Zwischendurch als Urlaubslektüre für Strand und Terrasse habe ich mir Die Lieferung von Andreas Winkelmann auf dem E-Reader mitgenommen. Einen Thriller. Immerhin mal auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Kann also nicht so verkehrt sein. Und tatsächlich war ich anfangs ziemlich angetan. Der Autor schafft es tatsächlich, Spannung aufzubauen und über weite Strecken beizubehalten. Genau das Richtige für die Ferienzeit? Auch wenn dieses Briefmarkencover auf dem E-Reader arg missglückt daherkommt?
Wir tauchen also ein in die Handlung: Offenbar geht es hier um junge, attraktive Frauen, die alle verschwinden und später durch ein traumatisches Erlebnis den Verstand verloren zu haben scheinen. Gemeinsam mit dem ermittelnden Protagonisten Jens Kerner begegnen wir zunächst einer nackten, vollkommen durchgedrehten Furie mit nachtbleichem Körper und geschorenem Schädel, die durch den Wald stolpert und durch den Helden erst dank footballartigem Körpereinsatz gestoppt werden kann. In einem parallelen Handlungsstrang begleiten wir eine zweite junge Frau, die sich auf unerklärliche, aber nichtsdestoweniger bedrohliche Weise verfolgt fühlt. Und dann taucht in einem dritten, rückwärts gewandten Plot ein Junge auf, der traumatische Erfahrungen mit dem wunderhübschen Nachbarsmädchen macht, für das er schwärmt, die allerdings für ihn, den sozial benachteiligten Niemand unerreichbar bleibt.
Zum Inhalt
Sehr schnell wird klar: Wir begegnen hier einem traumatisierten Mann, der von Jugend an Schwierigkeiten hatte, an die Objekte seiner Begierde heranzukommen. Dieses Trauma kompensiert er in späteren Jahren, indem er überdurchschnittlich hübsche junge Frauen auswählt, um ihnen Mores zu lehren. Er beschattet seine Opfer, entführt sie und reduziert ihr Dasein auf eine Existenz in vollkommener Dunkelheit, Kälte und Einsamkeit, in der sie erkennen sollen, wie hohl ihre bisherige Existenz war.
Die Gegenspieler dieses Psychopathen sind der Kripobeamte Jens Kerner und seine rollstuhlfahrende Assistentin Rebecca Oswald. Die beiden zählen eins und eins zusammen, und dann noch einmal eins obendrauf, bis sie sich dem Täter endlich nähern. Hat die ganze Sache mit einer gehypten Pizzaküche und/oder mit dem nachgelagerten Lieferdienst zu tun?
Erfolgsrezept
Der Autor hat wirklich ein gutes Gespür für wohl dosierte Aufbauarbeit. Er führt die Leserschaft über mehrere verschiedene Eingangsgeschichten hinein in ein Gestrüpp grauenhafter Geschehnisse um einen Psychopathen, der gutaussehende junge Frauen misshandelt, ihren Willen bricht und sich selbst zu ihrem Gottvater macht. Schrittweise aber unbeirrbar führt uns Winkelmann in die kranken Gedankengänge eines wirren Serientäters ein und präsentiert uns häppchenweise die gruseligen Ergebnisse seiner Untaten.
„Wendy … darling. Light of my life. I’m not gonna hurt ya … I’m just gonna bash your brains in. I’m gonna bash ’em right the fuck in.“
(Seite 269)
Natürlich wechselt der Autor in rasantem Tempo die Perspektiven und sorgt für einen Cliffhanger nach dem anderen. Er ist handwerklich so versiert, dass es ihm gelingt, sein Publikum geradezu in Leserausch zu versetzen. Insbesondere die Szenen, in denen er die Opfer und die Leser¦innen in das licht- und scheinbar grenzenlose Reich des Unholds mitnimmt, haben es wahrlich in sich. – Eine groteske Hölle, die nur dazu geschaffen wurde, nutzlose, oberflächliche Puten zu läutern. (Mit Verlaub, man sehe mir diese drastische Beurteilung nach. Ich versuche hier wiederzugeben, was den Psychopathen antreiben mochte.)
Die Ermittlerperspektive
Was mich allerdings fast von Anfang an gestört oder sogar verstört hat, ist der plakative, stereotype Aufbau des Ermittlerduos. Kerner, der handsome Cowboy, holzfällerbehemdet und pickupfahrend. Beziehungsgeschädigt, aber verliebt in seine körperlich beeinträchtigte Assistentin. Diese natürlich ihrerseits verliebt in ihren Chef. Beide bemüht, den Schein der beruflichen Beziehung zu wahren, und dann doch einander hoffnungslos verfallen. Alle anderen verstehen sowieso nicht, was überhaupt los ist. Nur Jens und Rebecca sind wissend und treiben den Fall voran. (Und nebenbei natürlich auch ihre Beziehung.)
Diese Randgeschichte ist ziemlich seicht und vollkommen unnötig für den Thriller-Plot. Sie hat mich, ehrlich gesagt, nicht nur gestört sondern verärgert. Das hätte beileibe nicht sein müssen. Man stelle sich vor, Clarice Starling hätte im Schweigen der Lämmer noch nebenbei eine innige Romanze mit Chef Ironside gehabt. Himmel, hilf!
Bewertung
Zum einen hat mir dieses treibende Moment, dieses immer tiefere Eintauchen in die Psychose des Täters sehr gut gefallen. Das trägt die Leserschaft nämlich durch einen guten Teil der Geschichte hindurch. Die eben geschilderte Ermittlerromanze hingegen bringt leider Punktabzüge. Und schließlich leistet sich der Autor zum Schluss noch einen echt dicken Patzer:
Die Auflösung des zunächst so verwirrenden Falls ist schlicht und einfach trivial. In wenigen Absätzen macht Winkelmann dabei die ganze wohl konstruierte Spannung zunichte. Das Ende seiner Geschichte wirkt lieblos und überhastet.
Fazit:
Wer einen spannungsgeladenen Thriller schätzt, wird Die Lieferung mögen. Zumindest dann, wenn sie oder er über das einigermaßen läppisch auslaufende Romanende hinwegsehen mag. Und wer dann auch noch dieser parallelen Romanze im Polizeiteam etwas abgewinnen kann, wird weniger enttäuscht sein, als ich es war.
Aus meiner Sicht bleiben leider nicht mehr als zwei von möglichen fünf Sternen für diese Geschichte, die äußerst vielversprechend beginnt, aber gegen Ende eben stark nachlässt.
Andreas Winkelmann: Die Lieferung
Rowohlt Verlag, 2019
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