Die Analphabetin, die rechnen konnte

Jonas Jonasson; Die Analphabetin, die rechnen konnte; 2013
Jonas Jonasson, 2013

Nur ein Jahr nach­dem sein Über­ra­schungs­er­folg Der Hun­dert­jäh­ri­ge, der aus dem Fens­ter stieg und ver­schwand auf ers­ten Plät­zen der Best­sel­ler­lis­ten stand, schob Jo­nas Jo­nas­son einen zwei­ten Ro­man nach. Die Analphabetin, die rechnen konnte lan­de­te eben­falls so­fort auf den top Ver­kaufs­rän­gen des Buch­han­dels. Kein Wun­der, denn der schwe­di­sche Autor ver­ließ sich auch beim zwei­ten An­lauf auf das Er­folgs­re­zept, das sei­nen ers­ten Ro­man so er­folg­reich ge­macht hat­te. Auf eine Pro­ta­go­nis­tin näm­lich, die wie­der be­schei­den und höf­lich auf­tritt, aber ge­nau weiß, was sie will. Auf sein Ge­spür für Si­tua­tions­ko­mik. Und auf den Zau­ber des Un­wahr­schein­li­chen, des ge­ra­de­zu Ab­sur­den, das die Le­ser­schaft auf Trab hält.

Nach Allan Karls­son aus dem Hun­dert­jäh­ri­gen ist nun al­so eine Frau die Hel­din des zwei­ten Jo­nas­son-Ro­mans, Nom­be­ko Ma­ye­ki. Nom­be­ko wächst wäh­rend der Sieb­zi­ger­jah­re in So­we­to auf, einer Slum­sied­lung am Ran­de des süd­af­ri­ka­ni­schen Jo­han­nes­burg. Dank ih­rer phä­no­me­na­len Re­chen­be­ga­bung steigt das Mäd­chen von der La­tri­nen­ton­nen­trä­ge­rin in der Slum­hie­rar­chie auf und lan­det durch Zu­fall als Putz­frau bei einem al­ko­hol­kran­ken Wei­ßen, der das Atom­pro­gramm Süd­afri­kas lei­tet. Die­ser Mann ist nicht nur stän­dig be­trun­ken. Er hat auch kei­ne Ah­nung da­von, wie er sei­nem Staat eine Atom­bom­be ver­schaf­fen soll. Aber die­se Auf­ga­be über­nimmt ja nun glück­li­cher­wei­se Nom­be­ko für ihn. Er­folg­reich.

Die Analphabetin, die rechnen konnte – Zum Inhalt

Kann es sein, dass Nord­euro­päer eine womög­lich gene­tisch geprägte Vor­liebe für Atom­bom­ben haben? Vor einem Vier­tel­jahr­hun­dert erzählte uns der Finne Arto Paasi­linna höchst ver­gnüg­lich vom Atom­krieg, der die Welt der­einst im Jahre 2023 auf den Kopf stel­len sollte. Und vor Nom­beko war auch der Hun­dert­jäh­rige bei Jonas­son bereits damit beschäf­tigt, sowohl den Ame­rika­nern als auch den Rus­sen Atom­bom­ben zu ver­schaf­fen.

Nun sorgt also eine junge Per­son of Color dafür, dass auch Süd­afri­ka in den Besitz von sie­ben Nuklear­waf­fen kommt. Doch kaum ist das Arse­nal auf­ge­baut, beschließt Prä­si­dent Botha aus poli­ti­schen Grün­den, die Bom­ben wie­der zu ver­nich­ten. Zumin­dest sechs die­ser Bom­ben, denn die siebte gibt es eigent­lich gar nicht. Wir ahnen es längst, diese sie­ben­te Atom­bombe wird zum dra­mati­schen Zen­trum der Roman­ge­schich­te, die in den Acht­zi­ger-, Neun­zi­ger- und Nul­ler­jah­ren han­delt.

Wer ist Holger Qvist?

Nun ist es an der Zeit, den zwei­ten Pro­tago­nis­ten der Hand­lung vor­zustel­len. Im Wech­sel mit Nom­be­kos Ge­schich­te erzählt uns Jonas­son von einem Schwe­den im glei­chen Alter. Der junge Mann heißt Hol­ger, und sein Pro­blem besteht darin, dass es ihn offi­ziell gar nicht gibt. Seine Mut­ter hatte einst Zwil­linge gebo­ren. Und sein Vater hatte beschlos­sen, nur einen der bei­den Jungs bei den Behör­den zu mel­den.

Auf Seite 169 des Buches, bei­nahe schon in der Mitte, tref­fen nun eben die­ser nicht exis­tie­rende Hol­ger, eine eben­falls nicht exis­tie­rende Atom­bombe und eine süd­afri­kani­sche Asy­lan­tin namens Nom­beko in einem Vor­ort von Stock­holm auf­ein­ander. (Ja, die ganze Ge­schich­te ist genau so bizarr, wie sich die­ser Satz anhört.)

In der zwei­ten Roman­hälfte, die sich über gut zwei Jahr­zehn­te erstreckt,  ver­su­chen Hol­ger und Nom­beko, die sich irgend­wann als Lie­bes­paar fin­den, die gehei­me Atom­bombe auf poli­tisch kor­rekte Weise los­zuwer­den. Dabei wer­den sie immer wie­der behin­dert von Hol­gers anti­monar­chis­ti­schem Zwil­lings­bru­der „Hol­ger 1“, a.k.a. „der Idiot“, und des­sen revo­lutio­nä­rer Freun­din Celes­tine, der „jun­gen Zor­ni­gen“. Diese bei­den über­neh­men die Rolle uner­war­te­ter Schick­sals­schläge, die alle Ansätze Hol­gers und Nom­be­kos erfolg­reich sabo­tie­ren.

Außerdem mischen tat­kräf­tig mit: Ger­trud, „die Grä­fin“, pseu­do­ade­lige Groß­mut­ter von Celes­tine; der schwe­di­sche Minis­ter­präsi­dent Fre­drik Rein­feldt; der schwe­di­sche König Carl XVI. Gus­taf; der chi­nesi­sche Staats­prä­si­dent Hu Jin­tao; zwei voll­kom­men über­for­derte Mit­arbei­ter des israe­li­schen Geheim­diens­tes Mos­sad; sowie drei namen­lose aber erfin­dungs­reiche chi­nesi­sche Schwes­tern.

Die Analphabetin, die rechnen konnte – Das Erfolgsrezept

Man erkennt es schon an der wahn­witzi­gen Per­sonal­liste aus den voran­gegan­ge­nen Absät­zen: Der Autor hat sich da wie­der eine Ge­schich­te zusam­men­ge­reimt, die so unwahr­schein­lich ist wie Fla­min­gos am Polar­kreis, so haar­sträu­bend wie Drei Wet­ter Taft bei Wind­stärke 10 und doch genauso unter­halt­sam wie der Vor­gän­ger mit dem Hun­dert­jähri­gen.

Jonas­sons Rezept ist ein zwei­tes Mal auf­gegan­gen. Eigent­lich rech­net die Leser­schaft schon vor jeder Sze­nen mit genau den Ereig­nis­sen, die dann tat­säch­lich ein­tref­fen. Das müsste doch eigent­lich auf Dauer lang­wei­lig wer­den, möchte man mei­nen. Doch Lan­ge­weile stellt sich trotz allem nicht ein. Hat man das Buch ein­mal zur Hand genom­men, ist es sehr schwer, es wie­der bei­seite zu legen.

„Er erzählte von Schwe­den, von schwe­di­schen Erfin­dun­gen, dem Nobel­preis, Björn Borg …
Nom­beko hatte viele Fra­gen. Hatte Björn Borg wirk­lich fünf­mal hin­ter­einan­der Wim­ble­don gewon­nen? Fan­tas­tisch! Was war denn die­ses Wim­ble­don?“
(Seite 176)

Erneut schafft es der Autor, uns mit sei­nem locke­ren Plau­der­ton, den ein­gestreu­ten Anek­do­ten, sei­nen skur­ri­len Pro­fi­len und der Unaus­weich­lich­keit sei­ner erzäh­leri­schen Logik bei bes­ter Lese­laune zu hal­ten. Man kann ihm noch nicht ein­mal vor­wer­fen, den Bogen über­spannt zu haben und im Fahr­was­ser sei­nes Erfolgs-Erst­lings noch ein­mal absah­nen zu wol­len. Denn tat­säch­lich sind beide Romane struk­tu­rell sehr unter­schied­lich, abge­se­hen von dem ver­bin­den­den Ele­ment der uner­schüt­ter­li­chen und vom ge­schicht­li­chen Zufall begüns­tig­ten Pro­tago­nis­ten, die dank ihrer Promi­bekannt­schaf­ten den ver­dien­ten Erfolg haben.

Unterschiede

Beim Hundertjährigen mäan­derte Allan Karls­son noch durch die gesamte Welt­ge­schich­te der ers­ten Hälfte des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts. Bei der Anal­pha­betin kon­zen­triert sich Johanns­son auf die Ge­schich­te Süd­afri­kas und Schwe­dens. Das macht es den Lese­r¦in­nen ein wenig schwe­rer, den his­tori­schen Ereig­nis­sen zu fol­gen; es sei denn, man wäre aus­gerech­net mit der Ge­schich­te bei­der Län­der ver­traut. Doch glück­licher­weise stra­pa­ziert der Autor seine Leser­schaft nicht über­mä­ßig mit Details. Mich hat höchs­tens an der einen oder ande­ren Stelle der schwe­di­sche Ge­schichts­unter­richt ein­mal an die Grenze mei­ner Auf­nahme­fähig­keit gebracht.

Ach, und noch ein Unter­schied: Der Hun­dert­jäh­rige erzählt die Ge­schich­te einer Haupt­per­son über viele Jahr­zehnte hin­weg ver­teilt. In der Anal­pha­be­tin wer­den chro­nolo­gisch linear die Ge­schich­ten zweier Per­so­nen erzählt, die zur Buch­mitte hin ver­schmel­zen.

Gesellschaftskritisches

Wenn wir schon beim Ver­gleich der bei­den Jonas­son-Romane sind: Im Hun­dert­jähri­gen macht sich der Autor über die Ein­fäl­tig­keit ein­zel­ner bekann­ter Per­sön­lich­kei­ten der jün­ge­ren Welt­ge­schich­te lus­tig und ver­spot­tet damit, wenn man so will, die Dumm­heit der gesam­ten Mensch­heit.

In der Analpha­betin hin­ge­gen nimmt er ein­zelne gesell­schaft­li­che Grup­pen aufs Korn. Ganz schlecht weg kom­men dies­mal sehr bestimmte poli­ti­sche Phä­no­mene. Etwa der süd­afri­kani­sche und der schwe­di­sche Natio­nalis­mus, aber auch die insti­tutio­nali­sier­ten Rebel­len­bewe­gun­gen der Acht­und­sech­zi­ger und ihre Nach­fol­ger bekom­men ihr Fett weg. Und auf einem Neben­kriegs­schau­platz zieht Jonas­son auch über die Aus­wüchse des gewerbs­mäßi­gen Kunst­han­dels her.

Am Rande bemerkt: Wuss­tet Ihr, dass keine andere als die Roman­hel­din Nem­beko für die Über­nahme des schwe­di­schen Auto­mobil­kon­zerns Volvo durch chi­nesi­sche Inves­to­ren im Jahre 2010 ver­ant­wort­lich war?

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Hat Dich diese Buch­be­spre­chung neu­gie­rig ge­macht? Dann wer­den Dich viel­leicht auch mei­ne Re­zen­sio­nen zu Der Hun­dert­jäh­ri­ge, der aus dem Fens­ter stieg und ver­schwand oder Der Mas­sai, der in Schwe­den noch eine Rech­nung of­fen hat­te in­te­res­sie­ren.

Fazit:

Mit Die Analphabetin, die rechnen konnte hat Jonas Jonas­son einen wür­di­gen Nach­fol­ger für Der Hun­dert­jäh­ri­ge, der aus dem Fens­ter stieg und ver­schwand abge­lie­fert. Sein zwei­ter Roman basiert auf dem glei­chen Erfolgs­re­zept, ohne jedoch ein lang­wei­li­ger Ab­klatsch des Erst­lings zu sein. Auch dies­mal besticht die über­schäu­mende Erzähl­laune des Autors.

Wer sollte die­sen Roman lesen? – Alle Lese­r¦in­nen, die Spaß haben an span­nen­der Unter­hal­tung, die nicht im fan­tas­ti­schen Raum schwebt son­dern in Bezug steht zu rea­len his­tori­schen Ereig­nis­sen. Auch wenn – oder gerade weil – die Roman­ge­schich­te ganz offen­sicht­lich fik­tiv ist.

Die Analpha­be­tin ist gewiss ein Roman, den ich immer wie­der ein­mal aus dem Bücher­re­gal zie­hen werde, weil er ein­fach ein paar rich­tig gute Schen­kel­klop­fer auf­wei­sen kann, auf die man sich schon freut. Und weil man das Buch nur ungern aus der Hand legt, wenn man ein­mal mit der Lek­türe begon­nen hat. Des­halb gibt es vier von fünf mög­li­chen Ster­nen.

Jonas Jonasson: Die Analphabetin, die rechnen konnte
carl’s books, 2013

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