Tannöd

Tannöd
Andrea Maria Schenkel, 2006

Die Über­ra­schungs­au­to­rin An­drea Ma­ria Schen­kel wur­de für ih­ren Erst­lings­kri­mi Tannöd mit dem Deut­schen Kri­mi Preis 2007 aus­ge­zeich­net. Auch den Fried­rich-Glau­ser-Preis und den Co­ri­ne-Preis hat sie für den 125 Sei­ten kur­zen Ro­man er­hal­ten. Die Flut der Aus­zeich­nun­gen ist ganz ge­wiss be­rech­tigt.

Die Hand­lung setzt nach En­de des zwei­ten Welt­krie­ges ein, nach einem Mord­mas­sa­ker, dem drei Ge­ne­ra­tio­nen einer Fa­mi­lie samt der Haus­magd zum Op­fer ge­fal­len sind. Al­le sechs Op­fer hat­ten auf einem ein­sa­men Bau­ern­hof ir­gend­wo in der ba­ye­ri­schen Pro­vinz ge­lebt. Das En­de der Ge­schich­te ist er­reicht, als der Tä­ter we­ni­ge Wo­chen nach der Tat ge­ra­de An­stal­ten macht, sich selbst das Le­ben zu neh­men.

Außer­ge­wöhn­lich sind Hin­ter­grün­de und Her­gang der Mord­tat bei­lei­be nicht. Dies stellt man rasch fest, wenn man Fak­ten re­sü­miert, die man im Lau­fe der Lek­tü­re des Bänd­chens auf­ge­nom­men hat. We­der ein psy­chisch de­for­mier­tes Mör­der­mons­ter, noch eine aus­ge­feil­te Ver­ket­tung von Um­stän­den hat die­ser Kri­mi zu bie­ten.
„Ein Aller­welts­fall!“, könn­te man also aus kri­mi­no­lo­gi­scher Sicht­wei­se kon­sta­tie­ren. Und das ist er auch: ein Fall aus ganz rea­len Ge­richts­ak­ten der Neun­zehn­zwan­zi­ger­jah­re. Er­fa­hre mehr da­rü­ber in der Fuß­no­te.¹

Tannöd – Erfolgsrezept

Seine außer­gewöhn­liche Attrak­tivi­tät und Span­nung zieht der Kri­mi jeden­falls aus­schließ­lich aus Auf­berei­tung und Erzähl­per­spek­tive. Also aus einer bis­lang unge­kann­ten Dar­reichungs­form der Geschich­te:
Die Autorin ver­zich­tet näm­lich auf die Dar­stel­lung jeg­li­cher kri­mina­listi­scher Ermitt­lungs­ar­beit. Detek­tiv­geschich­ten bekann­ten Zuschnitts – nach US-ameri­kani­schem Vorbild – interes­sie­ren Andrea Maria Schen­kel nicht. Poli­zei­ar­beit beschränkt sie daher auf ein paar kurze Rand­sät­ze, gar auf Halb­sät­ze. Statt des­sen ermög­licht es Frau Schen­kel dem Leser, alle Betei­lig­ten in unbe­werte­ter Auf­sicht durch die Tage und Wochen nach dem Mord­fall zu beglei­ten. Die Bekann­ten und Verwand­ten der Opfer kom­men ebenso zu Wort wie die Hono­ratio­ren des Dor­fes und der Mör­der selbst.

Aus der Gesamt­heit die­ser Zeug­nisse – real nach Akten­lage, oder fik­tiv aus Erfun­de­nem, Dazu­gedich­tetem – ent­steht ein Mosaik aus Fak­ten. Alle Bau­stei­ne gemein­sam las­sen letzt­lich ein Bild der Tat ent­ste­hen.

Bei der Kon­struk­tion der Geschichte geht die Auto­rin mit der Prä­zi­sion eines Schwei­zer Uhr­wer­kes vor. Sie ver­mengt dabei kind­lich unbe­schwerte Beob­achtun­gen mit dörf­lichem Klatsch und Tratsch, zeit­genössi­sche Bigot­terie mit Fak­ten und Aus­wirkun­gen eines Fami­lien­dramas. Am Ende ent­steht dadurch ein schlüs­si­ges Gesamt­bild, das der Leser Zug um Zug inha­liert. Letzt­lich steht er dann vor dem Trüm­mer­hau­fen eines ver­korks­ten Bezie­hungs­ge­flechts, dessen unaus­weich­liche Kon­se­quenz einem den Atem sto­cken lässt.

Die unbestech­liche Beob­ach­tungs­gabe und das minu­tiö­se Erzäh­len Andrea Maria Schen­kels las­sen kei­nen Zwei­fel an der Authen­tizi­tät der Geschichte auf­kom­men.

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Notiz am Rande: Die Romangeschichte wurde im Jahr 2009 gleich zweimal verfilmt. Für den Film Tannöd erhielt Regisseurin Bettina Oberli den Zürcher Filmpreis, obwohl die Filmkritiker insgesamt nicht überzeugt waren. Auch die zweite Verfilmung unter dem Titel Hinter Kaifeck unter Regie von Esther Gronenborn bekam keine besseren Kritiken.

Fazit:

Ein Krimi ist Tannöd eigent­lich trotz der Hand­lungs­de­tails nicht. Es han­delt sich eher um das düs­tere Psy­cho­gramm einer Gesell­schaft, das den Leser in seinen Bann zieht. Ein Lecker­bis­sen der Krimi­nal­litera­tur, der mir gerade wegen sei­ner Kür­ze und Präg­nanz min­des­tens vier von fünf mög­li­chen Ster­nen wert ist. – Ein Lehr­stück für Krimi­auto­ren, die Erfolg abseits der aus­getre­tenen Pfade der Whodunnit-Menta­lität suchen.

Andrea Maria Schenkel: Tannöd
Edition Nautilus, 2006

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Fußnote:

¹ — Der wah­re Mehr­fach­mord­fall spielte sich vor über einem Jahr­hun­dert in der Nacht vom 31. März zum 1. April 1922 auf dem Ein­öd­hof Hin­ter­kaif­eck im ober­baye­ri­schen Land­kreis Neu­burg-Schro­ben­hau­sen ab. Der Fall ist bis heute unauf­ge­klärt geblie­ben und stößt noch immer auf das Inte­res­se der Öffent­lich­keit. Wer sich inten­si­ver mit dem Sechs­fach­mord auf Hin­ter­kaif­eck befas­sen möchte, fin­det auf den fol­gen­den Web­sei­ten womög­lich inte­res­sante Details:

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