Die falsche Fährte

Die falsche Fährte, Henning Mankell, 1999
Henning Mankell, 1999

Im fünften der Wal­lan­der-Ro­ma­ne führt Schwe­den­kri­mi-Guru Hen­ning Man­kell sei­nen Hel­den auf Die falsche Fährte. Nach dem vo­ran ge­gan­ge­nen Feld­zug ge­gen den Mann, der lä­chel­te be­kommt es Kurt Wal­lan­der dies­mal mit einem blut­rüns­ti­gen und gna­den­lo­sen Se­rien­mör­der zu tun. Der Kil­ler mor­det mit Axt und skal­piert sei­ne Op­fer ab­schlie­ßend. Erst­mals lässt der Autor sei­ne Ge­schich­te nicht in grau­em Win­ter­eis son­dern im scho­ni­schen Hoch­som­mer statt­fin­den. Außer­dem prä­sen­tiert er der Le­ser­schaft ganz ne­ben­bei das er­folg­rei­che Ab­schnei­den der schwe­di­schen Na­tio­nal­elf an der Fuß­ball­welt­meis­ter­schaft 1994. Auch wenn Wal­lan­der so gar nichts für den Fuß­ball übrig hat.

Es ist er­freu­lich, dass Hen­ning Man­kell in sei­nem fünf­ten Band wie­der zum Re­zept zu­rück­fin­det, mit dem er den Ein­stand in die Se­rie zum Er­folg ge­macht hat­te: ein ver­ant­wor­tungs­be­wuss­ter, hart­nä­cki­ger Kom­mis­sar, der mit einer Mi­schung aus hand­werk­li­cher Er­mitt­lungs­ar­beit und Bauch­ge­fühl einen Schritt nach dem an­de­ren geht. Auf der Ba­sis die­ser Grund­aus­stat­tung ar­bei­ten sich Autor und Pro­ta­go­nist durch eine zu­nächst un­er­gründ­lich schei­nen­de Sach­lage, fei­ern den Er­folg der klei­nen Schrit­te, so­lan­ge bis sich ir­gend­wann end­lich der Ne­bel lich­tet und die Er­mitt­lun­gen ab­ge­schlos­sen wer­den kön­nen.

So funk­tio­nier­ten schon die Mör­der ohne Gesicht und die Hunde von Riga. Span­nung erzeugt Man­kell in Die falsche Fährte durch Per­spek­tiven­wech­sel, indem er immer wie­der den Mör­der zu Wort kom­men und dadurch die Leser­schaft mehr wis­sen lässt als sei­nen Wal­lan­der.

Die falsche Fährte – Auferstehung aus dem Zwischentief

In Die weiße Löwin und Der Mann, der lächelte war Kurt Wal­lan­der in ein per­sön­li­ches Tief gefal­len, das ihn erst seine Sou­verä­ni­tät ver­lie­ren und unkon­trol­liert um sich schla­gen ließ, um ihn schließ­lich in tiefe Depres­sio­nen zu stür­zen. Aus mei­ner Sicht mochte dies nicht so recht zur Figur des Pro­tago­nis­ten pas­sen; selbst wenn man auch dem Kult-Kom­mis­sar mal einen hand­fes­ten Burn­out zuge­ste­hen möchte.

Jeden­falls bin ich froh, dass Wal­lan­der nun in Band fünf wie­der ganz der Alte zu sein scheint. Aus sei­ner Krise ist er gestärkt empor gestie­gen und schafft es dies­mal sogar fall­weise, die Pro­kras­tina­tions­ten­den­zen abzu­strei­fen, die bis­lang sein Pri­vat­le­ben gelähmt hat­ten. Aber darauf kom­men wir noch zu spre­chen.

Die falsche Fährte – Über den Inhalt

Nach einem kur­zen Pro­log über den schwie­ri­gen Lebens­be­ginn der Domi­nika­ne­rin Dolo­res María San­tana, von der spä­ter noch die Rede sein soll, beglei­ten wir einen jun­gen Mann bei sei­ner Ver­wand­lung in einen india­ni­schen Krie­ger. „Hoo­ver“, so nennt er sich selbst, legt Kriegs­bema­lung auf und bewaff­net sich mit Beil und Mes­ser. Der­ge­stalt auf­gerüs­tet begibt er sich zur Tat, ermor­det kalt­blü­tig einen pen­sio­nier­ten schwe­di­schen Jus­tiz­minis­ter und skal­piert das Opfer.

Der­weil erlebt Kom­mis­sar Wal­lan­der aus nächs­ter Nähe die Selbst­hin­rich­tung einer jun­gen Frau mit, die sich mit­ten auf einem Feld mit Ben­zin über­gießt und anzün­det. Die bei­den Toten schei­nen zunächst nichts mit­ein­an­der zu tun zu haben. Der Selbst­mord der jun­gen Frau, einer gewis­sen „D.M.S.“, bleibt ein Ein­zel­fall. Der india­ni­sche Axt­mör­der hin­ge­gen macht unver­dros­sen wei­ter: Dem Jus­tiz­minis­ter fol­gen ein stein­rei­cher Kunst­händ­ler und zwei wei­tere Tote.

Erst ganz zum Schluss der gut fünf­hun­dert Roman­sei­ten fin­det das Ermitt­ler­team um Kurt Wal­lan­der her­aus, welch fins­te­res Geheim­nis die Mord­op­fer teil­ten. Und was sie mit dem Selbst­mord von D.M.S. zu tun hat­ten.

Die falsche Fährte – Ende einer Gesellschaft, wie wir sie kennen?

Auch dies­mal erspart uns der Autor kei­nes der blut­rüns­ti­gen Details. Den grau­si­gen Flam­men­tod der Selbst­mör­de­rin beschreibt er ebenso plas­tisch wie die kör­per­spal­ten­den Ein­sätze ver­schie­de­ner Äxte. Das Ermitt­ler­team um Kurt Wal­lan­der ist sich sofort einig: Wo soll das alles bloß enden? Wenn junge Frauen kei­nen ande­ren Aus­weg mehr sehen, als sich selbst zu ver­bren­nen? Wenn Men­schen die Schä­del gespal­ten und sie mit Salz­säure geblen­det wer­den?

Eine sol­che Eska­la­tion der Gewalt lässt sich nur erklä­ren, so schluss­fol­gert Man­kell, wenn den schreck­li­chen Taten min­des­tens ebenso schreck­li­che Aus­lö­ser vor­ange­gan­gen sind. Im vor­lie­gen­den Roman besteht die­ser Aus­lö­ser im Miss­brauch von Kin­dern. Miss­brauchte Kin­der, die in post­trau­mati­schen Belas­tungs­stö­run­gen ver­sin­ken oder sich selbst rich­ten. Miss­brauchte Kin­der, die mit unge­zügel­ter Aggres­sion rea­gie­ren.

Die Frage, wie eine Gesell­schaft auf der­ar­tige Ent­wick­lun­gen rea­gie­ren soll, wenn gleich­zei­tig die Poli­zei­prä­senz abge­baut wird, lässt Hen­ning Man­kell unbe­ant­wor­tet. Oder bes­ser gesagt: Er beant­wor­tet die Frage auf pes­simis­ti­sche, lebens­ver­nei­nende Art und Weise. – Aber diese Reak­tion ken­nen wir ja schon aus vor­ange­gan­ge­nen Roman­fol­gen.

Die falsche Fährte – Familie ist Verantwortung und Geborgenheit zugleich

Sozu­sa­gen als Kon­tra­punkt zu den Kin­dern in die­sem Roman, die aus der Gebor­gen­heit einer Fami­lie her­aus­gefal­len sind, setzt der Autor auf einen bis­lang unbe­kann­ten Fami­lien­sinn sei­nes Pro­tago­nis­ten. Fiel Wal­lan­der bis­lang doch eher dadurch auf, dass er sein gesam­tes Pri­vat­le­ben zu Guns­ten des Beru­fes komp­lett ver­nach­läs­sigte, so über­rascht er die Leser­schaft in Band fünf durch erstaun­li­che Fami­lien­ver­bun­den­heit – trotz des hef­ti­gen Drucks durch die Serien­morde.

Er nimmt seine Toch­ter Linda bei sich auf, als diese ein paar Tage in Ystad ver­bringt, rea­giert ein­fühl­sam auf sei­nen alten Vater, der eine Alz­hei­mer­dia­gnose erhal­ten hat, und begibt sich sogar mit ihm auf Rei­sen nach Rom – um dem Alten einen Lebens­traum zu erfül­len.

Ja, und nicht zuletzt schafft es Wal­lan­der auf den aller­letz­ten Drü­cker, seine Bezie­hung zu Baiba Liepa zu fes­ti­gen. Den Hei­rats­an­trag des Kom­mis­sars lehnt die Let­tin zwar ab, „noch“, wie sie ein­räumt. Aber immer­hin stau­nen wir nicht schlecht ange­sichts der uner­war­te­ten Sozial­kom­pe­tenz Kurt Wal­lan­ders.

Die falsche Fährte – Bewertung

Ja, so mag ich meinen Wal­lan­der: Nach außen manch­mal schroff und unnah­bar, zu ande­ren Gele­gen­hei­ten auch mal erstaun­lich ein­fühl­sam. Im Inne­ren geplagt von Selbst­zwei­fel und Zukunfts­ängs­ten, unko­ordi­niert, unkon­trol­liert, ver­letz­lich. Aber insge­samt doch stets ver­läss­lich; eine Kons­tante, auf die seine Mit­arbei­ter bauen kön­nen.

Und hier ist er auch wie­der, der Satz, der Kurt Wal­lander berühmt machte. Die­ser Satz, der zugleich Aner­ken­nung und Lob wie auch vor­sich­ti­gen Pes­simis­mus zum Aus­druck bringt:

„Dann wis­sen wir das.“

Wir werden übri­gens sehen, ob seine neue Kol­le­gin Ann-Britt Hög­lund in Zukunft den ver­lore­nen Kol­le­gen Ryd­berg wird erset­zen kön­nen. Ansätze dazu sind jeden­falls unver­kenn­bar. Der fünfte Band macht wie­der mal rich­tig Lust auf mehr, man freut sich schon auf die Fort­set­zung.

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Notiz am Rande: In guter alter Tra­di­tion hat der Deut­sche Taschen­buch­ver­lag das Titel­bild auch des fünf­ten Wal­lan­der­ro­mans wie­der unter Ein­bezie­hung eines his­tori­schen Gemäl­des gestal­tet. In die­sem Fall han­delt es sich um Pest in Rom von Jules Elie Delau­nay aus dem Jahr 1869. Das Ölbild ist im Musée d’Orsay in Paris zu besich­ti­gen.

Wer diese Rezen­sion gern gele­sen hat, könnte sich even­tu­ell auch für Buch­bespre­chun­gen ande­rer Wal­lan­der­ro­mane inte­res­sie­ren oder meine The­men­seite über Kurt Wal­lan­der anse­hen wol­len.

Fazit:

Nach einem Durch­hän­ger in den Roman­bän­den drei und vier stellt Die falsche Fährte eine wahr­lich gelun­gene Fort­set­zung der Wal­lan­der­se­rie dar. Sie glänzt sowohl mit ver­läss­li­chen Erfolgs­kom­ponen­ten der Ver­gan­gen­heit als auch mit gut kons­tru­ier­ter und aus­tarier­ter Span­nung. Wenn man einer/m Leser¦in den Ein­stieg in die Romane jen­seits der ers­ten Folge emp­feh­len sollte, dann wäre bis dahin Die falsche Fährte mein Geheim­tipp.

Deshalb möchte ich dem Band satte vier von fünf mög­li­chen Ster­nen ver­lei­hen. Die hat sich Man­kell wahr­lich ver­dient.

Henning Mankell: Die falsche Fährte
Deutscher Taschenbuchverlag, 1999

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