aufkommen: Seine Geschichte über die Massai stecke voll rassistischer Klischees. Selbst sprachlich sei der Text nicht akzeptabel. Formulierungen wie „Häuptling“, „Dorfmeister im Keulenwurf“ oder der Besitz von „zwei Frauen und drei Hütten“ könne man heutzutage keinem Schriftsteller mehr durchgehen lassen, nicht einmal als ironische Überzeichnung.
Meines Erachtens muss die Leserschaft selbst beurteilen, ob sie über die schrille Überspitzung des Culture Clash lachen kann. Oder ob sie dem Autor die Rote Karte zeigen will für eine Attitüde, die in der heutigen Zeit nichts mehr verloren hat.
Sehr langer Atem
Mich persönlich hat an der Geschichte etwas anderes viel mehr gestört. Sie läuft gegen Ende hin zäher aus als Kaugummi an der Schuhsohle. Schon die Polizeiermittlung zieht sich über fast hundert Buchseiten in substanzlose Länge. Und nachdem sich für unsere Protagonistencrew schließlich alles zum Guten gewendet hat, hätte der Autor seine Erzählung beenden können. Statt dessen aber lässt er die ganze Bande von Stockholm nach Kenia übersiedeln und die dörflich afrikanische Volkskultur revolutionieren. Diesen langatmigen Schritt über fünfzehn Druckseiten hinweg hätte er sich wirklich sparen können. Einschließlich der nicht mehr lustigen Rolltreppen im Massaidorf.
Erfolgsrezept
Trotz des Rassismusvorwurfs und meiner Mäkelei am mühseligen Ausklang der Romangeschichte darf man nicht übersehen, dass Jonasson ein weiteres Mal erfolgreich seinen besten Trumpf ausgespielt hat. In atemberaubendem Erzähltempo rauscht er mit seinen Romanfiguren durch die groteske Erzählung. Er hält seine Leser¦innen ständig im Atem. Immer wieder zaubert er dabei neues Personal aus dem Hut, wenn er es braucht, lässt aber Nebenpersonen genau so schnell wieder sang- und klanglos abtreten, wenn sie ihren Zweck erfüllt haben.
Charakter und Erlebnisse seiner Hauptfiguren schildert der Autor mit dem ihm eigenen Sprachwitz, dem man wie immer nur schwer widerstehen kann. Auch wenn sich dabei Tiefe der Charaktere nicht entwickeln kann. Doch eine solche Tiefe sucht man als Leser¦in Jonassons ohnehin nicht.
Darüber hinaus und bei aller Leichtigkeit der Geschichte bin ich durchaus der Meinung, dass es der Autor geschafft hat, die Themen Rechtspopulismus, Migranten- und Kunstfeindlichkeit aufs Korn zu nehmen. Diese Aspekte macht er bereits mit seinem halbseitigen Prolog deutlich und bekräftigt sie immer wieder durch Einschübe, die trotz allen Sprachwitzes unübersehbare Ernsthaftigkeit entfalten.
Irma Stern
In einem dieser ernsthaften Einschübe beschreibt Jonasson über vier Kapitel und zehn Seiten hinweg das Leben und den deutsch-jüdischen Hintergrund der südafrikanischen Künstlerin Irma Stern. (Siehe auch Link weiter oben in diesem Text.) Diese unerwartete Zäsur in der Romangeschichte beendet der Autor gar mit Hochglanzabbildungen dreier echter Sternscher Gemälde, die kommentarlos auf die Leserschaft wirken dürfen. Man merkt, die Kunst ist Jonas Jonasson ein persönliches Anliegen.
Natürlich kann es sich der Autor nicht verkneifen, die Lebensgeschichte Sterns mit der des Medizinmanns der Massai zu verknüpfen. So zeigt eines der beiden fiktiven Stern-Gemälde, die in der Romangeschichte auftauchen – Der Knabe am Bach – den jungen Ole Mbatian, den die Künstlerin auf einer ihrer afrikanischen Reisen portraitiert haben soll.
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Wem diese Buchbesprechung gefallen hat, wird vielleicht auch Interesse an meinen Rezensionen von Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand oder von Die Analphabetin, die rechnen konnte haben.
Fazit:
Wie alle Romane Jonas Jonassons bisher eroberte auch Der Massai, der in Schweden noch eine Rechnung offen hatte die internationalen Bestsellerlisten. Denn auch diesmal glänzt der Autor mit einer witzigen, absurden Geschichte. Der typische Schreibstil macht es schwer, das Buch nicht in einem Stück durchzulesen. Wer sich nicht am vielfach geäußerten Rassismus-Vorwurf stört, der den Text als gesellschaftlich inkorrekt qualifiziert, wird erneut seine helle Freude an dem Roman haben.
Mich persönlich stört der langatmige Ausklang der Geschichte. Deshalb halte ich den Massai für das bislang schwächste Werk des schwedischen Kultautors. Immerhin erhält der Roman aber noch immer gute drei der möglichen fünf Bewertungssterne.
Jonas Jonasson: Der Massai, der in Schweden noch eine Rechnung offen hatte
Bertelsmann Verlag, 2020
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