Nur ein Jahr nachdem sein Überraschungserfolg Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand auf ersten Plätzen der Bestsellerlisten stand, schob Jonas Jonasson einen zweiten Roman nach. Die Analphabetin, die rechnen konnte landete ebenfalls sofort auf den top Verkaufsrängen des Buchhandels. Kein Wunder, denn der schwedische Autor verließ sich auch beim zweiten Anlauf auf das Erfolgsrezept, das seinen ersten Roman so erfolgreich gemacht hatte. Auf eine Protagonistin nämlich, die wieder bescheiden und höflich auftritt, aber genau weiß, was sie will. Auf sein Gespür für Situationskomik. Und auf den Zauber des Unwahrscheinlichen, des geradezu Absurden, das die Leserschaft auf Trab hält.
Nach Allan Karlsson aus dem Hundertjährigen ist nun also eine Frau die Heldin des zweiten Jonasson-Romans, Nombeko Mayeki. Nombeko wächst während der Siebzigerjahre in Soweto auf, einer Slumsiedlung am Rande des südafrikanischen Johannesburg. Dank ihrer phänomenalen Rechenbegabung steigt das Mädchen von der Latrinentonnenträgerin in der Slumhierarchie auf und landet durch Zufall als Putzfrau bei einem alkoholkranken Weißen, der das Atomprogramm Südafrikas leitet. Dieser Mann ist nicht nur ständig betrunken. Er hat auch keine Ahnung davon, wie er seinem Staat eine Atombombe verschaffen soll. Aber diese Aufgabe übernimmt ja nun glücklicherweise Nombeko für ihn. Erfolgreich.
Zum Inhalt
Kann es sein, dass Nordeuropäer eine womöglich genetisch geprägte Vorliebe für Atombomben haben? Vor einem Vierteljahrhundert erzählte uns der Finne Arto Paasilinna höchst vergnüglich vom Atomkrieg, der die Welt dereinst im Jahre 2023 auf den Kopf stellen sollte. Und vor Nombeko war auch der Hundertjährige bei Jonasson bereits damit beschäftigt, sowohl den Amerikanern als auch den Russen Atombomben zu verschaffen.
Nun sorgt also eine junge Person of Color dafür, dass auch Südafrika in den Besitz von sieben Nuklearwaffen kommt. Doch kaum ist das Arsenal aufgebaut, beschließt Präsident Botha aus politischen Gründen, die Bomben wieder zu vernichten. Zumindest sechs dieser Bomben, denn die siebte gibt es eigentlich gar nicht. Wir ahnen es längst, diese siebente Atombombe wird zum dramatischen Zentrum der Romangeschichte, die in den Achtziger-, Neunziger- und Nullerjahren handelt.
Wer ist Holger Qvist?
Nun ist es an der Zeit, den zweiten Protagonisten der Handlung vorzustellen. Im Wechsel mit Nombekos Geschichte erzählt uns Jonasson von einem Schweden im gleichen Alter. Der junge Mann heißt Holger, und sein Problem besteht darin, dass es ihn offiziell gar nicht gibt. Seine Mutter hatte einst Zwillinge geboren. Und sein Vater hatte beschlossen, nur einen der beiden Jungs bei den Behörden zu melden.
Auf Seite 169 des Buches, beinahe schon in der Mitte, treffen nun eben dieser nicht existierende Holger, eine ebenfalls nicht existierende Atombombe und eine südafrikanische Asylantin namens Nombeko in einem Vorort von Stockholm aufeinander. (Ja, die ganze Geschichte ist genau so bizarr, wie sich dieser Satz anhört.)
In der zweiten Romanhälfte, die sich über gut zwei Jahrzehnte erstreckt, versuchen Holger und Nombeko, die sich irgendwann als Liebespaar finden, die geheime Atombombe auf politisch korrekte Weise loszuwerden. Dabei werden sie immer wieder behindert von Holgers antimonarchistischem Zwillingsbruder „Holger 1“, a.k.a. „der Idiot“, und dessen revolutionärer Freundin Celestine, der „jungen Zornigen“. Diese beiden übernehmen die Rolle unerwarteter Schicksalsschläge, die alle Ansätze Holgers und Nombekos erfolgreich sabotieren.
Außerdem mischen tatkräftig mit: Gertrud, „die Gräfin“, pseudoadelige Großmutter von Celestine; der schwedische Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt; der schwedische König Carl XVI. Gustaf; der chinesische Staatspräsident Hu Jintao; zwei vollkommen überforderte Mitarbeiter des israelischen Geheimdienstes Mossad; sowie drei namenlose aber erfindungsreiche chinesische Schwestern.
Das Erfolgsrezept
Man erkennt es schon an der wahnwitzigen Personalliste aus den vorangegangenen Absätzen: Der Autor hat sich da wieder eine Geschichte zusammengereimt, die so unwahrscheinlich ist wie Flamingos am Polarkreis, so haarsträubend wie Drei Wetter Taft bei Windstärke 10 und doch genauso unterhaltsam wie der Vorgänger mit dem Hundertjährigen.
Jonassons Rezept ist ein zweites Mal aufgegangen. Eigentlich rechnet die Leserschaft schon vor jeder Szenen mit genau den Ereignissen, die dann tatsächlich eintreffen. Das müsste doch eigentlich auf Dauer langweilig werden, möchte man meinen. Doch Langeweile stellt sich trotz allem nicht ein. Hat man das Buch einmal zur Hand genommen, ist es sehr schwer, es wieder beiseite zu legen.
„Er erzählte von Schweden, von schwedischen Erfindungen, dem Nobelpreis, Björn Borg …
Nombeko hatte viele Fragen. Hatte Björn Borg wirklich fünfmal hintereinander Wimbledon gewonnen? Fantastisch! Was war denn dieses Wimbledon?“
(Seite 176)
Erneut schafft es der Autor, uns mit seinem lockeren Plauderton, den eingestreuten Anekdoten, seinen skurrilen Profilen und der Unausweichlichkeit seiner erzählerischen Logik bei bester Leselaune zu halten. Man kann ihm noch nicht einmal vorwerfen, den Bogen überspannt zu haben und im Fahrwasser seines Erfolgs-Erstlings noch einmal absahnen zu wollen. Denn tatsächlich sind beide Romane strukturell sehr unterschiedlich, abgesehen von dem verbindenden Element der unerschütterlichen und vom geschichtlichen Zufall begünstigten Protagonisten, die dank ihrer Promibekanntschaften den verdienten Erfolg haben.
Unterschiede
Beim Hundertjährigen mäanderte Allan Karlsson noch durch die gesamte Weltgeschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Bei der Analphabetin konzentriert sich Johannsson auf die Geschichte Südafrikas und Schwedens. Das macht es den Leser¦innen ein wenig schwerer, den historischen Ereignissen zu folgen; es sei denn, man wäre ausgerechnet mit der Geschichte beider Länder vertraut. Doch glücklicherweise strapaziert der Autor seine Leserschaft nicht übermäßig mit Details. Mich hat höchstens an der einen oder anderen Stelle der schwedische Geschichtsunterricht einmal an die Grenze meiner Aufnahmefähigkeit gebracht.
Ach, und noch ein Unterschied: Der Hundertjährige erzählt die Geschichte einer Hauptperson über viele Jahrzehnte hinweg verteilt. In der Analphabetin werden chronologisch linear die Geschichten zweier Personen erzählt, die zur Buchmitte hin verschmelzen.
Gesellschaftskritisches
Wenn wir schon beim Vergleich der beiden Jonasson-Romane sind: Im Hundertjährigen macht sich der Autor über die Einfältigkeit einzelner bekannter Persönlichkeiten der jüngeren Weltgeschichte lustig und verspottet damit, wenn man so will, die Dummheit der gesamten Menschheit.
In der Analphabetin hingegen nimmt er einzelne gesellschaftliche Gruppen aufs Korn. Ganz schlecht weg kommen diesmal sehr bestimmte politische Phänomene. Etwa der südafrikanische und der schwedische Nationalismus, aber auch die institutionalisierten Rebellenbewegungen der Achtundsechziger und ihre Nachfolger bekommen ihr Fett weg. Und auf einem Nebenkriegsschauplatz zieht Jonasson auch über die Auswüchse des gewerbsmäßigen Kunsthandels her.
Am Rande bemerkt: Wusstet Ihr, dass keine andere als die Romanheldin Nembeko für die Übernahme des schwedischen Automobilkonzerns Volvo durch chinesische Investoren im Jahre 2010 verantwortlich war?
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Hat Dich diese Buchbesprechung neugierig gemacht? Dann werden Dich vielleicht auch meine Rezensionen zu Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand oder Der Massai, der in Schweden noch eine Rechnung offen hatte interessieren.
Fazit:
Mit Die Analphabetin, die rechnen konnte hat Jonas Jonasson einen würdigen Nachfolger für Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand abgeliefert. Sein zweiter Roman basiert auf dem gleichen Erfolgsrezept, ohne jedoch ein langweiliger Abklatsch des Erstlings zu sein. Auch diesmal besticht die überschäumende Erzähllaune des Autors.
Wer sollte diesen Roman lesen? – Alle Leser¦innen, die Spaß haben an spannender Unterhaltung, die nicht im fantastischen Raum schwebt sondern in Bezug steht zu realen historischen Ereignissen. Auch wenn – oder gerade weil – die Romangeschichte ganz offensichtlich fiktiv ist.
Die Analphabetin ist gewiss ein Roman, den ich immer wieder einmal aus dem Bücherregal ziehen werde, weil er einfach ein paar richtig gute Schenkelklopfer aufweisen kann, auf die man sich schon freut. Und weil man das Buch nur ungern aus der Hand legt, wenn man einmal mit der Lektüre begonnen hat. Deshalb gibt es vier von fünf möglichen Sternen.
Jonas Jonasson: Die Analphabetin, die rechnen konnte
carl’s books, 2013
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