
Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand ist der Debutroman des schwedischen Schriftstellers Jonas Jonasson aus dem Jahr 2009. Das Buch wurde zu einem gewaltigen internationalen Erfolg und innerhalb von nur fünf Jahren weltweit über sechs Millionen Mal verkauft. Der Roman erzählt die Geschichte des hundertjährigen Allan Karlsson, der im Jahr 2005 an seinem runden Geburtstag aus dem Altersheim flieht und sich unter skurrilen Umständen mit einigen Zufallsbegleitern auf eine Reise bis nach Bali begibt. Während dieser Reise wird aus der Lebensgeschichte des Veteranen Allan berichtet, der ohne sein Zutun und meist gegen seinen Willen in die wichtigsten politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts verwickelt wurde. Der „Hundertjährige“ ist ein literarisches Road Movie der vergnüglichsten Art!
Nachdem sich mittlerweile, mehr als zehn Jahre nach diesem Romanerfolg, einige Nachfolgegeschichten Jonassons in meinem Stapel ungelesener Bücher angesammelt haben, habe ich das erste Buch des Autors zur Einstimmung auf einen Jonasson-Zyklus ein zweites Mal gelesen und diese Buchbesprechung hier veröffentlicht.
Über die Handlung
Erzählt wird also die Lebensgeschichte von Allan Karlsson, der am Tag seines hundertsten Geburtstags die Schnauze voll hat von seinem öden Lebensabend in einem Altersheim in der schwedischen Kleinstadt Malmström. Deshalb steigt Allan einem Impuls nachgebend aus dem Fenster seines Zimmers und macht sich auf den Weg. Wie alle Wege in seinem Leben war also auch dieser weder vorbereitet noch in irgendeiner Weise geplant. Autor Jonasson teilt seine Geschichte in zwei Reiseberichte, die er von Kapitel zu Kapitel abwechselnd erzählt.
1. Reisebericht: Ein neues Leben
Nach seiner Flucht aus dem Seniorenheim trifft Allan am Busbahnhof einen jungen Mann, der ihn bittet, kurz auf seinen Koffer aufzupassen. Doch Allans Bus fährt ab, noch bevor der junge Mann zurück ist. Also nimmt der Hundertjährige den Koffer einfach mit. Was er jedoch nicht ahnt: Der junge Mann ist Mitglied eines Verbrechersyndikats, im Koffer befindet sich eine riesige Menge Drogengeld.
Auf seinem Weg trifft Allan Karlsson zunächst den Gelegenheitsdieb Julius, später den frustrierten Imbissbudenbesitzer Benny und schließlich „die schöne Frau“ Gunilla sowie deren Haustier der gehobenen Gewichtsklasse, nämlich die Elefantendame Sonja. Dieses Quintett wird nicht nur vom Syndikat Never Again verfolgt sondern auch von der Polizei. Denn unglücklicherweise pflastern Leichen den Weg Allans und seiner Freunde.
Doch das Glück ist mit den Tüchtigen. Denn die Freunde sind ihren Verfolgern fast immer einen Schritt voraus. Und wenn das einmal nicht der Fall ist, übernimmt günstiges Schicksal das Steuerruder.
2. Reisebericht: Historische Begegnungen
Immer wenn es spannend wird auf Allans Flucht, enden die Kapitel. The cliff hangs, und der Autor schaltet dann um auf die Lebensgeschichte des Hundertjährigen. Auch die erzählt er häppchenweise in zehn eingestreuten Kapiteln: Als junger Mann verlor Allan seine Eltern und erlernte eher zufällig die Handhabung von Sprengstoff. Gerüstet mit seinen Fachkenntnissen macht er sich schließlich auf den Weg in sein Leben, in dessen Verlauf er – auch stets zufällig – die Bekanntschaft historischer Persönlichkeiten macht.
Für den spanischen Diktator Franco sprengt Allan Brücken, dem amerikanischen Präsidenten Truman ist er beim Bau der Atombombe behilflich und der Braut des Chinesen Mao Tse-Tung rettet er das Leben. Auch der britische Premier Churchill verdankt ihm sein Leben, als er ein Attentat auf diesen in Teheran verhindert. Der schwedische Ministerpräsident erkennt allerdings das Potenzial Allans nicht. Auch die nachfolgende Begegnung mit Stalin endet nicht vorteilhaft; denn Allan geht in ein Straflager in Sibirien. (Jedoch nicht, ohne zuvor seinem russischen Vertrauten Julij das Atombombenrezept ebenfalls anzuvertrauen.)
Die Flucht aus dem Lager in Wladiwostok gelingt, Allan lernt den nordkoreanischen Diktator Kim Il-Sung kennen und erhält von Mao „einen Riesenhaufen Dollahs“ zum Dank für die Rettung dessen Verlobten. Mit dem Geld setzt sich Allan nach Bali ab und macht erst einmal ausgiebig Urlaub. Anschließend wird er Dolmetscher an der indonesischen Botschaft in Paris, wo er zwischen de Gaulle und Lyndon B. Johnson vermittelt.
Für die US-Präsidenten Nixon und Reagan soll Allan schließlich die russischen Atomprogramme ausspionieren. Doch tatsächlich macht er gemeinsame Sache mit seinem alten Freund Julij; die beiden spielen Ost und West gegeneinander aus und verhindern so einen Atomkrieg. In den Achtzigern geht Allan Karlsson endlich in Rente und strandet schließlich in besagtem Altenheim in Malmström.
Erfolgsrezept
Jonas Jonassons Figur des Allan Karlsson ist ein bescheidener, höflicher und zurückhaltender Mensch. Er enthält sich eines jeden Urteils über seine Mitmenschen und folgt einem bedingungslosen Laissez-faire-Prinzip.
„Aber in das Tun und Lassen anderer Menschen hatte er sich noch nie eingemischt, nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, was ja meistens der Fall war.“
(Seite 9)
Allan mischt sich nie ein. Aber er mischt immer und überall kräftig mit, sowohl in seinem alten Leben vor dem Jahrtausendwechsel, als auch in seinem neuen als hundertjähriger Aussteiger. Der Mann ist einfach immer zur rechten Zeit am rechten Ort. So steuert er nicht nur sein eigenes Geschick sondern auch das der gesamten Menschheit.
Der Autor kleidet die unglaubliche Biografie in einen lockeren Plauderton, der niemals aus seinem behäbigen Rhythmus gerät. Auch dann nicht, wenn Städte niederbrennen oder Menschen sterben. Dazu gesellt sich eine gut gelungene Portion Situationskomik. Und natürlich geschieht stets das Unwahrscheinlichste, auf das die Leserschaft sehenden Auges mit einer Unausweichlichkeit zusteuert, die jedes Mal erschütternd ist.
„»Das gibt’s doch nicht!«, rief Allan.
»Das gibt’s doch nicht!«, rief Julius.
»Lasst mich raus!«, tönte es aus dem Kühlraum.“
(Seite 31)
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Fazit:
Mit Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand ist Jonas Jonasson ein Schelmenroman der Extraklasse gelungen. Sein unaufgeregter Held Allan Karlsson nimmt das Leben wie es kommt, schluckt Unausweichliches ohne zu murren und ergreift mit sicherem Instinkt alle Gelegenheiten, die sich ergeben. Dabei hat dieser Allan auch noch jede Menge Spaß und wird steinalt. Ein derart gelungenes Leben ist natürlich genau so unwahrscheinlich wie all die erfundenen Begegnungen mit historischen Persönlichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts. – „Das gibt’s doch nicht!“
Doch genau diese gehäufte Unwahrscheinlichkeiten machen den Reiz der Geschichte aus. Ja, es wäre nur zu schön, wenn auch uns das Leben so heiter, ereignisreich und glücklich gelänge wie Allan. Und so folgen wir der Erzählung mit einem fröhlichen Grinsen im Gesicht bis zum allerletzten Satz auf Seite 413, der – wie könnte es anders sein – gar keinen Schlusspunkt setzt sondern vielmehr ein weiteres Fenster in die Zukunft öffnet.
Für seine so ausgezeichnet gelungene Komposition aus gnädig geschönter Geschichtsschreibung und gnadenlos optimistischer Grundeinstellung vergebe ich dem Hundertjährigen liebend gerne vier von fünf möglichen Sternen.
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand
carl’s books, 2009
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