Der Friedhof in Prag

Umberto Eco, Der Friedhof von Prag, 2011
Umberto Eco, 2011

Umberto Ecos Der Na­me der Ro­se war vor drei­ßig Jah­ren der bel­le­tris­ti­sche Knül­ler schlecht­hin: Al­lein im ers­ten Jahr­zehnt nach sei­nem Er­schei­nen wur­den über acht Mil­lio­nen Exem­pla­re ver­kauft, der Autor wur­de schlag­ar­tig welt­be­rühmt. Nun ist Ecos sechs­ter Ro­man in deut­scher Über­set­zung ver­öf­fent­licht wor­den: Der Friedhof in Prag. Der jü­di­sche Fried­hof im al­ten Prag galt frü­her als Treff­punkt für Agen­ten und Spio­ne. Die­se sol­len dort Welt­herr­schafts­plä­ne ge­schmie­det ha­ben, so heißt es bei­spiels­wei­se in Her­mann Goed­sches an­ti­se­mi­ti­schem Ro­man Biar­ritz aus dem Jahr 1868. Die jü­di­sche Welt­ver­schwö­rung soll in den so­ge­nann­ten Pro­to­kol­len der Wei­sen von Zion do­ku­men­tiert sein, einem tat­säch­lich exis­tie­ren­den an­ti­se­mi­ti­schen Pam­phlet un­be­kann­ter Her­kunft. In sei­nem jüngs­ten Ro­man schmückt Um­ber­to Eco die Ent­ste­hungs­ge­schich­te des Pro­to­kolls fan­ta­sie­voll aus.

Der Friedhof von Prag – Über die Romangeschichte

Dem Stoff man­gelt es wahr­lich nicht an Span­nung. Der Roman han­delt – wie bereits Der Name der Rose – wie­der zu his­tori­schen Zei­ten, dies­mal im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert, meist in Ita­lien und Frank­reich. Der Pro­tago­nist, ein gewis­ser Simon Simo­nini, Turi­ner Halb­fran­zose und Jurist, exzel­len­ter Doku­men­ten­fäl­scher und pas­sio­nier­ter Fein­schme­cker, gerät in die poli­ti­schen Gra­ben­kämpfe zwi­schen Revo­lutio­nä­ren, Frei­mau­rern und Jesu­iten. Er schlägt sich an wech­seln­den Fron­ten durch, wobei er mehr und mehr unter Ein­fluss einer gespal­te­nen Per­sön­lich­keit agiert. Gegen Ende der Ge­schich­te tau­chen die besag­ten Pro­to­kolle der Wei­sen von Zion auf, an deren Ent­ste­hung Simo­nini maß­geb­lich betei­ligt ist.

Der Plot um Simo­nini hat manch­mal etwas James-Bon­di­ges; erstaun­lich, dass es dem Pro­tago­nis­ten immer wie­der gelingt, Tod oder Fes­tungs­haft zu ent­rin­nen. Die Span­nung wird jedoch im­mer wie­der auf­ge­zehrt durch äußerst lang­at­mige, sei­ten­lange Betrach­tun­gen und Tira­den Simo­ni­nis über die im Hin­ter­grund han­deln­den Grup­pie­run­gen; die Juden, Jesu­iten, Frei­mau­rer, Anar­chis­ten, Ner­ven­ärzte und Ner­ven­kranke. Ihr merkt schon, ver­ehrte Lese­r¦in­nen, es geht nicht nur in die Tiefe im Friedhof in Prag son­dern auch deut­lich in die Breite, in epi­sche Breite.

Dabei lesen sich die Begeg­nun­gen Simo­ni­nis wie eine Liste des Who is Who des vor­letz­ten Jahr­hun­derts. Er hat sie alle getrof­fen und mit ihnen oder gegen sie gear­bei­tet: Alexan­dre Dumas, den Frei­heits­kämp­fer Giu­seppe Gari­baldi und die­sen Her­mann Goed­sche (siehe Ein­lei­tung ganz oben), des­sen Roman Biar­ritz auf den Ideen Simo­ni­nis basiert. Kein ande­rer als Simo­nini ist auch ver­ant­wort­lich für die Fäl­schung des belas­ten­den Mate­rials, das den ver­meint­li­chen Lan­des­ver­räter Alfred Drey­fus auf die Teu­fels­in­sel schickt. Und er pflegt eine Freund­schaft mit Sig­mund Freud („die­sem öster­rei­chi­schen Dok­tor“), des­sen Rat­schlag wir das Tage­buch des Pro­tago­nis­ten – also diese ganze Ge­schich­te – ver­dan­ken.

Simon Simo­nini ist ein Mann für wirk­lich fast alle Fälle. In sei­nen Nach­bemer­kun­gen unter der Über­schrift Unnö­tige Hin­ter­grund­infor­matio­nen schreibt Eco:

Die ein­zige erfun­dene Per­son in die­ser Ge­schich­te ist der Pro­tago­nist Simon Simo­nini […] Alle ande­ren Per­so­nen (bis auf einige Neben­figu­ren wie der Notar Rebau­dengo oder Meis­ter Ninuzzo) haben wirk­lich exis­tiert und haben gesagt und getan, was sie hier sagen und tun.
(Seite 513)

Der Friedhof von Prag – Bewertung

Umberto Eco hat sich also die Mühe gemacht, eine ganze Hun­dert­schaft his­to­risch beleg­ter Per­sön­lich­kei­ten des aus­gehen­den neun­zehn­ten Jahr­hun­derts aus der Mot­ten­kiste der Ge­schich­te aus­zubag­gern und in einer erfun­de­nen Ge­schich­te um sei­nen Pro­tago­nis­ten Simo­nini her­um­tan­zen zu las­sen. Aller­dings in einer Cho­reo­gra­fie, die die tat­säch­li­chen ge­schicht­li­chen Abläufe wie­der­gibt. Seine fik­tive Haupt­figur lässt Eco so agie­ren, dass letzt­lich genau die Dinge gesche­hen, die sich tat­säch­lich ereig­net haben. Auch wenn Simo­nini als erfun­dene Figur in der wirk­li­chen Ver­gan­gen­heit nie seine schmut­zi­gen Fin­ger im Spiel gehabt hat.

Einen Groß­teil des Roman­tex­tes machen Ver­däch­tigun­gen, Ver­leum­dun­gen und Ste­reo­ty­pen gegen­über ver­schie­de­nen gesell­schaft­li­chen Grup­pen oder Natio­nen aus. Die­ser Simo­nini lässt nichts und kei­nen aus. Kein Kli­schee ist ihm zu abge­dro­schen, keine Gemein­heit zu platt.

Und als ich groß genug war, um zu ver­ste­hen, erklärte er mir, dass der Jude nicht nur eitel ist wie ein Spa­nier, igno­rant wie ein Kroate, gie­rig wie ein Levan­ti­ner, undank­bar wie ein Mal­te­ser, unver­schämt wie ein Zigeu­ner, dre­ckig wie ein Eng­län­der, schmie­rig wie ein Kal­mü­cke, herr­isch wie ein Preuße und läs­ter­lich wie ein Pie­mon­tese aus Asti, son­dern auch ehe­bre­che­risch aus unbe­zähm­ba­rer Geil­heit – was von der Beschnei­dung kommt, die sie erek­tions­freu­di­ger macht.
(Seite 12)

Ihr maß­lo­ser Bier­kon­sum macht sie unfä­hig, sich auch nur die geringste Vor­stel­lung ihrer Vul­gari­tät zu machen, aber der Gip­fel die­ser Vulga­ri­tät ist, dass sie sich gar nicht schä­men, Deut­sche zu sein. Sie haben einen ver­fres­se­nen und lüs­ter­nen Mönch wie Luther ernst genom­men (kann man im Ernst eine Nonne hei­ra­ten?), bloß weil er die Bibel rui­niert hat, indem er sie in ihre Spra­che über­setzte.
(Seite 14 f.)

Frei­mau­rer und Jesu­iten. Die Jesu­iten sind Frei­mau­rer in Frau­enklei­dern.
(Seite 21)

Meine Reak­tion als Leser auf sol­che oft sei­ten­lan­gen Tira­den: erst Ver­blüf­fung, dann Belus­ti­gung, schließ­lich Ver­ärge­rung und Resi­gna­tion. Spä­tes­tens ab der Buch­mitte bedurfte es wahr­lich einer Wil­lens­anstren­gung, nicht auf­zuge­ben und den Roman nicht end­gül­tig resi­gnie­rend zur Seite zu legen.

~

Fazit:

Der Friedhof in Prag hat mich nicht begeis­tert. Es mag durch­aus ver­dienst­voll sein, die ereig­nis­rei­che mit­tel­euro­päi­sche Ge­schich­te zum Ende des 19. Jahr­hun­derts in einer ein­zi­gen Erzäh­lung zu bün­deln. Sicher kann man auch eine Weile über die Figur die­ses selbst­gerech­ten Intri­gan­ten Simo­nini schmun­zeln. Doch über die gesamte Stre­cke des Romans, also über 500 Text­sei­ten hin­weg, wurde mir die­ser stets glei­che Brei ein­fach nur noch zu viel.

Apro­pos Brei: Auch die mit ste­ter Regel­mäßig­keit ein­gestreu­ten Zuta­ten- und Zube­rei­tungs­hin­weise his­tori­scher Gau­men­freu­den des Gour­mands Simo­nini konnte ich irgend­wann nur mehr dadurch ver­dauen, indem ich über sol­che Text­pas­sagen hin­weg­sprang. Mein Resü­mee lau­tet: von allem zu viel des Guten!

Darum ver­gebe ich hier gerade mal zwei von fünf mög­li­chen Ster­nen. Für drei hat es nicht gereicht. Und der Pro­mibo­nus für Eco ist da schon maß­geb­lich mit drin.

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag
Carl Hanser Verlag, 2011

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