Das wilde Kind

T. C. Boyle, Das wilde Kind, 2010
T. C. Boyle, 2010

Meyers Großes Taschenlexikon von 1983 bezeichnet Kinder, die in jungen Jahren eine Zeit lang isoliert von anderen Menschen aufwuchsen, als Wolfskinder. Der US-amerikanische Schriftsteller T. C. Boyle hat zwischen seinen Romanen Die Frauen und Wenn das Schlachten vorbei ist eine nur hundert Textseiten lange Novelle mit dem Titel Das wilde Kind veröffentlicht. Es handelt sich um eine biografische Erzählung über Victor von Aveyron, der Ende des 18. Jahrhunderts in Südfrankreich beobachtet und schließlich „eingefangen“ werden konnte.

In seiner Version der Geschichte bleibt Boyle ziemlich eng an der Überlieferung, wie man sie auf der Wikipediaseite über den Link oben nachlesen kann. Doch wie zu erwarten, macht er aus der eher dürren Faktenlage eine abwechslungsreiche Erzählung, indem er Ausgedachtes hinzufügt; stets nach dem Grundrezept vieler seiner biografischen Romane: Ob es sich tatsächlich so zugetragen hat, wissen wir nicht. Aber es hätte zumindest genau so sein können.

Das wilde Kind – Inhalt im Schnelldurchlauf

Boyle verlegt die erste Begegnung des wilden Kindes mit Menschen im französischen Languedoc um dreißig Kilometer nach Süden, in die Nähe des Dorfes Lacaune, und die Jahreszeit aus dem Frühling in den Herbst 1797. Außerdem schiebt er eine Vorgeschichte nach. Bei ihm wurde der wilde Junge im Alter von fünf Jahren von seiner Stiefmutter in den Wald nahe der Ortschaft La Bassine geführt, wo er mit einem Kehlschnitt getötet werden sollte, um wenigsten einen von dreizehn Essern aus der Familie loszuwerden. Eine Art Hän­sel-und-Gre­tel-Ge­schich­te also; man tötete damals unerwünschte Kinder, so wie man junge Kätzchen ersäufte, wenn es zu viele wurden. Doch der Junge überlebte und wurde drei, vier Jahre später vollkommen verwildert aufgegriffen.

In der Zivilisation

Nachdem dem Wilden ein paar Male die Flucht gelungen war, wurde er im Januar 1800 ergriffen und ins nächste Waisenhaus nach Saint-Affrique verbracht. Zunächst wurde er von einem Professor für Naturgeschichte, dem Abt Bonnaterre, untersucht und danach dem Abt Roch-Ambroise Sicard am Taubstummeninstitut in Paris übergeben. Immer wieder streut Boyle Beobachtungen aus Sicht des wilden Kindes ein:

„Seine Nahrung verdankte er jetzt […] diesen Tieren, die ihn gefangen hatten, seltsamen Tieren mit groben Gesichtern und Schnauzen, mit eigenartigem weißen Fell auf dem Kopf und einer haarlosen zweiten Haut an den Beinen.“
(Seite 39)

Am Taubstummeninstitut verbringt der wilde Junge in der Obhut des jungen Arztes Jean-Marc Gaspard Itard sein nächstes Lebensjahrzehnt. Itard versucht, dem Wilden, dem er den Namen Victor gegeben hatte, menschliches Verhalten nahezubringen: Grundlegende Dinge wie angepasstes Verhalten in menschlicher Gesellschaft, aber auch Sprache und Schrift. Unterstützt wird der Arzt von Madame Guérin, der Frau des Hausmeisters.

Im Großen und Ganzen scheitert Itard mit seinen Erziehungsversuchen. Schließlich wird Victor, inzwischen in seinen Zwanzigern, in die Obhut der Guérins übergeben. Dort versickert das Leben des „Wilden“, wie sie ihn nun wieder nennen. Mit der Zivilisation kann er nichts anfangen. Er stirbt im Alter von vierzig Jahren.

Das wilde Kind – Einordnung

Es muss wohl schon damals, in der Realität zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, um die Fragestellung gegangen sein, wie die Geistesschwäche des Wolfskindes Victor einzuordnen sei. Litt der Junge an einer angeborenen Behinderung? Diese Ansicht vertritt ein Gutachten des damaligen Chefarztes der berüchtigten psychiatrischen Anstalt Hôpital de la Salpêtrière. Jean Itard hingegen war überzeugt davon, dass Victors „Idiotie“ kulturelle Ursachen habe.

Genau diese Diskussion dürfte der Grund gewesen sein, warum sich T. C. Boyle in seiner Novelle ausgerechnet dieses Falles angenommen hat. Sein Interesse an der Fragestellung ist so groß, dass er ein Jahrzehnt später eine ähnlich gelagerte Problematik aufgriff: In Boyles großartigem Roman Sprich mit mir geht es um den Unterschied zwischen Mensch und Tier, um die Sozialisierbarkeit eines Menschenaffen. Bemerkenswert ist, wie der Autor die Ansätze zur Selbstreflexion des wilden Kindes später auf den Schimpansen Sam überträgt.

Ein Kaspar-Hauser-Roman?

Auf der Umschlagrückseite der Taschbuchausgabe, die ich gelesen habe, wird die Novelle als „ein Kaspar-Hauser-Roman“ angepriesen. Dieser Kaspar Hauser wurde im Mai 1828 im Alter von etwa sechzehn Jahren in Nürnberg als rätselhafter Findling aufgelesen. Nach eigenen Aussagen sei er „solange er denken könne, bei Wasser und Brot immer ganz allein in einem dunklen Raum gefangen gehalten worden“. Diese Geschichte wird heute nach Genanalysen in Zweifel gezogen. Doch woher auch immer Hauser gekommen sein mochte, ein Wolfskind war er sicher nicht.

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Wer diese Rezen­sion gern gele­sen hat, inte­res­siert sich even­tuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind.
Wer hingegen noch mehr über Das wilde Kind erfahren möchte, könnte auch beim Nachbarn Michael aus der Schweiz weiterlesen.

Fazit:

Als eigenständige Erzählung hat mich Boyles Das wilde Kind nur bis zu einem gewissen Grad fesseln können. Manche der Textpassagen empfand ich als etwas ermüdend. Aber als Vorläufer von Sprich mit mir – also wenn man beide Geschichten vergleichend nebeneinander legt – bekommt die teils fiktive Auslegung der historischen Begebenheiten um das Jahr 1800 eine zusätzliche Bedeutungsebene. Als Hintergrundmaterial für Boyles Geschichte über den Schimpansen Sam stellt die Wolfskinderzählung mehr als eine bloße Schreibübung dar zur Fragestellung „Was überwiegt? Genetische oder kulturelle Prägung des Menschen?“

Dank dieser Einordnung bekommt Das wilde Kind sehr gute drei von fünf möglichen Sternen zugesprochen. Auch wenn er die nächste Stufe zu den vier Sternen nicht erklimmen kann.

T. C. Boyle: Das wilde Kind
Carl Hanser Verlag, 2010

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