Die Reise nach Rom ist der letzte Titel des einst wichtigsten italienischen Romanciers der Nachkriegszeit, Alberto Moravia. Er wurde zwei Jahre vor dem Tod des Autors veröffentlicht. Die Geschichte handelt von von einem Witwer und einer Witwe, die jeweils von ihren verstorbenen Ehepartnern betrogen und gedemütigt worden waren. Beide Überlebende – Witwer wie Witwe – versuchen, sich des jungen Mario als Werkzeug zu bedienen, um ihre Ehetraumata zu überwinden. Doch Mario ist selbst Opfer eines inzestuösen Sexualtraumas, das er zu bewältigen versucht. Noch einmal breitet Moravia sein Vorzugsthema Sexus vor seiner Leserschaft aus und hält der prüden und selbstbezogenen Gesellschaft einen Spiegel vor.
Der in Rom geborene Mario de Sio ist zwanzig Jahre alt. Im Alter von fünf hatte seine Mutter Leopoldina mit ihm, dem Jungen, das Haus des Vaters Riccardo nach einem heftigen Streit verlassen. Mutter und Sohn zogen nach Paris zu Dinas Bruder. Doch nur zwei Jahre später stirbt die Mutter an einer Bauchfellentzündung, Mario wächst mit den Kindern seines Onkels auf. Zu seinem Vater hat der Junge fünfzehn Jahre lang keinen Kontakt gehabt, als er mit zwanzig aus einer Laune heraus beschließt, Riccardo de Sio in Rom aufzusuchen.
Was geschieht in Rom?
Marios Vater Riccardo empfängt den zurückkehrenden Sohn sehr freundlich und zuvorkommend. Noch immer lebt er in der Wohnung, die seine Frau mit Mario einst verlassen hatte. Doch bereits direkt nach der Ankunft seines Sohnes, traktiert er ihn mit Erzählungen über die Gründe, die einst zum ehelichen Zerwürfnis geführt hatten: Seine junge Frau Dina war ihm nie treu gewesen und hatte in nymphomaner Weise einen Liebhaber an den anderen gereiht. Dennoch blieb Riccardo seiner Dina verfallen. Er versuchte damals sogar, auf absonderliche Art und Weise am Leben seiner untreuen Frau teilzuhaben, indem er ihr seinen Kompagnon als Liebhaber zuführte.
Marios Inzesttrauma
Eines Abends war der erst fünfjährige Junge in eine Beischlafszene seiner Mutter mit dem Kompagnon des Vaters hineingeplatzt. Der Mann saß auf dem Sofa, die Mutter kniete über ihm. Und Mario hatte wie paralysiert dem gesamten Akt bis zum Höhepunkt zugesehen. Dabei hatte die Mutter ihrem kleinen Sohn in die Augen geblickt und ihn so zum passiven Teilnehmer am Ehebruch gemacht.
Diese Szene kehrt nun sofort nach seiner Rückkehr in die Kindheitswohnung in Marios Gedächtnis zurück. Von dieser Erinnerung kann sich der junge Mann nicht mehr lösen. Er überlegt fieberhaft, wie er das Sextrauma überwinden kann.
Alda und Jeanne
Im Flugzeug nach Rom hatte Mario die flüchtige Bekanntschaft der Enddreißigerin Jeanne und ihrer dreizehnjährigen Tochter Alda gemacht. Die beiden hatten den jungen Mann eingeladen, sie bei Gelegenheit zu besuchen. Als Mario nun die Einladung annimmt und die beiden Frauen regelmäßig besucht, entspinnt sich ein erotisches Dreiecksverhältnis. Jeanne beginnt zögerliche Annäherungsversuche, doch Mario fühlt sich mehr zur minderjährigen Tochter Alda hingezogen. Deren Augen erinnern ihn nämlich an den Blick seiner verstorbenen Mutter. Ja, vielleicht ergäbe sich da ja eine Möglichkeit der Aufarbeitung seines Inzesttraumas?
Doch Alda versucht, Mario in die Arme ihrer Mutter zu treiben. Die habe nach dem Tod ihres Mannes aus ihrem Schlafzimmer ein Mausoleum gemacht, obwohl sie an nichts anderes denke als an Sex. Mario müsse Jeanne endlich erlösen, verlangt Alda.
Riccardo und Esmeralda
Marios Vater führt inzwischen wieder eine Beziehung, das wird dem Sohn rasch klar. Doch Riccardo macht keine Anstalten, Mario seine Freundin vorzustellen. Vielmehr schickt er den Sohn eines Tages zu einem Kundentermin. Denn Mario solle eine Wohnung, die Riccardo verkaufen möchte, einer ehemaligen Schlagersängerin zeigen, die Interesse habe. So trifft der junge Mann eine dralle Vierzigerin, die sich als Esmeralda vorstellt. Auch die Augen dieser Frau ähneln denen seiner Mutter.
Als nun Mario und diese Esmeralda vor der Wohnung stehen, liest der Junge erschrocken den Namen seiner verstorbenen Mutter auf dem Türschild. Und schließlich in der Wohnung zögert Esmeralda nicht lange. In null Komma nichts verführt sie Mario. Doch gerade als sie die Erektion ihres Begierdeobjektes aus dem Hosenschlitz geangelt hat, werden die beiden gestört. Esmeralda flieht aus der Wohnung. Zu Hause bei seinem Vater erfährt Mario dann, dass eben diese Esmeralda die Zukünftige Riccardos ist. Auch seinem Vater war die Ähnlichkeit zwischen seiner Exfrau und Esmeralda aufgefallen.
Will Riccardo etwa sein altes masochistisches Verhältnis zu Marios Mutter Dina neu aufleben lassen, indem er Esmeralda in die Arme des unvorbereiteten Sohnes treibt? Oder will er seine Esmeralda mit Hilfe Marios auf die Probe stellen? Solche Fragen stellt sich der junge Mann jedenfalls nicht. Vielmehr macht er sich unverzüglich an die minutiöse Planung, mit Esmeralda die inzestuöse Beischlafszene seiner Mutter Dina nachzustellen: Er wolle sich vor dem Fernseher aufs Sofa setzen, Esmeralda solle auf seinem Schoß reiten. Doch kurz vor der Verwirklichung dieses Plans – die Frau ist bereits entkleidet – flieht Mario in letzter Minute.
„Esmeraldina“
Und ewig lockt das Weib? In einem Traum sieht Mario die Dreifaltigkeit seiner Mutter in Gestalt des Mädchens Alda, der siebenundzwanzigjährigen Mutter aus seiner Erinnerung und der reifen Esmeralda. In der Verniedlichungsform „Esmeraldina“ stecken die Namen aller drei Frauen, weiß Alda.
Backfischalter, Jugend, Reife. […] Ich sage mir beim Zusehen, daß sie offenbar dieselbe Person in drei verschiedenen Lebensaltern sind, und weiß, daß dieser Gedanke durch dasselbe uneingestehbare Begehren ausgelöst wurde, das alle drei beim Gehen in mir erregen. […] Meine Mutter dreht sich überraschend um, und da, jetzt zwinkert sie mir dreist zu.
(Seite 225)
Letztlich ist es das Mädchen Alda während eines Abendessens zu dritt mit Jeanne und Mario, das dem Reigen der abgebrochenen Liebesspiele ein Ende bereitet. Muss man Alda unterstellen, dass sie genau weiß, was sie da tut? Oder ist das Geschehen ihrer mangelnden Erfahrung zuzuschreiben? Jedenfalls bringt sie Mario unter dem Esstisch mit dem Fuß zur Ejakulation.
Versuch einer Einordnung
In der von ihm gewohnten, brillianten sprachlichen Präzision lässt Alberto Moravia seine Leserschaft an der Traumaverarbeitung des jungen Mario teilhaben. Wir erleben hautnah seine Bestürzung, als er sich an die Beobachtung der Sexszene mit seiner Mutter erinnert. Wir spüren, wie der Junge an seiner Erinnerung leidet und wie wütend er auf seine Eltern ist, die ihm dieses Erlebnis in ihrer Selbstsucht angetan haben. Wir begleiten Marios halbgare, zögerliche Versuche, die Vergangenheit vergessen zu können, indem er die Szene durch eigenes Erleben zu übertünchen versucht. Und wir verstehen, wie wenig er dazu in der Lage ist. Weil er ständig getrieben wird von Absichten der Personen, die ihn umgeben und die alle ganz andere Ziele haben als er.
Dieser Mario ist ein Getriebener. Aber andererseits sind auch sein Vater und seine neuen Bekanntschaften Jeanne, Alda und Esmeralda ihrerseits Getriebene, die nicht anders können, als an Strippen zu ziehen, von denen sie erhoffen, dass sie damit Erleichterung in ihren persönlichen Tragödien erfahren. Als Mario schließlich erkennt, dass er nur ein Spielball seiner Umgebung ist, beendet er die Reise nach Rom.
Der Autor nimmt uns mit in eine Gesellschaft, die durchwirkt ist von erotischen, sexuellen Dramen, für die es keine Auflösung gibt. Keine(r) seiner Darsteller¦innen erreicht, was sie oder er beabsichtigt. Sie alle bleiben also unbefriedigt zurück, weil jede(r) nur an sich selbst denkt.
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Diese Buchbesprechung ist Teil meiner Retrospektive im Sommer 2022. Wem sie gefallen hat, wird vielleicht auch meine anderen Rezensionen zu Alberto Moravias Romanen lesen wollen.
Fazit:
Wieder einmal ist das eine tragische Welt, die uns Moravia vorstellt. Die Zeit verrinnt in untauglichen Versuchen und hinterlässt eine albtraumhafte Wirklichkeit, die das Personal der Romangeschichte genauso ratlos zurücklässt wie ihre Leser¦innen. Die Reise nach Rom führt zu keinen vergnüglichen Erlebnissen. Weder für das Personal der Geschichte, noch für die Leserschaft. Sie lässt bestenfalls die Erkenntnis reifen, dass der Mensch ein höchst selbstbezogenes Wesen ist, das seiner kontradiktorischen Umgebung hilflos ausgeliefert ist.
In gewisser Weise ist dieser letzte Roman Alberto Moravias tatsächlich ein Konglomerat, eine Zusammenfassung vieler Themen des Autors aus seinen früheren Romanen. Dafür möchte ich gemäß meiner Bewertungskriterien immerhin drei von fünf möglichen Sternen vergeben.
Alberto Moravia: Die Reise nach Rom
List Verlag, 1989