Der Nobelpreis für Literatur geht in diesem Jahr an Abdulrazak Gurnah (73) und damit an den 98. Mann und den fünften Afrikaner unter den 118 Preisträger¦innen. Heute Mittag, um 13 Uhr, gab die Schwedische Akademie in Stockholm ihre Entscheidung bekannt. Für die Auswahl der Kandidaten für den renommierten Preis war, wie jedes Jahr, das Nobelkomitee verantwortlich. Dass der Nobelpreis für Literatur 2021 an Gurnah verliehen wurde, begründete die Jury mit „seiner kompromisslosen und mitfühlenden Durchdringung der Auswirkungen des Kolonialismus und der Flüchtlingsschicksale im Abgrund zwischen Kulturen und Kontinenten“. Mit der Wahl des weitgehend unbekannten Literaten setzt die Akademie ein deutliches Zeichen, einen Verweis auf die drängende Flüchtlingsproblematik.
Gratulerar, herr Gurnah!
Im vergangenen Jahr war mit der Preisverleihung an Louise Glück nach zwei skandalumwitterten Jahren endlich wieder Ruhe ins Gefüge des wichtigen Literaturpreises eingekehrt.
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Über den Nobelpreisträger 2021
Abdulrazak Gurnah wurde im Jahr 1948 geboren und wuchs auf der Insel Sansibar im Indischen Ozean auf. Ende der Sechzigerjahre erreichte er als Flüchtling England, wo er seither fast ohne Unterbrechung lebt.
Nach dem kampflosen Ende der britischen Kolonialzeit im Dezember 1963 durchlebte Sansibar eine Revolution, die unter Präsident Abeid Karumas Herrschaft zu Unterdrückung und Verfolgung von Bürgern mit arabischen Wurzeln führte; es kam zu Massakern. Gurnah gehört dieser ethnischen Gruppe an und war nach seinem Schulabschluss mit achtzehn Jahren gezwungen, seine Familie und die neu gegründete Republik Tansania zu verlassen. Erst 1984 konnte er nach Sansibar zurückkehren, um seinen Vater ein letztes Mal vor dessen Tod zu treffen.
Wenige Jahre zuvor lehrte Gurnah für kurze Zeit an der Universität in Kano, Nigeria. Im Anschluss kehrte er nach England an die Universität von Kent in Canterbury zurück. Dort promovierte er im Jahr 1982. Bis zum kürzlichen Beginn seines Ruhestandes lehrte er als Professor für Englisch und postkoloniale Literatur an der englischen Universität.
Gurnah hat zehn Romane und eine Reihe von Kurzgeschichten veröffentlicht. Das Thema der Zerrissenheit von Flüchtlingen zieht sich wie ein roter Faden durch Gurnahs Werk.
„For millions of people, she could hear him say with that tremulous intensity of his, moving is a moment of ruin and failure, a defeat that is no longer avoidable, a desperate flight, going from bad to worse, from home to homelessness, from citizen to refugee, from living a tolerable or even contented life to vile horror.“
The Last Gift, 2014
Auf deutsch erschienen:
- Das verlorene Paradies: Roman – S. Fischer Verlag, 1998 – Originaltitel: Paradise
- Die Abtrünnigen: Roman – Berlin Verlag, 2006 – Originaltitel: Desertion
(Update 26.1.2022 Keines seiner Werke ist derzeit in deutscher Übersetzung im deutschen Buchhandel verfügbar.)
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Woanders kommentiert:
- Biobibliographical Notes 🇬🇧, THE NOBEL PRIZE, 7.10.2021
„Gurnah has published ten novels and a number of short stories. The theme of the refugee’s disruption runs throughout his work. He began writing as a 21-year-old in English exile, and even though Swahili was his first language, English became his literary tool.“ - Literaturnobelpreis für Abdulrazak Gurnah aus Tansania, ZEIT ONLINE, 7.10.2021
„Gurnahs Werk sei stark beeinflusst von englischsprachiger Literatur, von Shakespeare über Joseph Conrad bis V. S. Naipaul, hieß es weiter in der Begründung. Er habe aber bewusst mit Konventionen gebrochen, die kolonialistische Perspektive auf Afrika umgedreht. Sein Durchbruch gelang Gurnah 1994 mit der Novelle Paradise (in Deutschland erschienen als Das verlorene Paradies), die für den renommierten Booker Prize nominiert wurde.“ - Abdulrazak Gurnah erhält den Nobelpreis für Literatur, NZZ, 7.10.2021
„Überhaupt prägt die Zerrissenheit des Emigrantenlebens Abdulrazak Gurnahs Werk. Er zeichnet feinfühlig und in mehreren Romanen nach, was es heissen kann, in England Fremder zu sein.“ - Ein ungewöhnlicher Autor, TAZ, 7.10.2021
„Das Werk des Literatur-Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah spiegelt die Geschichte einer Weltregion wider – in ihrer gesamten Vielschichtigkeit.“