
Im vergangenen Jahr war Island Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse. Grund genug für mich, der ich in meiner Lektürewahl sonst ziemlich mittelmeerlastig bin, einen isländischen Roman auszusuchen. Meine Wahl fiel auf Eine Frau bei 1000° von Hallgrímur Helgason, einem Schriftsteller, Maler, Comic-Zeichner und Comedian, der Isländern wohlbekannt, bei uns bis dahin jedoch so gut wie unbekannt ist.
Die Protagonistin und Ich-Erzählerin heißt Herbjörg Maria Björnsson, ist achtzig Jahre alt und hat mich mit ihrer Begrüßung in den beiden ersten Sätzen des ersten Kapitels davon überzeugt, den Roman zu erwerben:
Ich lebe allein in einer Garage, zusammen mit einem Laptop und einer alten Handgranate. Wir haben es wahnsinnig gemütlich.
Welcher fantasiebegabte Leser könnte da widerstehen? Dieser erste Satz gehört bei aller Effekthascherei zu den merkwürdigsten (auch im unmittelbaren Sinn des Wortes) Einleitungen der Belletristik, zumal sich im Laufe der Erzählung herausstellt, dass er elementare Bestandteile der Geschichte vorwegnimmt und nicht etwa leeres Geschwätz ist.
Über die Romangeschichte
Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass Autor Helgason durch eine wahre Begebenheit zu seinem Roman inspiriert wurde, wie er in einem Interview erläuterte: Als er seine damalige Frau, eine Politikerin, im Wahlkampf unterstützte, bekam er eine Liste mit Telefonnummern in Reykjavik zur Kaltakquise. Unter einer der Nummern erreichte er eine alte Dame, die in einer Garage lebte und ihre Tage im Internet verbrachte. Aus dieser realen Person entwickelte er seine fiktive Protagonistin, die vom Sterbebett aus auf ihr Leben zurückblickt, das stets mit der Geschichte ihres Vater-, pardon: ihres Mutterlandes, verwoben war.
Herbjörgs Großvater war erster Präsident Islands, ihr Vater kämpfte auf der Seite der Nazis und war verantwortlich dafür, dass die Familie einen Großteil der Jahrzehnte auseinander fiel. Sowie auch letztlich dafür, dass seine Tochter als angehender Teenager in den Weltkriegswirren allein auf sich gestellt durch Europa zog – oder besser: geschubst wurde wie die Kugel in einem Flipperspielautomaten.
All das Unerklärliche, Zufällige und sehr oft Grausame, das Herbjörg erleben muss, erzählt die Alte Jahrzehnte später auf bittere, zynische Art. Ihre Erlebnisse bleiben merkwürdig unwirklich, weil sie sich nie beschwert und so Bericht erstattet, als handle es sich um eine ganz andere, mit der sie zwar den Körper teilte, jedoch ansonsten nichts zu schaffen hatte.
Erfolgsrezept
Diese über den Geschehnissen stehende Erzählweise wirkt zwar durchaus schrill, weckte aber auch meine Bewunderung für die alte Dame. Mit einer so bitteren aber trotzdem über allem stehenden Distanz möchte ich auch gerne einmal auf mein Leben zurückblicken können. Ach ja, und auch ich würde einst gerne telefonisch einen Termin für meine eigene Einäscherung bei 1000° vereinbaren und dann auch einhalten.
Darüber hinaus müsste man jetzt in eine Unzahl vereinzelter Szenen einsteigen, in eine nach der anderen, um dem Geist der Geschichte gerecht zu werden. Das ist natürlich weder möglich, noch hilfreich für Interessierte. Also lasse ich’s und verweise statt dessen auf das außergewöhnliche Lesevergnügen, das bei all den chronologisch wild über den Roman verteilten Geschichtchen im Handlungsverlauf unausweichlich aufkam.
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Fazit:
„Angenehm übergeschnappt“ nannte ein anderer Rezensent, über dessen Text ich gestolpert bin, die Protagonistin. Oder meinte er damit den ganzen Roman? Bestimmt! Denn natürlich erinnert die Geschichte ein wenig an andere nordeuropäische Romane der gleichen Klangfarbe: etwa an den Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und zwei Jahre vor der 1000°-Frau erschien; oder an Nördlich des Weltuntergangs, der 2005 veröffentlicht wurde.
Ich vergebe jedenfalls vier von fünf möglichen Sternen für Eine Frau bei 1000°, die uns ihre tausendundeine Lebensgeschichten erzählt.
Hallgrímur Helgason: Eine Frau bei 1000°
Klett-Cotta Verlag, 2011
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