
Der Schriftstellerin Annie Ernaux (82) wurde heute Mittag kurz nach 13 Uhr der Nobelpreis für Literatur des Jahres 2022 verliehen. Das Nobelkomitee der Schwedischen Akademie, das dieses Jahr aus sechs Mitgliedern bestand – einem Professor für Literaturgeschichte, vier Schriftsteller¦innen und einem kooptierten Literaturhistoriker, begründete die Wahl von Ernaux zum 119. Preisträger mit folgender Würdigung: „Für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Zwänge der persönlichen Erinnerung aufdeckt.“
Grattis, fru Ernaux!
Im vergangenen Jahr war der Nobelpreis für Literatur 2021 an Abdulrazak Gurnah verliehen worden. [Nachtrag, 14.10.2022] Nach dem eher unbekannten Gurnah wurde „mit größter und berechtigter Begeisterung die diesjährige Literatur-Nobelpreisträgerin gefeiert. Endlich wieder eine Autorin, die anders als in den vergangenen Jahren einer weltweiten Leser- und vor allem Leserinnenschaft bereits gut bekannt ist“. Siehe dazu auch weiter unten im Absatz „Woanders kommentiert“.
Kritik an der Preisverleihung
Doch wenige Tage nach der Verleihung fiel ein Schatten auf die Preisvergabe. Es wurde bekannt, dass Ernaux zwischen 2018 und 2021 drei israelkritische Petitionen unterzeichnet hatte, in denen zum Boykott des Staates aufgerufen wurde. Nun wird der Schriftstellerin Linkspopulismus vorgeworfen, „der um ein zwar modisches, aber ermüdend starres Set aus Antibürgerlichkeit, Macron-Hass, Gelbwesten-Verehrung, Imperialismus- und Israelkritik“ kreise. Ihre punktuelle Unterstützung von BDS*-Aktionen sei mehr als grenzwertig.
(Beide Zitate stammen aus einem DIE ZEIT- Artikel von Iris Radisch vom 13. Oktober.)
*) „Boycott, Divestment and Sanctions“ ist eine transnationale politische Kampagne. Deren Ziel ist es, den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch zu isolieren.
So knüpft also die Literatur-Nobelpreisverleihung 2022 an die Kritiken an, die Peter Handke im Jahr 2019 wegen seiner proserbischen Positionierungen kassiert hatte. In den heftig polarisierenden Zeiten, in denen wir leben, ist es schwierig, schriftstellerisches Werk von gesellschaftlich schwer umstrittenen, persönlichen Überzeugungen zu trennen.
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Über die Nobelpreisträgerin 2022
Annie Ernaux wurde 1940 in einem kleinen Ort in der Normandie geboren, in der Nähe von Le Havre. Später war sie als Gymnasiallehrerin tätig, im Jahr 1974 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, Les Armoires vides. Ihr literarisches Werk gilt als im Wesentlichen autobiografisch. Zuletzt erschien im Jahr 2016 Memoires de fille, in der deutschen Übersetzung von 2018: Erinnerung eines Mädchens.
Darin wirft die Schriftstellerin einen Blick zurück in das Jahr 1958, auf das Mädchen, das sie damals war. Und sie stellt sich den unangenehmen Erinnerungen im Zusammenhang mit ihren ersten sexuellen Erfahrungen in einem Feriencamp in der Normandie.
Die Übrigen, Oberschüler, Fachschülerinnen und Studenten, hatten lange Ferien, wenig Geld und fuhren in eine der Ferienkolonien, die überall in Frankreich auf Landsitzen und sogar auf Schlössern organisiert wurden, um Kinder zu betreuen. Wohin es auch ging, die Mädchen legten eine Packung Damenbinden in ihre Koffer und fragten sich mit einer Mischung aus Angst und Begehren, ob sie in diesem Sommer zum ersten Mal mit einem Jungen schlafen würden.
(Erinnerungen eines Mädchens, Seite 10)
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Woanders kommentiert:
- Biobibliographical Notes 🇬🇧, THE NOBEL PRIZE, 6.10.2022
„Annie Ernaux manifestly believes in the liberating force of writing. Her work is uncompromising and written in plain language, scraped clean. And when she with great courage and clinical acuity reveals the agony of the experience of class, describing shame, humiliation, jealousy or inability to see who you are, she has achieved something admirable and enduring.“ - Literaturnobelpreis geht an französische Schriftstellerin Annie Ernaux, ZEIT ONLINE, 6.10.2022
„Ernaux habe schon früh mit der vielfältigen Erkundung ihrer Umgebung begonnen, hieß es von der Akademie. In ihrem Werk befasse sie sich mit schwierigen Themen wie Scham, illegalen Schwangerschaftsabbrüchen oder der Wahrnehmung von Konventionen. In ihrer Erinnerungsarbeit knüpfe sie an die Tradition Marcel Prousts an und überführe sie in die heutige Zeit – ein Vergleich, der bereits in der Vergangenheit gezogen worden ist.“ - Moralisch in anderer Hinsicht, FAZ NET, 6.10.2022
„Man bekommt ja auch als Leser oder zumindest interessierter Beobachter ein besseres Gefühl, wenn man den Namen des Literaturnobelpreisträgers schon einmal gehört hat. Und Ernaux werden wirklich viele auch wirklich gelesen haben. Das wiederum muss die Nobelpreisjury überhaupt nicht interessieren. Aber bei einer Auszeichnung, die so viel bewirkt und dementsprechend auch so sehr unter Beobachtung und Analyse steht, ist Abwechslung das einzige Heil in der unvermeidlichen Flucht vor den Erwartungen.“ - Annie Ernaux ausgezeichnet, TAZ, 6.10.2022
„In ihrem Werk seziert Ernaux die Erfahrungen von Mädchen und Frauen in der französischen Gesellschaft seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die über zwanzig Bücher der Schriftstellerin lesen sich wie ein Selbsterkundungsprojekt. Wie sie selbst sagt, versucht sie ihre persönlichen Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis zu finden, denn für sie ist ein ‚Ich‘ nicht ohne die anderen und ohne Geschichte denkbar.“