Auf der Suche nach Lesestoff?❤Hier findest Du Buchbesprechungen mit Anspruch aber ohne Allüren. Ich schreibe meist über belletristische Titel; über solche, die mir gefallen oder auch mal nicht gefallen haben; manchmal Mainstream, manchmal abseits der ausgetretenen Pfade. (Persönliche Empfehlungen und ein paar Worte zu diesem Projekt gibt’s ganz unten auf dieser Seite.)
Der Schriftstellerin Annie Ernaux (82) wurde heute Mittag kurz nach 13 Uhr der Nobelpreis für Literatur des Jahres 2022 verliehen. Das Nobelkomitee der Schwedischen Akademie, das dieses Jahr aus sechs Mitgliedern bestand – einem Professor für Literaturgeschichte, vier Schriftsteller¦innen und einem kooptierten Literaturhistoriker, begründete die Wahl von Ernaux zum 119. Preisträger mit folgender Würdigung: „Für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Zwänge der persönlichen Erinnerung aufdeckt.“
Die Reise nach Rom ist der letzte Titel des einst wichtigsten italienischen Romanciers der Nachkriegszeit, Alberto Moravia. Er wurde zwei Jahre vor dem Tod des Autors veröffentlicht. Die Geschichte handelt von von einem Witwer und einer Witwe, die jeweils von ihren verstorbenen Ehepartnern betrogen und gedemütigt worden waren. Beide Überlebende – Witwer wie Witwe – versuchen, sich des jungen Mario als Werkzeug zu bedienen, um ihre Ehetraumata zu überwinden. Doch Mario ist selbst Opfer eines inzestuösen Sexualtraumas, das er zu bewältigen versucht. Noch einmal breitet Moravia sein Vorzugsthema Sexus vor seiner Leserschaft aus und hält der prüden und selbstbezogenen Gesellschaft einen Spiegel vor.
Der in Rom geborene Mario de Sio ist zwanzig Jahre alt. Im Alter von fünf hatte seine Mutter Leopoldina mit ihm, dem Jungen, das Haus des Vaters Riccardo nach einem heftigen Streit verlassen. Mutter und Sohn zogen nach Paris zu Dinas Bruder. Doch nur zwei Jahre später stirbt die Mutter an einer Bauchfellentzündung, Mario wächst mit den Kindern seines Onkels auf. Zu seinem Vater hat der Junge fünfzehn Jahre lang keinen Kontakt gehabt, als er mit zwanzig aus einer Laune heraus beschließt, Riccardo de Sio in Rom aufzusuchen.
Nur vier Jahre nach seinem dicken Brocken Desideria veröffentlichte Alberto Moravia eine sehr persönliche Geschichte unter dem Titel 1934 oder Die Melancholie. Seine vorhergehenden Romane handelten in den Jahren der sexuellen Revolution oder danach. Bereits der Titel dieses Textes macht jedoch deutlich, dass der Autor diesmal weiter zurück in die Vergangenheit geht. Nämlich in die Jahre der Hoch-Zeiten des europäischen Faschismus in Spanien, Italien und Deutschland. Franco, Mussolini und Hitler haben ihre Macht gefestigt und kooperieren bereits. Um der Verzweiflung dieser Zeit zu entfliehen, begibt sich der junge italienische Schriftsteller Lucio nach Capri. Bei diesem Aufenthalt macht er die Bekanntschaft der deutschen Theaterschauspielerin Beate Müller, die mit ihrem Mann Alois, einem NSDAP-Funktionär, dort Urlaub macht. Eine höchst bizarre Beziehung nimmt ihren Lauf.
Bereits auf der Fähre von Neapel nach Capri werfen sich Lucio und Beate – ohne zuvor überhaupt Bekanntschaft zu schließen – aus der Ferne sehnsüchtige Blicke zu. Im bloßen Blickkontakt mit der jungen Frau glaubt der junge Römer, eine Leidensgenossin ausgemacht zu haben. Sie scheint ebenso verzweifelt zu sein wie er selbst. Also mietet er sich in der gleichen Pension im Inselort Anacapri ein wie das deutsche Ehepaar. Lucio hofft, dadurch eine Möglichkeit zur näheren Kontaktaufnahme mit dem unbekannten Objekt seiner platonischen Begierde machen zu können.
Der Roman ist inzwischen vierzig Jahre alt, die Handlung spielt vor beinahe neunzig Jahren. Doch nach den Ergebnissen der Parlamentswahlen in Italien am vergangenen Wochenende Ende September 2022, gewinnt die Geschichte unerfreuliche Aktualität.