Eine Frau bei 1000°

Hallgrímur Helgason, Eine Frau bei 1000°, 2011
Hallgrímur Helgason, 2011

Im vergangenen Jahr war Is­land Eh­ren­gast auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se. Grund ge­nug für mich, der ich in mei­ner Lek­tü­re­wahl sonst ziem­lich mit­tel­meer­las­tig bin, einen is­län­di­schen Ro­man aus­zu­su­chen. Mei­ne Wahl fiel auf Eine Frau bei 1000° von Hall­grí­mur Hel­ga­son, einem Schrift­stel­ler, Ma­ler, Co­mic-Zeich­ner und Co­me­di­an, der Is­län­dern wohl­be­kannt, bei uns bis da­hin je­doch so gut wie un­be­kannt ist.

Die Pro­ta­go­nis­tin und Ich-Er­zäh­le­rin heißt Her­björg Ma­ria Björns­son, ist achtzig Jah­re alt und hat mich mit ih­rer Be­grü­ßung in den bei­den ers­ten Sät­zen des ers­ten Ka­pi­tels da­von über­zeugt, den Ro­man zu er­wer­ben:

Ich le­be al­lein in einer Ga­ra­ge, zu­sam­men mit einem Lap­top und einer al­ten Hand­gra­na­te. Wir ha­ben es wahn­sin­nig ge­müt­lich.

Wel­cher fan­ta­sie­be­gab­te Le­ser könn­te da wi­der­ste­hen? Die­ser ers­te Satz ge­hört bei al­ler Ef­fekt­ha­sche­rei zu den merk­wür­digs­ten (auch im un­mit­tel­ba­ren Sinn des Wor­tes) Ein­lei­tun­gen der Belle­tris­tik, zu­mal sich im Lau­fe der Er­zäh­lung her­aus­stellt, dass er ele­men­ta­re Be­stand­tei­le der Ge­schich­te vor­weg­nimmt und nicht et­wa lee­res Ge­schwätz ist.

Eine Frau bei 1000° – Über die Romangeschichte

Bei die­ser Gele­gen­heit sei erwähnt, dass Autor Hel­ga­son durch eine wahre Bege­ben­heit zu sei­nem Roman inspi­riert wurde, wie er in einem Inter­view erläu­terte: Als er seine dama­lige Frau, eine Poli­tike­rin, im Wahl­kampf unter­stützte, bekam er eine Liste mit Tele­fon­num­mern in Reyk­ja­vik zur Kalt­ak­quise. Unter einer der Num­mern erreichte er eine alte Dame, die in einer Garage lebte und ihre Tage im Inter­net ver­brachte. Aus die­ser realen Per­son ent­wi­ckelte er seine fik­tive Pro­tago­nis­tin, die vom Ster­be­bett aus auf ihr Leben zurück­blickt, das stets mit der Ge­schich­te ihres Vater-, par­don: ihres Mut­ter­lan­des, ver­wo­ben war.

Herb­jörgs Groß­vater war ers­ter Prä­si­dent Islands, ihr Vater kämpfte auf der Seite der Nazis und war ver­ant­wort­lich dafür, dass die Fami­lie einen Groß­teil der Jahr­zehnte aus­ein­an­der fiel. Sowie auch letzt­lich dafür, dass seine Toch­ter als ange­hen­der Teen­ager in den Welt­kriegs­wir­ren allein auf sich gestellt durch Europa zog – oder bes­ser: ge­schubst wurde wie die Kugel in einem Flip­per­spiel­auto­ma­ten.

All das Uner­klär­li­che, Zufäl­lige und sehr oft Grau­same, das Herb­jörg erle­ben muss, erzählt die Alte Jahr­zehnte spä­ter auf bit­tere, zyni­sche Art. Ihre Erleb­nisse blei­ben merk­wür­dig unwirk­lich, weil sie sich nie beschwert und so Bericht erstat­tet, als handle es sich um eine ganz andere, mit der sie zwar den Kör­per teilte, jedoch ansons­ten nichts zu schaf­fen hatte.

Eine Frau bei 1000° – Erfolgsrezept

Diese über den Gescheh­nis­sen ste­hende Erzähl­weise wirkt zwar durch­aus schrill, weckte aber auch meine Bewun­de­rung für die alte Dame. Mit einer so bit­te­ren aber trotz­dem über allem ste­hen­den Dis­tanz möchte ich auch gerne ein­mal auf mein Leben zurück­bli­cken kön­nen. Ach ja, und auch ich würde einst gerne tele­fo­nisch einen Ter­min für meine eigene Ein­äsche­rung bei 1000° ver­ein­ba­ren und dann auch ein­hal­ten.

Darü­ber hin­aus müsste man jetzt in eine Unzahl ver­ein­zel­ter Sze­nen ein­stei­gen, in eine nach der ande­ren, um dem Geist der Ge­schich­te gerecht zu wer­den. Das ist natür­lich weder mög­lich, noch hilf­reich für Inte­res­sierte. Also lasse ich’s und ver­weise statt des­sen auf das außer­gewöhn­li­che Lese­ver­gnü­gen, das bei all den chro­nolo­gisch wild über den Roman ver­teil­ten Ge­schicht­chen im Hand­lungs­ver­lauf unaus­weich­lich auf­kam.

~

Fazit:

„Ange­nehm über­ge­schnappt“ nannte ein ande­rer Rezen­sent, über des­sen Text ich gestol­pert bin, die Pro­tago­nis­tin. Oder meinte er damit den gan­zen Roman? Bestimmt! Denn natür­lich erin­nert die Ge­schich­te ein wenig an andere nord­euro­päi­sche Romane der glei­chen Klang­farbe: etwa an den Hun­dert­jäh­ri­gen, der aus dem Fens­ter stieg und zwei Jahre vor der 1000°-Frau erschien; oder an Nörd­lich des Welt­unter­gangs, der 2005 veröf­fent­licht wur­de.

Ich ver­gebe jeden­falls vier von fünf mög­li­chen Ster­nen für Eine Frau bei 1000°, die uns ihre tau­send­und­eine Lebens­ge­schich­ten erzählt.

Hallgrímur Helgason: Eine Frau bei 1000°
Klett-Cotta Verlag, 2011

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