Am 27. Januar 2009 starb der amerikanische Autor John Hoyer Updike im Alter von 76 Jahren an einem Lungenkrebsleiden. Anlässlich seines Todes flammten in Literaturzirkeln zum wiederholten Male Diskussionen über das Versäumnis der Königlichen Schwedischen Nobel-Akademie auf, den Literaturpreis nicht längst an Updike vergeben zu haben. Jetzt ist es zu spät, posthum wird der Preis nicht verliehen. Der Tadel mag durchaus berechtigt sein; ich selbst bekenne, dass ich mein Interesse an zeitgenössischer Literatur John Updike und im Besonderen seiner Romanserie Rabbit um den Protagonisten Harry Angstrom zu verdanken habe. — Fünf Jahre vor seinem Tod veröffentlichte Updike den Roman Villages, der im Jahr 2006 unter dem deutschen Titel Landleben erschien. Der Tod des Schriftstellers ist für mich Grund genug, den bisher ungelesenen Roman aus meinem Bücherbord zu ziehen.
„Wo die Liebe hinfällt.“
So überschreibt der Verlag auf der Rückseite des Buchcovers eine knappe Inhaltsbeschreibung und trifft damit ins Schwarze. Zumindest insofern, als man in vier Worten überhaupt eine Zusammenfassung von über vierhundert gedruckten Seiten einigermaßen treffsicher unterbringen kann. Updikes Geschichte behandelt rückblickend das Leben von Owen Mackenzie. Der war ein Computerpionier des vergangenen Jahrhunderts, dessen Profession allerdings nur ansatzweise eine Rolle in der Handlung spielt. Deutlich mehr Gewicht als der Beruf des Hauptdarstellers nehmen seine erotischen Erlebnisse ein.
„Landleben“ bedeutet bei Updike die Fokussierung auf sexuelle Verwicklungen in den kleinen, ländlichen Orten des US-amerikanischen Mittleren Westens. Dies wird dem Leser schon nach dem Durchblättern der ersten Buchseiten klar; jedes zweite Kapitel wird im Inhaltsverzeichnis mit den Überschriften „Kleinstadt-Sex 1 bis 6“ angekündigt.
„Kleinstadt-Sex“
Wer sich allerdings Stimulierendes oder gar Pornografisches von Updike erhofft, der wird enttäuscht. Zwar blendet der Autor in seiner Geschichte keineswegs prüde ab, sobald nackte Haut ins Spiel kommt und die Handlung unter die Gürtellinie sinkt. John Updike findet auch in solchen Szenen durchaus klare Worte. Doch über Sex so zu schreiben, dass es nicht peinlich oder zotig wirkt, ist eine Kunst, die der Autor beherrscht wie nur wenige andere. Er bettet seine Ausflüge in die Praktiken des Geschlechtsverkehrs so natürlich in die Rahmenhandlung ein, dass der Leser nicht das Gefühl hat, sich auf schlüpfriges Terrain begeben zu müssen. Die Formulierungen bleiben liebenswert, wirken niemals obszön, verletzend oder herabwürdigend. Und schließlich bleibt dieser Owen Mackenzie stets Gentleman.
Mit diesem letzten Hinweis versuche ich, nun auch den Kreis zu schließen zu meiner Eingangsbemerkung, die Romanhandlung lasse sich womöglich auf „Wo die Liebe hinfällt“ reduzieren. Denn dem Hauptdarsteller des Romans purzeln seine Liebesbeziehungen mehr vor die Füße, als dass er sie aktiv verfolgte. Die Initiative geht stets von den Frauen aus, die auf Owen zugehen und zumindest unmissverständlich ihr Interesse signalisieren. Was Owen zu den Beziehungen beiträgt, bleibt dem Leser verborgen. Von verzehrender Liebe ist jedenfalls bei keinem der Techtelmechtel die Rede; bei der Lektüre nehmen wir vielmehr eine Mischung aus Lust auf Abwechslung, Neugier und mehr oder weniger verkappter Frustration als Antriebselement für Seitensprünge auf. Sieht man genauer hin, erweisen sich die Ehefassaden ganzer Wohnsiedlungen und Städte als hohl und brüchig; partnerschaftliches Glück über ein ganzes Leben hinweg scheint für Updike nicht existenzfähig zu sein.
„An einem Abend …“
Die Anbahnungsszene einer dieser Kleinstadtbeziehungen hat es mir besonders angetan. Hier gelingt es dem Autor, das Knistern der Erwartung und gleichzeitig die Absurdität der Geschehnisse auf wunderbare Weise zu verknüpfen. Auf einer der Partys im immer gleichen Freundeskreis trifft Owen ohne Beisein von Dritten auf die Gastgeberin Alissa:
„An einem Abend, an dem sie alle bei den Morriseys zu viel getrunken hatten, Silvester vielleicht, in der konfusen Schlussstunde nach Mitternacht, waren sie sich zufällig oben im Flur begegnet – sie sah nach einem fiebernden Kind, und er wollte urinieren […]. Wie Planeten, die von ihrer Umlaufbahn abgekommen waren, hielten Owen und Alissa aufeinander zu und küssten sich. Sie presste so hart, dass ihre Zähne aufeinander schlugen; er war verdutzt, wie er es vor vielen Jahren gewesen war, als Alice Stottlemeyer ihn geküsst hatte. Aber hier wurde nicht mehr Flaschendrehen gespielt.“
Hintergrund
Kennt man den Lebenslauf von John Updike, liegt es nahe, nach dem autobiografischen Anteil der Geschichte zu fragen. Wie Owen Mackenzie wuchs der Autor selbst in ärmlichen Verhältnissen auf dem Lande auf. Er verbrachte einen Großteil seines Lebens in Kleinstädten. Updike wurde von seiner ersten Frau geschieden und heiratete erneut. Mit der zweiten Frau und seinen Kindern verbrachte er den Rest seines Lebens. Den Roman über den siebzigjährigen Owen schrieb Updike als Mann im gleichen Alter, sechs oder sieben Jahre vor seinem Tod. Unwillkürlich weitet man die Parallelen der Rahmenhandlung des Romans und des Lebens des Autors auch auf die sexuellen Erlebnisse Owens aus. — Hat Updike seine eigenen Erfahrungen in den Roman Landleben gepackt? Fragen werden wir ihn leider nicht mehr können.
Für die Theorie sprechen würden mindestens auch die nüchternen, aber dennoch liebevollen Szenen der Partnerschaft zwischen den beiden Alten, Owen und Julia. Der Umgang der beiden wird szenisch detailverliebt und derartig realistisch beschrieben, dass man nicht umhin kann anzunehmen, Updike kannte dies alles aus der eigenen Erfahrung.
Bewertung
Landleben ist ein Buch, in dem ein alter Mann sich an alte Zeiten erinnert und das, was ihm einst lieb und teuer war, noch einmal ganz ohne nachträgliche Bewertung oder Sentimentalitäten Revue passieren lässt, bevor sein Leben zu Ende geht. Die Frage, ob er er etwas bereue, ob er etwas anders machen würde, wenn er noch einmal von vorne anfangen könne, wird dem Protagonisten der Geschichte nicht gestellt. Ich denke jedoch, durchaus nachvollziehbar behaupten zu dürfen, dass Owen Mackenzie – und mit ihm womöglich auch John Updike – sein Leben genau so noch einmal leben würde, wie er es erinnert.
Wenn man an der Geschichte etwas auszusetzen haben könnte, dann fände man einen Kritikpunkt in der Wiederholung. Die hat aus Sicht der Erinnerung des alten Mannes bestimmt seine Berechtigung, wird für den Leser jedoch ein wenig mühsam. Irgendwann macht es für den Beobachter keinen Unterschied mehr, mit wem Owen nun gerade herumvögelt. Oder worin sich diese neue Sexualpartnerin von ihren Vorgängerinnen unterscheidet. So ist es zumindest mir ergangen, spätestens als Owen seine Geschäftsreiseabenteuer eine nach der anderen über Hotelzimmerlaken zerrte.
Dass dieses Ausufern, die Zügellosigkeit Owens Bestandteile der nachfolgenden Entwicklungen sind, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Erst später, als sich die Mackenzies scheiden lassen wollen und Owen bereits mit Julia liiert ist, wird erkennbar, welchen Beitrag die Frauengeschichten zur sozialen Isolation der ersten Ehefrau, Phyllis, geleistet hatten. Und warum ihr Mann zuletzt ausgerechnet bei einer Pfarrersfrau Halt und Zuflucht sucht.
Wer sich für meine Buchbesprechung für Landleben begeistert, den interessiert vielleicht auch meine Rezension zu Rabbit, eine Rückkehr.
Fazit:
Landleben ist ein inhaltlich nicht überraschendes Alterswerk, das bei einem anderen als John Updike vermutlich in Peinlichkeit oder Obszönität abgeglitten wäre. Doch trotz der angesprochenen Längen bei der Aufzählung von Sexualpartnerinnen hat der Experte der gescheiterten Beziehungen einen gelungenen und äußerst authentischen Lebensrückblick zusammengestellt, der nicht einmal ansatzweise pornografisch wirkt, sondern stets verständnis- und liebevoll.
Auf dem Buchcover nennt eine gewisse Fay Weldon den Roman einen „wunderbaren erotischen wie sozialen Rückblick auf das Leben in kleinen Orten“. Diese Bewertung nehme ich einmal kommentarlos hin. Vielleicht ist oder war das ja wirklich so im Amerika des vergangenen Jahrhunderts. Auch wenn ich persönlich die schiere Menge an sexuellen Verflechtungen im Bekanntenkreis in einer verhältnismäßig prüden Gesellschaft als Extrem erachten möchte. Aber diese Einschätzung gilt für viele von Updikes Romane, nicht zuletzt auch für seine berühmte Rabbit-Serie.
Dennoch – wer John Updike und seinen Stil schätzt, der wird ganz sicher auch durch das Landleben nicht enttäuscht. Zu vier von fünf Sternen habe ich mich letztlich nicht durchringen können. Aber satte drei Wertungspunkte von fünf möglichen soll mir der Roman auf alle Fälle wert sein. – Ruhe in Frieden, John!
John H. Updike: Landleben
Rowohlt Verlag, 2006
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