
Im fünften der Wallander-Romane führt Schwedenkrimi-Guru Henning Mankell seinen Helden auf Die falsche Fährte. Nach dem voran gegangenen Feldzug gegen den Mann, der lächelte bekommt es Kurt Wallander diesmal mit einem blutrünstigen und gnadenlosen Serienmörder zu tun. Der Killer mordet mit Axt und skalpiert seine Opfer abschließend. Erstmals lässt der Autor seine Geschichte nicht in grauem Wintereis sondern im schonischen Hochsommer stattfinden. Außerdem präsentiert er der Leserschaft ganz nebenbei das erfolgreiche Abschneiden der schwedischen Nationalelf an der Fußballweltmeisterschaft 1994. Auch wenn Wallander so gar nichts für den Fußball übrig hat.
Es ist erfreulich, dass Henning Mankell in seinem fünften Band wieder zum Rezept zurückfindet, mit dem er den Einstand in die Serie zum Erfolg gemacht hatte: ein verantwortungsbewusster, hartnäckiger Kommissar, der mit einer Mischung aus handwerklicher Ermittlungsarbeit und Bauchgefühl einen Schritt nach dem anderen geht. Auf der Basis dieser Grundausstattung arbeiten sich Autor und Protagonist durch eine zunächst unergründlich scheinende Sachlage, feiern den Erfolg der kleinen Schritte, solange bis sich irgendwann endlich der Nebel lichtet und die Ermittlungen abgeschlossen werden können.
So funktionierten schon die Mörder ohne Gesicht und die Hunde von Riga. Spannung erzeugt Mankell in Die falsche Fährte durch Perspektivenwechsel, indem er immer wieder den Mörder zu Wort kommen und dadurch die Leserschaft mehr wissen lässt als seinen Wallander.
Auferstehung aus dem Zwischentief
In Die weiße Löwin und Der Mann, der lächelte war Kurt Wallander in ein persönliches Tief gefallen, das ihn erst seine Souveränität verlieren und unkontrolliert um sich schlagen ließ, um ihn schließlich in tiefe Depressionen zu stürzen. Aus meiner Sicht mochte dies nicht so recht zur Figur des Protagonisten passen; selbst wenn man auch dem Kult-Kommissar mal einen handfesten Burnout zugestehen möchte.
Jedenfalls bin ich froh, dass Wallander nun in Band fünf wieder ganz der Alte zu sein scheint. Aus seiner Krise ist er gestärkt empor gestiegen und schafft es diesmal sogar fallweise, die Prokrastinationstendenzen abzustreifen, die bislang sein Privatleben gelähmt hatten. Aber darauf kommen wir noch zu sprechen.
Über den Inhalt
Nach einem kurzen Prolog über den schwierigen Lebensbeginn der Dominikanerin Dolores María Santana, von der später noch die Rede sein soll, begleiten wir einen jungen Mann bei seiner Verwandlung in einen indianischen Krieger. „Hoover“, so nennt er sich selbst, legt Kriegsbemalung auf und bewaffnet sich mit Beil und Messer. Dergestalt aufgerüstet begibt er sich zur Tat, ermordet kaltblütig einen pensionierten schwedischen Justizminister und skalpiert das Opfer.
Derweil erlebt Kommissar Wallander aus nächster Nähe die Selbsthinrichtung einer jungen Frau mit, die sich mitten auf einem Feld mit Benzin übergießt und anzündet. Die beiden Toten scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben. Der Selbstmord der jungen Frau, einer gewissen „D.M.S.“, bleibt ein Einzelfall. Der indianische Axtmörder hingegen macht unverdrossen weiter: Dem Justizminister folgen ein steinreicher Kunsthändler und zwei weitere Tote.
Erst ganz zum Schluss der gut fünfhundert Romanseiten findet das Ermittlerteam um Kurt Wallander heraus, welch finsteres Geheimnis die Mordopfer teilten. Und was sie mit dem Selbstmord von D.M.S. zu tun hatten.
Ende einer Gesellschaft, wie wir sie kennen?
Auch diesmal erspart uns der Autor keines der blutrünstigen Details. Den grausigen Flammentod der Selbstmörderin beschreibt er ebenso plastisch wie die körperspaltenden Einsätze verschiedener Äxte. Das Ermittlerteam um Kurt Wallander ist sich sofort einig: Wo soll das alles bloß enden? Wenn junge Frauen keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich selbst zu verbrennen? Wenn Menschen die Schädel gespalten und sie mit Salzsäure geblendet werden?
Eine solche Eskalation der Gewalt lässt sich nur erklären, so schlussfolgert Mankell, wenn den schrecklichen Taten mindestens ebenso schreckliche Auslöser vorangegangen sind. Im vorliegenden Roman besteht dieser Auslöser im Missbrauch von Kindern. Missbrauchte Kinder, die in posttraumatischen Belastungsstörungen versinken oder sich selbst richten. Missbrauchte Kinder, die mit ungezügelter Aggression reagieren.
Die Frage, wie eine Gesellschaft auf derartige Entwicklungen reagieren soll, wenn gleichzeitig die Polizeipräsenz abgebaut wird, lässt Henning Mankell unbeantwortet. Oder besser gesagt: Er beantwortet die Frage auf pessimistische, lebensverneinende Art und Weise. – Aber diese Reaktion kennen wir ja schon aus vorangegangenen Romanfolgen.
Familie ist Verantwortung und Geborgenheit zugleich
Sozusagen als Kontrapunkt zu den Kindern in diesem Roman, die aus der Geborgenheit einer Familie herausgefallen sind, setzt der Autor auf einen bislang unbekannten Familiensinn seines Protagonisten. Fiel Wallander bislang doch eher dadurch auf, dass er sein gesamtes Privatleben zu Gunsten des Berufes komplett vernachlässigte, so überrascht er die Leserschaft in Band fünf durch erstaunliche Familienverbundenheit – trotz des heftigen Drucks durch die Serienmorde.
Er nimmt seine Tochter Linda bei sich auf, als diese ein paar Tage in Ystad verbringt, reagiert einfühlsam auf seinen alten Vater, der eine Alzheimerdiagnose erhalten hat, und begibt sich sogar mit ihm auf Reisen nach Rom – um dem Alten einen Lebenstraum zu erfüllen.
Ja, und nicht zuletzt schafft es Wallander auf den allerletzten Drücker, seine Beziehung zu Baiba Liepa zu festigen. Den Heiratsantrag des Kommissars lehnt die Lettin zwar ab, „noch“, wie sie einräumt. Aber immerhin staunen wir nicht schlecht angesichts der unerwarteten Sozialkompetenz Kurt Wallanders.
Bewertung
Ja, so mag ich meinen Wallander: Nach außen manchmal schroff und unnahbar, zu anderen Gelegenheiten auch mal erstaunlich einfühlsam. Im Inneren geplagt von Selbstzweifel und Zukunftsängsten, unkoordiniert, unkontrolliert, verletzlich. Aber insgesamt doch stets verlässlich; eine Konstante, auf die seine Mitarbeiter bauen können.
Und hier ist er auch wieder, der Satz, der Kurt Wallander berühmt machte. Dieser Satz, der zugleich Anerkennung und Lob wie auch vorsichtigen Pessimismus zum Ausdruck bringt:
„Dann wissen wir das.“
Wir werden übrigens sehen, ob seine neue Kollegin Ann-Britt Höglund in Zukunft den verlorenen Kollegen Rydberg wird ersetzen können. Ansätze dazu sind jedenfalls unverkennbar. Der fünfte Band macht wieder mal richtig Lust auf mehr, man freut sich schon auf die Fortsetzung.
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Notiz am Rande: In guter alter Tradition hat der Deutsche Taschenbuchverlag das Titelbild auch des fünften Wallanderromans wieder unter Einbeziehung eines historischen Gemäldes gestaltet. In diesem Fall handelt es sich um Pest in Rom von Jules Elie Delaunay aus dem Jahr 1869. Das Ölbild ist im Musée d’Orsay in Paris zu besichtigen.
Wer diese Rezension gern gelesen hat, könnte sich eventuell auch für Buchbesprechungen anderer Wallanderromane interessieren oder meine Themenseite über Kurt Wallander ansehen wollen.
Fazit:
Nach einem Durchhänger in den Romanbänden drei und vier stellt Die falsche Fährte eine wahrlich gelungene Fortsetzung der Wallanderserie dar. Sie glänzt sowohl mit verlässlichen Erfolgskomponenten der Vergangenheit als auch mit gut konstruierter und austarierter Spannung. Wenn man einer/m Leser¦in den Einstieg in die Romane jenseits der ersten Folge empfehlen sollte, dann wäre bis dahin Die falsche Fährte mein Geheimtipp.
Deshalb möchte ich dem Band satte vier von fünf möglichen Sternen verleihen. Die hat sich Mankell wahrlich verdient.
Henning Mankell: Die falsche Fährte
Deutscher Taschenbuchverlag, 1999
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