Mehr als dreiunddreißig Millionen Bücher konnte der amerikanische Thrillerautor David Baldacci innerhalb von nur acht Jahren in über achtzig Ländern der Welt absetzen. In seinem vorletzten Roman, Der Abgrund, der im Original vor zwei Jahren unter dem Titel Last Man Standing veröffentlicht wurde, schreibt Baldacci über den FBI-Agenten Web London. Der ist Mitglied einer Spezialeinheit, das als einziger Überlebender seines Teams die Hintergründe eines bizarren Hinterhalts durchleuchtet, der seine Kollegen das Leben kostete.
Was mag David Baldaccis Thriller auszeichnen, die sich ganz offensichtlich so überdurchschnittlich gut verkaufen? – In positiver Hinsicht fällt zunächst auf, dass der Autor anlässlich seiner Geschichte weit reichendes Quellenstudium betrieben zu haben scheint. Denn das Hostage Rescue Team, die Spezialeinheit des FBI, für die der Protagonist arbeitet, ist real. Die hinter ihr stehende Organisation wird zumindest plausibel dargestellt. Auch wenn für Insider die Berichterstattung scheinbar nicht nachvollziehbar ist.
Darüber hinaus lassen die im Abspann aufgeführten Danksagungen vermuten, dass sich Baldacci auch mit anderen realen Details und Hintergründen seiner Romangeschichte auseinandergesetzt hat.
Bewertung
Die genannten Quellen verleihen also der Handlung eine gewisse Authentizität. Ohne diese wäre der Roman kaum zu verkraften. Denn das Konstrukt aus Action, historischen Fakten, Sozialpsychologie und erfundenen Persönlichkeitsbildern und -störungen, das der Autor zusammengebosselt hat, grenzt hart an Paranoia. Held und Nebendarsteller sind allesamt Fälle für den Psychiater. Und ein solcher kommt dann ganz folgerichtig nicht nur am Rande vor, sondern spielt eine tragende Rolle in der Geschichte.
Leider aber wischt Baldacci bei der Psychoanalyse der Charaktere stets nur über die Oberfläche. Dabei bleiben Nachvollziehbarkeit und Glaubwürdigkeit auf der Strecke.
Dieses Manko ist einem grundsätzlichen Konflikt in der Anlage der Geschichte zuzuschreiben. Denn zum einen bemüht sich Baldacci, dem Plot durch Einfügen psychologischer Elemente und historisch realer Traumata Echtheit zu verleihen. Doch auf der anderen Seite widmet er sich mit einer geradezu pubertären Begeisterung der Schilderung von Gewalt- und Kampfszenen. Für den Leser entsteht so eine Kluft, die der Autor nicht zu überbrücken vermag.
Ein Groschenroman?
Damit habe ich auch meinen hauptsächlichen Kritikpunkt am besprochenen Roman erreicht. Baldaccis Schilderungen sind über weite Strecken derartig einfältig abgefasst, dass man sich beim Lesen des Eindrucks nicht erwehren kann, sie müssten aus Groschenromanen abgeschrieben sein. Allein schon der Name des Protagonisten, Web London, wird gebetsmühlenartig wie eine Primärqualifikation für Elitekämpfer wiederholt. So müssen Helden heißen! Irgendwo im Roman fragt sich sogar dieser Web selbst, wie er zu seinem Namen gekommen sein mochte. Eine Antwort fehlt allerdings.
Darüber hinaus klebt Baldacci mit einer kindischen Liebe an waffentechnischen Einzelheiten und automobilem Potenzgebaren. Man fragt sich unwillkürlich nach dem Alter des Autors. Immerhin ist der Mann über vierzig, schreibt aber über seine menschlichen Kampfmaschinen, als ob er der Pubertät noch nicht entwachsen sei. So erfahren wir beispielsweise, dass es zu den Tugenden von Spezialagenten die Fähigkeit gehört, stundenlang klaglos im kalten Schlamm zu liegen und sich dabei von Schlangen überkriechen zu lassen. Außerdem müssen sie lautlos in Konservendosen pinkeln können. Und wenn der Held wieder einmal einen Gegner liquidiert, heißt es, als ob es sich um ein Tennis- oder Fußballspiel handelte: „Profi eins, Amateur tot.“
Solche Formulierungen mag die Leserschaft einfach nur als ärgerlich empfinden, ich halte sie für nichts anderes als peinlich.
Wie es von Beginn der Lektüre an nicht anders zu erwarten war, endet die Geschichte schließlich mit dem totalen militärischen Triumph von Web London, einem Happy End auf der ganzen Linie, sowie (oh Schreck!) mit einem offenen Ende im persönlichen Bereich des Helden.
Fazit:
Man muss wirklich nicht alles lesen. Vor allen Dingen kann man sich Romane ersparen, die so offensichtlich in erster Linie auf ihre Adaptierbarkeit durch den Film angelegt sind. Die mit Waffenklirren und pseudoheroischem Machogehabe dem Leser zusetzen und dabei nach der Lektüre den herben Nachgeschmack absoluter Bedeutungslosigkeit hinterlassen. Dass Der Abgrund zumindest noch einen von fünf möglichen Sternen bekommt, verdankt der Autor lediglich meinem Eindruck, der Roman könne dank seiner durchaus vorhandenen Spannung wenigstens zum Überbrücken schlafloser Nachtstunden oder quälender Warteminuten in Zahnarztpraxen dienen.
Wie Baldacci persönlich in seinem Diskussionsforum ankündigt, ist eine Fortsetzung des Romans bereits geplant. Auf deren Rezension wird man an dieser Stelle jedoch sicher verzichten müssen.
David C. Baldacci: Der Abgrund
Bastei Lübbe Verlag, 2003
* * * * *
Wenn Du über diese Links bestellst, erhalte ich eine kleine Provision auf Deinen Einkauf (mehr darüber)